Heute in den Feuilletons

Radikaler Rutsch in die Mitte

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.09.2012. In der NZZ freut sich der Amsterdamer Schriftsteller Abdelkader Benali über die Marginalisierung des Geert Wilders. Im Blog der NYRB erinnert sich Charles Kaiser ans große Jahrzehnt des homosexuellen Coming Outs in New York - die siebziger Jahre. Die FAZ erzählt die Geschichte des Kairoer Bloggers Albert Saber, dem Atheismus vorgeworfen wird. GQ interviewt Pussy Riot. Alle gratulieren Karl-Heinz Bohrer zum Achtzigsten. Und Charlie Hebdo bringt erstmals in seiner Geschichte ein verantwortungsvolles Magazin heraus.

NZZ, 26.09.2012

Der Amsterdamer Schriftsteller Abdelkader Benali zeigt sich erleichtert über den Wahlausgang in den Niederlanden, der den Parteien einen "radikalen Rutsch in die Mitte" bescherte und Geert Wilders' populistische Partei für die Freiheit marginalisierte. "Wohl versuchte er es im Glauben an den eigenen Erfolg noch einmal. Doch seine 'Polen-Meldestelle', eine Hotline, wo besorgte Bürger ihr Missfallen über Arbeitsmigranten aus Osteuropa kundtun konnten, war ein Schlag ins Kontor. Dies rief Assoziationen an den Zweiten Weltkrieg wach: die Denunziation von Juden bei der Besatzungsmacht. Im Übrigen sind die Niederlande zunehmend angewiesen auf die Osteuropäer. Kaum eine Wohnung wird hier gebaut, ohne dass ein Pole oder ein Bulgare Hand angelegt hätte."

Weiteres: Gabriele Detter besucht im Architekturmuseum Basel eine Ausstellung über Fabrikstädte des Schuhkonzerns Bata: "Ein Batajaner arbeitete in der Bata-Fabrik, wohnte in einer dem Werk angegliederten firmeneigenen Siedlung und erholte sich in den zur Kolonie gehörenden Freizeiteinrichtungen." Marko Martin trifft in Jerusalem den israelisch-österreichischen Aphorismen-Dichter Elazar Benyoetz.

Besprochen werden unter anderem Andreas Heuers Studie "Die Geburt des modernen Geschichtsdenkens in Europa", Sepp Malls Roman "Berliner Zimmer" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Aus den Blogs, 26.09.2012

Charles Kaiser erinnert sich im Blog der New York Review of Books an einen historischen Artikel des New York Times Magazines aus dem Jahr 1971. Titel des Artikels: "What it Means to be a Homosexual": "Nothing like this had ever been printed in a newspaper like the Times before. I was a junior at Columbia University in the City of New York when the novelist and journalist Merle Miller's piece appeared, and I had undoubtedly purchased the Sunday Times at a newsstand on Saturday night. But I'm sure I didn't share my fascination with his article with any of my classmates on Sunday morning."

In Rue89 freut sich François Krug, dass Charlie Hebdo doch ein Einsehen hatte und nun eine verantwortungsvolle Ausgabe herausgibt. Zumindest für die, die das wünschen. Für die anderen wird weiter gezündelt.




Welt, 26.09.2012

Thomas Kielinger fasst die Artikel über das neue Buch von J.K. Rowling im New Yorker und Guardian zusammen, deren Redakteure offenbar als einzige das Buch vor seinem morgigen Erscheinen lesen durften. Respekt muss man sich verdienen, meint Alan Posener in seiner Kolumne, er ist kein "Synonym für Maulhalten". Thomas Schmid schreibt zum Achtzigsten von Karl Heinz Bohrer.

Auf der Forumsseite fürchtet Marko Martin, dass die Deutschen im Umgang mit China gerade den selben Fehler machen wie einst im Umgang mit den Osteuropäern.

Besprochen werden Tom Kühnels und Jürgen Kuttners Inszenierung von Michael Frayns Willy-Brandt-Stück "Demokratie" im Deutschen Theater in Berlin, eine Ausstellung zur Kunst der "Schwarzen Romantik" im Frankfurter Städel Museum und Terence Davies' Film "Deep Blue Sea" (dazu gibt's ein Interview mit dem Regisseur).

Weitere Medien, 26.09.2012

(via Jezebel) Michael Idov vom amerikanischen Magazin GQ hat einige Fragen an Pussy Riot ins Gefängnis geschmuggelt und Antwort bekommen. Unter anderem auf diese subtile Frage: "Does it bug you as feminists that your global popularity is at least partly based on the fact that you turned out to be, well, easy on the eyes?" Darauf antwortet Nadja Tolokonnikowa: I humbly hope that our attractiveness performs a subversive function. First of all, because without 'us' in balaclavas, jumping all over Red Square with guitars, there is no 'us' smiling sweetly in the courtroom. You can't get the latter without the former. Second, because this attractiveness destroys the idiotic stereotype, still extant in Russia, that a feminist is an ugly-ass frustrated harridan. This stereotype is so puke-making that I will deign to be sweet for a little bit in order to destroy it. Though every time I open my mouth, the sweetness goes out the window anyway."

Perlentaucher, 26.09.2012

Im europäischen Haus ist kein Platz für den russischen Bären. Wo soll er hin, fragt sich Michail Schischkin. Er vergleicht Russland mit einem Metrozug, "der vom einen Ende des Tunnels zum anderen fährt - von der Diktaturordnung zur Anarchodemokratie und zurück. Das ist seine Strecke. Kein anderes Ziel erreicht man in diesem Zug."
Stichwörter: Russland, Schischkin, Michail

TAZ, 26.09.2012

Die Ausstellung "Der Gelbe Schein" in der Neuen Synagoge Berlin erinnert Sonja Vogel daran, dass Zehntausende von Frauen Anfang des 19. Jahrhunderts aus Europa auswanderten und in der Neuen Welt in der Prostitution landeten.

