Heute in den Feuilletons

Heute gehören wir endlich uns selbst

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.06.2012. Zustimmung so weit das Auge reicht für die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an den chinesischen Autor und Lyriker Liao Yiwu. Skandalös findet die SZ die willfährige Anselm-Kiefer-Ausstellung in der Bonner Bundeskunsthalle. Die FAZ hofft auf einen wenn schon nicht ökonomischen, dann doch wenigstens fußballerischen Befreiungsschlag gegen Griechenland. Und die taz fordert: "Eier zeigen!"

TAZ, 22.06.2012

Ziemlich pralle taz heute. Susanne Messmer porträtiert den chinesischen Autor und Lyriker Liao Yiwu, der den diesjährigen Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhält. Wegen seines Gedichts "Massaker" nach den Ereignissen am Platz des Himmlischen Friedens 1989 saß er vier Jahre im Gefängnis. "Was in der Wertschätzung Liao Yiwus als mutiger Dissident oft untergeht, das ist die Wirkung seiner Sprache. Diese erwischt auch jene, die bislang wenig mit China am Hut hatten. Sie herzustellen ist eine hohe Kunst, denn selbst ein Realist wie Liao Yiwu weiß, dass man Wirklichkeit niemals abschreiben, sondern nur evozieren kann."

Jutta Lietsch scheibt in ihrem Kommentar, Liao sei "nicht nur Chinese - er ist ein Weltbürger, ein wichtiger Teil der internationalen Kultur".

Weiteres: Tim Caspar Boehme besuchte die Jahrstagung des Arbeitskreises Elektronisches Publizieren des Börsenvereins des deutschen Buchhandels, auf dem das Thema "ePiraten - Freibeuter, Wegelagerer, Innovatoren?" auf der Tagesordnung stand. Felix Lee informiert darüber, dass der chinesische Künstler Ai Weiwei nach einem Jahr Hausarrest nun wieder frei sei - so halb jedenfalls, seinen Pass hat er noch nicht zurück, außerdem droht ihm ein neues Verfahren: diesmal wegen "Bigamie". Rudolf Walther resümiert die erste von drei Frankfurter Adorno-Vorlesungen des Soziologen Wolfgang Streeck, der über Krise und Kapitalismus sprach. Jan-Rüdiger Vogler plädiert gegen die "demolierte phallische Logik" mit mit neuen Leitbild "Eier zeigen!" - allerdings nicht als "Machogehabe, sondern als selbstbewusste Männlichkeit". Aus Anlass des 60. Geburtstags der Bild-Zeitung am kommenden Sonntag untersuchen Streffen Grimberg und Felix Dachsel in einem Pro und Contra, ob es guten Boulevard geben kann. Anna Klöpper stellt die erste Ausgabe von Spex vor, die unter Leitung ihres neuen Chefredakteurs Torsten Groß entstanden ist: "Mainstream ist das jedenfalls nicht."

Besprochen werden ein Berliner Konzert von Lou Reed und Wolfgang Welschs Buch "Mensch und Welt. Eine evolutionäre Perspektive der Philosophie." (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

Und Tom.

FR/Berliner, 22.06.2012

Christian Thomas flaniert durch antike griechische Architektur und denkt dabei über Verlierer, Olympia und das heutige Viertelfinale-Match nach. Bernhard Bartsch stellt kurz den chinesischen Autor Liao Yiwu vor, der mit dem Friedenspreis des Buchhandels ausgezeichnet wird. Kito Nedo schreibt zu deren zehnjährigen Bestehen über die Bundeskulturstiftung. Peter Uehling porträtiert den Komponist Friedrich Cerha, der heute mit dem Ernst-von-Siemens-Musikpreis ausgezeichnet wird. Dazu eine Konzertaufnahme des Pierrot Lunaire Ensembles aus Wien:



Besprochen werden eine dem Film Noir gewidmete Ausstellung im Deutschen Filmmuseum in Frankfurt, die Ausstellung "900 Jahre Baden" im Badischen Landesmuseum und die einzige Rede von David Foster Wallace, die gerade als Buch veröffentlicht wurde (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Welt, 22.06.2012

