Heute in den Feuilletons

Zu verdammt sauber

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.10.2012. Die Welt besichtigt in Paris staunend die unangepasste Kunstsammlung Michael Werners. Der Tagesspiegel porträtiert die 14-jährige afghanische Schülerin Malala Yousafzai, der Taliban eine Kugel in den Kopf schossen, weil sie zur Schule gehen wollte. Die taz spaziert durch ein wiederbelebtes Belgrad. Die Zeit möchte eigentlich keine von Anders Breivik inspirierten Theaterstücke sehen. In der SZ macht sich Oliver Stone nichts aus perfekten skandinavischen Mädchen. Die FAZ wirft ihm prompt männerbündlerische Ausgekochtheit vor.

Welt, 11.10.2012

Hans-Joachim Müller geht staunend durch die große Ausstellung des Sammlers Michael Werner im riesenhaften Musée d'Art Moderne in Paris. Man findet hier alles, nur keine Moderne! "Was der Sammler Werner zusammengetragen hat, ist ein Kompendium erstaunlichster Unangepasstheit. Ohne Hemmung gesellt er seinen - ehemaligen - Hauskünstlern Georg Baselitz, Eugen Schönebeck und Antonius Höckelmann einen Outsider wie Friedrich Schröder-Sonnenstern hinzu, den die Chronik irgendwo zwischen Pathologie und schrulliger 'Art brut' führt. Er steigt groß ein bei vergessenen Individualisten wie den Malern Gaston Chaissac oder Francis Gruber, beim Bildhauer Etienne Martin oder bei einem Zeitabtrünnigen wie dem amerikanischen Maler Louis Michel Eilshemius, der um seine nackten 'Nymphs' in verhangenen Landschaften noch einmal das schwere Parfüm des 19. Jahrhunderts versprüht. Die Wanderung durchs Werner-Museum führt einen vom einen Solotänzer zum anderen, wobei es der Selbstgefälligkeit der Kunst keinen Schaden tut." (Bild: Sigmar Polke, "Sans Titre" 1968)

Weitere Artikel: Hanns-Georg Rodek unterhält sich mit Oliver Stone über Drogen und die wünschenswerte Legalisierung von Marihuana. (Daneben gibt's eine Kritik zu Oliver Stones neuem Film "Savages", den Rodek "so spielerisch und gleichzeitig so analytisch" findet wie lange keinen Film mehr aus Hollywood). Es gibt einige Notizen zur Buchmesse. Julika Meinert besucht den von Andrew Patterson entworfenen Buchmessenpavillon Neuseelands. Henryk Broder schlägt vor, die Bücher des israelischen Historikers Shlomo Sand (Titel seines neuesten Buchs: "Die Erfindung des Landes Israel", erscheint demnächst bei Ullstein) künftig in der Abteilung Fantasy & Fiction anzubieten. Jan Küveler porträtiert die Schweizer Musikerin Sophie Hunger. Hier singt sie "Beauty above all":


Weitere Medien, 11.10.2012

Christine Möllhoff porträtiert im Tagesspiegel die 14-jährige afghanische Schülerin Malala Yousafzai, der Taliban am Dienstag eine Kugel in den Kopf schossen, weil sie sich öffentlich für die Schulbildung von Mädchen ausgesprochen hat: "Unter dem Pseudonym Gul Makai hatte die damals Elfjährige 2009 für den britischen Sender BBC ein geheimes Tagebuch geschrieben, als die Taliban ihre Heimat, das Swat-Tal, unter ihre Kontrolle gebracht hatten - und so die brutale Schreckensherrschaft der Fundamentalisten vor der Welt bloßgestellt. Im Sommer 2009 vertrieb das Militär die Taliban aus dem Tal. Malala fühlte sich wieder sicher, ging zur Schule und setzte sich weiter für Frieden und die Bildung von Mädchen ein." Malala Yousafzai hat bis jetzt überlebt, sie ist im Krankenhaus.

Bei Dawn kommentiert Nadeem F. Paracha den Mordversuch: "A monster does what a monster does and a mere condemnation of him is a farce. But yes, those who really deserve condemnation are us Pakistanis as a people. I apologise to Malala for a society who has forgotten to apologise. Half of it is busy frantically convoluting scenarios to explain away this cowardly act and hold on to the delusions upon which they construct their politics and fire their oh-so-revolutionary rhetoric; while the other half, like me, are sinking (or being sunk) into a sticky puddle of apathy and cynicism."
Stichwörter: Krankenhaus, Mons, Thonet, Gülsen

NZZ, 11.10.2012

Die "Zukunftskonferenz" an der Akademie der darstellenden Kunst in Ludwigsburg, bei der junge Theaterschaffende auf die Veränderungen des Theaters vorbereitet werden sollten, konnte Barbara Villiger Heilig nicht recht überzeugen: "Die Ludwigsburger Idee, zu antizipieren, wie unsere Theaterlandschaft(en) in Zukunft aussehen könnten, hinkt. Kunst sucht sich unvorhersehbare Wege. Lehren und lernen lässt sich vor allem ein Instrumentarium, um solche Wege zu erkunden."