Besprochen werden außerdem eine Ausstellung mit Dennis Hoppers' Fotoarbeiten im Berliner Martin-Gropius-Bau, Jakob Arjounis Thriller "Bruder Kemal" und Malakoff Kowalskis Debütalbum "Kill your Babies".
 
Im Schlagloch malt sich Ilija Trojanow eine von Amerikas Reichen betriebene Rückkehr malthusianischer Bevölkerungspolitik aus. Auf Flimmern und Rauschen erstattet Silke Burmester wie jeden Mittwoch Meldung.

Und Tom.

FAZ, 26.09.2012

In Kairo wurde der zur Bevölkerungsgruppe der Kopten gehörende Blogger Albert Saber festgenommen, weil er auf seiner Facebookseite (abgeschaltet) auf das Mohammed-Video verlinkt hatte. Joseph Croitoru vermutet, dass ihm eine symbolischer Prozess wegen Gotteslästerung gemacht weden soll, und er erzählt von der hierzulande wenig bekannten Szene der Atheisten in arabischen Ländern, die den Islamisten recht unbequem zu sein scheinen: "So befassen sie sich in der jüngsten Ausgabe ihrer arabischsprachigen Zeitschrift Ich denke, die große Verbreitung im Internet findet, mit der Evolutionstheorie von Charles Darwin, die von islamischen Fundamentalisten kategorisch abgelehnt wird. In einem anderen Artikel stellen sie die angebliche religiöse Notwendigkeit des Kopftuchtragens für Musliminnen in Frage."

Weitere Artikel: Jürgen Kaube gratuliert dem ehemaligen FAZ-Redakteur, Intellektuellen und Merkur-Herausgeber Karl-Heinz Bohrer zum Achtzigsten.

Besprochen werden die Ausstellung "Schwarze Romantik - Von Goya bis Max Ernst" im Städel, Terrence Davies' Film "The Deep Blue Sea" (mehr hier), erste Inszenierungen der Saison in Bochum, Jan Zabeils Film "Der Fluss war einst ein Mensch" (mehr hier) und Bücher, darunter eine Geschichte der musikalischen Notation von Manfred Hermann Schmid (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 26.09.2012

Nur online zu finden ist Heribert Prantls erster Lektüreeindruck vom Gesetzesentwurf, mit dem die Bundesregierung die Beschneidung auch weiterhin straffrei halten will: "Das Gesetz stellt ausdrücklich nicht auf eine religiöse Motiviation der Eltern ab. Die Rechtspraxis sähe sich sonst, so heißt es in den amtlichen Papieren, 'vor die schwierige Aufgabe gestellt, den Inhalt religiöser Überzeugungen ermitteln zu müssen'. Eltern können ja, so heißt es weiter, 'die weltweit stark verbreitete Beschneidung ihres Sohnes aus unterschiedlichen Gründen für kindeswohldienlich halten'. Eine Regelung allein für eine religiös motivierte Beschneidung von Jungen würde den unterschiedlichen Zielsetzungen von Beschneidungen daher nicht gerecht."

Weitere Artikel: Andrian Kreye greift Frank Riegers Diskussionsanregung in der FAZ auf und kommt beim Nachdenken über die Dringlichkeit einer Roboter- und Drohnenethik zu einem sehr missmutigen Schluss: Man werde "so schnell keine Antworten finden. Dafür entwickelt sich die Technologie zu schnell." Rainer Gansera berichtet vom Filmfestivalauftakt in San Sebastian, wo er sich vor allem auf "Maskenbälle, weiße Tauben in dunklen Wäldern (und) zuckende Kälber im Schlachthaus" freut, die bei der Georges Franju gewidmeten Retrospektive zu sehen sind. "Der Coup ist perfekt", kommentiert Wolfgang Schreiber die Meldung, dass Kent Nagano und Georges Delnon ab 2015 die Hamburger Oper leiten werden. Egbert Tholl fühlt sich vom Saisonauftakt am Theater Basel zwar gut unterhalten, ist danach aber auch "nicht unbedingt klüger als zuvor." Burkhard Müller berichtet von einer international besuchten Museumstagung in Tbilissi, die er auch als Willkommenssignal an das geografisch isolierte Georgien deutet. Thomas Steinfeld gratuliert Karl Heinz Bohrer zum 80. Geburtstag. In den Kurzbesprechungen aktueller Popveröffentlichungen feiert Jens-Christian Rabe die Jon Spencer Blues Explosion als "untenrum (...) wuchtigste rumpelige Indie-Blues-Band der Welt". In ihrem aktuellen Video rumpeln sie sich wuchtig durch das Bilderrepertoire des Hinterwäldler-Horrorfilms:



Besprochen werden die neue Abteilung für islamische Kunst im Louvre (diese "ist überzeugend und demonstriert eine faszinierende Verschränkung zwischen westlicher und islamischer Welt, die über Fanatismus hinwegsieht", meint Joseph Hanimann), eine Ausstellung im Museum Wien über die Wiener Werkbundsiedlung, der Film "Hope Springs" und Bücher, darunter Ulf Erdmann Zieglers Roman "Nichts Weißes" (mehr um 14 Uhr in unserer Bücherschau).