Die Sängerin Shirley Manson spricht im Interview über die Gründe für die siebenjährige Auszeit ihrer Band Garbage: "Wir hatten als Band Verträge bei zwei kleinen unabhängigen Plattenfirmen unterschrieben, einer in Europa, einer in den USA, absichtlich nicht bei einem Majorlabel. Doch dann wurden wir von diesen beiden kleinen Plattenfirmen an eine große verkauft, und diese hat uns wiederum an eine andere große weiterverkauft. Wir bekamen es mit Menschen zu tun, die sich einen Scheiß für uns interessierten. Doch man ließ uns nicht aus unseren Verträgen. Am Ende mussten wir uns rauskaufen. Heute gehören wir endlich uns selbst."

Weiteres: Wieland Freund freut sich darüber, dass der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels mit Liao Yiwu an einen Schriftsteller geht, "bei dem Wort und Tat auf bewundernswerte Weise eins sind". Marc Reichwein mokiert sich über das allgemeine Feuilleton-Geraschel vor dem Viertelfinalspiel gegen Griechenland (zu dem er damit selbst beiträgt). Manuel Brug berichtet von der Südamerika-Tournee des Deutschen Symphonie-Orchesters. Hanns-Georg Rodek nimmt Abschied vom amerikanischen Filmkritiker Andrew Sarris.

NZZ, 22.06.2012

Online ist heute nur ein Bericht über Raymond Depardon, der das offizielle Porträt von Frankreichs neuem Staatspräsidenten Francois Hollande anfertigte: im Garten des Elyseepalasts, wie vor ihm nur Chirac.

Aus den Blogs, 22.06.2012

(via) Im neuen Videoclip von Solomun tanzt sich Friedrich Lichtenstein (mehr) auf ganz und gar bezaubernde Weise einmal quer durch Berlins Mitte :

Stichwörter: Berlin-Mitte

Weitere Medien, 22.06.2012

Wolfgang Kraushaar erhebt in der Jüdischen Allgemeinen Einspruch gegen die Spiegel-Geschichte von dieser Woche, derzufolge Neonazis am Anschlag auf die israelische Olympiamannschaft 1972 beteiligt waren: "Ärgerlicher als das Aufblasen einer alten Geschichte zur Top-News ist dies: dass hier der Olympiaanschlag zu einem Werk von Rechtsextremisten umgedeutet wird, obwohl Leute wie dieser Willi Pohl in Wirklichkeit als nützliche Idioten für die Palästinenser und die mit ihnen kooperierenden Linksterroristen gelten müssen."

SZ, 22.06.2012

Catrin Lorch erneuert ihre bereits vor vier Wochen geäußerte Kritik an der Anselm-Kiefer-Ausstellung in der Bonner Bundeskunsthalle, die allein mit Werken aus dem Privatbesitz des Unternehmers und Sammlers Hans Grothe bestückt wurde: "Die Kunst- und Ausstellungshalle, die sich Bund und Länder 16 Millionen Euro jährlich kosten lassen, ist im Jahr ihres zwanzigsten Bestehens sichtbar in einer Krise."

"Es gibt Projekte der Stiftung, die dem höheren Blödsinn zumindest nahe kommen, und sie sind nicht einmal billig", schreibt Thomas Steinfeld zum zehnjährigen Bestehen der Bundeskulturstiftung. Immerhin: Das von der Stiftung gratis verteilte "Magazin" komme "einem idealen Feuilleton sehr nahe".