Weiteres: Nach fast neun Jahren Umbau wurde in Amsterdam das Stedelijk Museum wiedereröffnet, im April 2013 soll die zehnjährige Restaurierung des Rijksmuseums abgeschlossen sein, berichtet Christian Schlösser.

Besprochen werden die Filme "The End of Time" von Peter Mettler und "Savages" von Oliver Stone, neue Stücke von Caryl Churchill in London sowie Bücher, darunter Liao Yiwus Gesprächsband zum Tiananmen-Massaker "Die Kugel und das Opium" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 11.10.2012

Sonja Vogel schreibt aus der serbischen Hauptstadt Belgrad, die politisch zwar immer noch "auf dem Weg in die Vergangenheit" ist, in der sich aber auch die Entwicklung alternativer Strukturen abzeichnet: "Die Stadt wird wieder urban, auf den Straßen spricht man Englisch, ungezählt sind die internationalen Festivals und Kongresse. Kurz: Kulturell ist Belgrad immer mehr die lebendige Metropole, die es ab den Sechzigern für zwanzig Jahre war."

Cristina Nord bekam im Rahmen des Internationalen Filmfestivals in Rio das erste Favela-Kino vorgeführt: "Das Cine Carioca und die Kinos, die noch enstehen sollen, sind Teil des ambitionierten Programa de Aceleracao do Crescimento (Programm zur Beschleunigung von Wachstum), das die Befriedung der Favelas zum Ziel hat."

Weiteres: Dirk Knipphals berichtet von der Frankfurter Buchmesse, wo alle auf Arnold Schwarzenegger warteten, dann aber zunächst bloß "ein Staatsgast, der neuseeländische Ministerpräsident oder so" aus dem Auto stieg. Besprochen werden Julian Roman Pölslers Verfilmung von Marlen Haushofers Roman "Die Wand", die Rezensentin Birgit Glombitza etwas zu wenig eigensinnig geriet, die DVD von Bertrand Taverniers Historienfilm "Die Prinzessin von Montpensier" von 2010 und der Comic "Quai d'Orsay. Hinter den Kulissen der Macht" von Christophe Blain und Abel Lanzac, der auf "lehrreichste und amüsanteste Weise von französischen Diplomaten und der Diplomatie in schwierigen Zeiten" erzählt (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

Zeit, 11.10.2012

Peter Kümmel berichtet mit Unbehagen davon, dass der Däne Christian Lollike und der Schweizer Milo Rau von Anders Breiviks Manifest inspirierte Stücke auf die Bühne bringen: "Hätte er nicht gemordet, kein Mensch würde sich um seine Texte kümmern. Warum auch? Das Internet ist voll von derlei. Erst die Kombination von Tat und Theorie gibt beiden Gewicht. Das eine wird durch das andere pervers beglaubigt: Lest! Er wusste, was er tat." Ein ähnliches Grauen überkommt Jens Jessen angesichts der Pläne Nico Hofmanns und Jan Mojtos, das Leben Adolf Hitlers als Fernsehserie zu verfilmen.

Weiteres: Ulrich Greiner stellt fest, dass es zwischen Bestsellerlisten und Bestenlisten keine Überschneidungen gibt und diagnostiziert eine "Verkindlichung" des Massengeschmacks. Nicht viel besser sieht es im Internet aus: Nina Pauer erkennt eine kommunikative Degeneration auf Facebook, "der ewigen Krabbeldecke des Netzes". Marie Schmidt empfiehlt die "unerbitterlich gute" TV-Serie "Girls", die am kommenden Mittwoch auf dem Pay-TV-Sender glitz anläuft. In seiner auszugsweise abgedruckten Rede anlässlich der Verleihung des Petrarca-Preises spricht der französische Soziologe Luc Boltanski über Demokratie und Liberalismus. Der Barockkomponist Agostino Steffani wurde schon vielfach wiederentdeckt, aktuell von Donna Leon und Cecilia Bartoli in einer öffentlichkeitswirksamen Inszenierung, berichtet Volker Hagedorn (der von Leons literarischer Bearbeitung angetaner scheint als von Bartolis musikalischer).

Besprochen werden Oliver Stones Drogenfilm "Savages" (der, wie Jens Jessen bedauert, "an platzendem Fleisch und spritzendem Hirn" erstickt), Roman Pölslers Marlen Haushofer-Adaption "Die Wand" ("sehr ambitioniert und sehr langweilig", seufzt Ulrich Greiner), die Land Art-Ausstellung "Ends of the Earth" im Münchner Haus der Kunst (bei der Georg Seeßlen klar wird: "Der Mensch und die Erde passen einfach nicht zueinander") und Bücher, darunter Ursula Krechels "Landgericht", das am vergangenen Montag mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Der Reflex, Gewaltverbrecher als psychisch krank darzustellen, steht einer sachlichen Auseinandersetzung im Wege, schreibt der Kriminalpsychiater Hans-Ludwig Kröber im Dossier: "Zu einem rationalen Umgang mit der Gewaltgefahr gehört, dass wir sie nicht in sublime Hirnbezirke mit kaputten Spiegelneuronen verbannen, sondern als normal begreifen. Gewalt gehört zur conditio humana, dies zu verleugnen ist lebensgefährlich. Man kann Gewalt nicht durch Anti-Aggressions- oder Empathietraining beseitigen, man kann sie nur möglichst gut 'einhegen', wie die Historiker sagen."

SZ, 11.10.2012

Im Interview trifft Anke Sterneborg auf einen ziemlich defätistischen Oliver Stone, wenn es um die Zukunft von haptischem Filmmaterial geht: "Bald wird es das nicht mehr geben. ... Letzte Nacht wollte ich in meinem verdammten Hotelzimmer hier ein Video-on-Demand sehen, den Freud-Film 'Eine dunkle Begierde'. Doch auf HD sah das aus wie eine Entertainment-Tonight-Show. Da geht so unglaublich viel verloren! Wenn ich Sie betrachte, sehe ich Sie auf Film, ich sehe das Licht auf Ihrem Gesicht, den Schatten, dem Licht wohnt ein ganz anderes Geheimnis inne. In HD bekommt man das nicht, weil es einfach zu verdammt sauber ist - das sieht dann aus wie jedes beliebige skandinavische, viel zu perfekte Mädchen."

Weitere Artikel: Tim Neshitov besucht in Berlin den noch recht frischen, auf türkische Literatur spezialisierten Binooki-Verlag, dessen beide Betreiberinnen "von einer fast kindlichen Liebe zur Literatur getrieben werden und von dem Glauben an deren magische Kraft". Christine Dössel gratuliert im Aufmacher den Münchner Kammerspielen zum hundertjährigen Bestehen und schließt nach einem Durchgang durch deren Geschichte: "Ein Abenteuer ist es nach wie vor." Johan Schloemann informiert sich bei der Frankfurter Buchmesse, wie die Verlage der krisengeschüttelten Länder mit ihrer Situation umgehen: Griechische Verlage etwa "reagieren, indem sie ihre Backlist (...) zu Rabatten von 50 bis 70 Prozent verhökern." Fritz Göttler empfiehlt das Rumänische Filmfestival im Münchner Filmmuseum. Matthias Drobinski besucht den Theologen Hans Küng. Franziska Augstein gratuliert dem Historiker Saul Friedländer zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden eine Ausstellung über künstlerische DDR-Fotografie in der Berlinischen Galerie und der neue Action-Film "Taken 2".

FAZ, 11.10.2012

Dietmar Dath erlebt in Oliver Stones neuem Film "Savages" zwar gelegentlich "amüsante Minuten", doch folgt darauf rasch Ernüchterung: Der Humor in diesen Szenen "wird schal, wenn man sich vergegenwärtigt, dass ihr Kontext ein zu weitschweifiger Western-Breite ausgewalztes Fest männerbündlerischer Ausgekochtheit ist, dessen militarisierte, verklemmt angedeutete statt riskant ausgespielte Homoerotik samt streberhafter Hippie-Liberalität die schreckliche Frage aufwirft: Stellt sich Oliver Stone so etwa sein Verhältnis zu Quentin Tarantino vor? ... Quentin und ich, sind wir nicht zwei verdammte Teufelskerle? So wird hier geredet, so wird hier inszeniert - man kommt sich vor, als würde jede Behauptung, die diese Bilder wagen, mit der kumpelhaften Anrede 'Alter' beginnen oder enden."

Weitere Artikel: Patrick Bahners unterhält sich mit Saul Friedländer unter anderem über dessen Spekulationen über Kafkas Sexualität, die er in seinem neuen Buch ausführlicher darlegt. Reinhard Wandtner stellt die beiden Chemie-Nobelpreisträger Robert Lefkowitz und Brian Kobilka vor. Eleonore Büning schreibt den Nachruf auf den Geiger Michel Schwalbé.

Besprochen werden die Camille-Corot-Ausstellung in der Staatlichen Kunsthalle in Karlsruhe, eine Ausstellung mit Arbeiten von Ole Könnecke im Bilderbuchmuseum in Troisdorf, eine neue CD der "famosen Mezzosopranistin" Elína Garanca und Bücher, darunter Peter Handkes Klo-Essay und neben anderen neuen Filmbüchern ein Prachtband zum James-Bond-Jubiläum (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).