Weiteres: "Was für eine erfreuliche Nachricht, was für eine gute Wahl", jubelt Alex Rühle über die Entscheidung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Liao Yiwu mit dem Friedenspreis auszuzeichnen. Wenn bloß eine auch politisch vollzogene Union den Euro retten könne, sieht Thomas Kirchner schwarz für die Zukunft der EU, wenn sich schon Frankreich und Deutschland in zentralen Fragen nicht einig werden. Helmut Schödel stellt das Wiener Rabenhoftheater vor, das mit seinem Programm abseits klassischer Spielpläne auf beeindrucke "96 Prozent Platzausnutzung" kommt. Joachim Hentschel hat beim Berliner Konzert des muffigen Lou Reed "am Ende plötzlich doch noch Freude". Volker Breidecker berichtet von den Hesse-Tagen in Sils-Maria. Kurz und bündig nimmt Fritz Göttler von dem Filmkritiker Andrew Sarris Abschied (mehr dazu hier). Neue Klassiktalente (und verloren geglaubte Preziosen) findet man heute schneller bei Youtube, als in den neuen Veröffentlichungen der einschlägigen Plattenlabels, stellt Reinhard Brembeck beim Surfen erstaunt fest und liefert gleich noch zahlreiche Tips mit. Ganz und gar verliebt hat er sich etwa in Igor Levits Interpretation der "Telemann-Variationen":



Auf der Medienseite klagt Jörg Häntzschel nach der neuen, von "West Wing"-Autor Aaron Sorkin verantworteten HBO-Serie "Newsroom" über starke Bauchschmerzen: "Ein Leitartikel als TV-Serie: das ist kein gutes Fernsehen."

Besprochen werden eine Werkschau des Architekten Terunobu Fujimori in der Villa Stuck in München, das Videospiel "Max Payne 3" und Bücher, darunter Prof. Stefan Riegers Essay über "Multitasking", den Johan Schloemann allerdings Frank Rieger in die Schuhe schiebt (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 22.06.2012

Die ganze erste Seite des FAZ-Feuilletons ist Liao Yiwu gewidmet, der dieses Jahr mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet wird. Als "beste Entscheidung, die man sich denken kann, und zugleich die mutigste" honoriert Andreas Platthaus die Auszeichnung. Liao Yiwus Buch "Ein Lied und hundert Lieder" sei, so Platthaus weiter, eines, "wie es kein zweites gibt, obwohl es dezidiert an Solschenizyns 'Archipel GuLag' geschult ist. Es gibt kein zweites solches Buch, weil jedes Opfer eines totalitären Regimes für sich allein steht, keines geht in der Masse auf, wie es diese Regime hoffen." Mark Siemons holt unterdessen unter chinesischen Intellektuellen - darunter Ai Weiwei, dem das chinesische Regime allen Hoffnungen zum Trotz neuerlich die Ausreise verboten hat - Erkundungen ein, wie es um Liao Yiwus Bekanntheitsgrad in China bestellt steht: "Der Einfluss des Dichters im Land erstrecke sich allerdings vor allem auf Literatenzirkel und weniger auf die Gesellschaft als ganze. ... Aber unter älteren Lyrikfreunden sei Liao seit den Achtzigern als eine avantgardistische und rebellische Figur hoch angesehen." Außerdem unterhält sich Felicitas von Lovenberg mit Herta Müller, die der Preisträger als "Seelenverwandte" bezeichnet.

Weitere Artikel: "Nicht ökonomisch, aber fußballerisch ist ein Befreiungsschlag gegen den Favoriten durchaus möglich", glaubt Dirk Schümer angesichts der heutigen, schicksalshaften EM-Begegnung zwischen Deutschland und Griechenland. Der "Google Transparency Report" verzeichne "politische Zensurversuche vermehrt von westlichen Demokratien", warnt Constanze Kurz, die zugleich Googles eigenes intransparentes Gebaren - etwa bei der Abänderung von Suchalgorithmen, die faktisch eine Zensur darstellen können - in die Kritik nimmt. Andreas Kilb schreibt den Nachruf auf den Filmkritiker Andrew Sarris.

Besprochen werden neue "Parsifal"-Inszenierungen an der Nederlandse Opera in Amsterdam und der Opéra de Lyon und Bücher, darunter Marc Degens' Pott-Poproman "Das kaputte Knie Gottes" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).