Heute in den Feuilletons

Willkommen im Club der Verwegenen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.08.2013. In der NZZ singt der türkische Schriftsteller Mario Levi ein Preislied auf die Gezi-Park-Generation und ihren Humor. In Pressthink erklärt Jay Rosen, warum Edward Snowden gewonnen hat. Zwei Politologen haben für die FAZ herausgefunden, dass die Grünen schon in ihrem Grundsatzprogramm von 1980 Pädophilie legalisieren wollten. In der SZ erklärt Burkhard Müller ein Naturgesetz des Medienwandels: "Ein Medium ist bei Kräften, solange es als Schund gilt."

NZZ, 12.08.2013

Der türkische Schriftsteller Mario Levi schreibt voller Wärme über die jungen menschen, die im Istanbuler Gezi-Park ein neues Land geschaffen haben, eines mit aufrichtigem Bürgersinn: "Ich habe ja mein Land schon von jeher geliebt, aber nun liebe ich es noch mehr. So bin ich durchaus versucht, diese jungen Menschen als die neue Türkei zu bezeichnen, und zwar nicht nur, weil sie unerschrocken für ihre Rechte eintreten und uns wieder lehren, uns aufzulehnen, sondern vor allem auch, weil sie dies voller Humor tun. Und was fällt ihnen nicht alles ein! Die Geschichte lehrt, dass dem Humor keine Macht zu widerstehen weiß."

Besser als als das Buch findet Martin Waldner David Wnendt Verfilmung von Charlotte Roches "Feuchtgebieten", die im Wettbewerb von Locarno gezeigt wurde: "Der Film bringt über die schulmädchenhaft betonende Off-Erzählerin viel aus dem frivolen Ton des Buches ein, schnippt aber von allzu nackter Anschaulichkeit und Drastik immer gerade noch virtuos weg."

Marion Löhndorf besucht in der Londoner National Gallery eine Ausstellung über Vermeer und die Musik. In einem Hintergrundtext beleuchtet Christian Rakow die vorsichtige Annäherung des Theaters an die Welt der Computerspiele.

Aus den Blogs, 12.08.2013

Edward Snowden hat - entgegen allen Behauptungen Barack Obamas auf seiner Pressekonferenz von Freitag - gewonnen, schreibt Jay Rosen in seinem Blog Pressthink: "Congress had woken up to its oversight responsibilities and was finally debating the limits of the surveillance state. Lawmakers in both parties were advertising their doubts. Other parliaments around the world were asking questions they had not asked before. The President had been forced to respond with an announcement of some (tepid) reforms and a press conference intended to restore public confidence after the Snowden effect flipped the polls around. (Link.)"

Schon am Freitag kommentierte das Editorial Board der New York Times Obamas Versprechungen einer größeren Transparenz sehr kritisch: "It is the existence of these programs that is the problem, not whether they are modestly transparent. As long as the N.S.A. believes it has the right to collect records of every phone call - and the administration released a white paper Friday that explained, unconvincingly, why it is perfectly legal - then none of the promises to stay within the law will mean a thing."

Amerikanische Medien haben heute allerdings nur ein Thema: Die neue Staffel von "Breaking Bad" ist gestartet. Byliner bringt einen Überblick über interessanten Lesestoff zur Serie.

Wolgang Michal versteht auf Carta die deutsche Empörung über Prism, aber auch die historischen Beweggründe der Amerikaner und Briten: "Nicht nur in Russland und im Kaukasus - in vielen Ländern von Afghanistan bis Persien, von China bis Indien hat Deutschland einst nationale Revolten gegen Großbritannien inszeniert, mit Terror, Sabotage, Banküberfällen, Aufständen und allem, was dazugehört. Das ist in den Hauptstädten so unvergessen wie Hitlers Barbarei.

Weitere Medien, 12.08.2013

Wo einmal Theorie war, ist heute Statistik, erklärt Christian Schlüter die Grundlagen von Big Data mit Rekurs auf Chris Andersons Essay "Das Ende der Theorie" von 2008: "Das Zusammentreffen von prinzipiell beliebig vielen Ereignissen wird nicht mehr kausal erklärt, sondern nur noch statistisch festgehalten. Dieser Ansatz ersetzt qualitative Fragen - etwa die nach dem inneren Wert oder Sinn eines Datensatzes - durch schiere Quantität. Und er hat sich mittlerweile als äußerst erfolgreich erwiesen: Wir müssen davon ausgehen, dass kein Buchhändler oder Schriftsteller seine Leser so gut kennt wie Amazon; Google oder Twitter sagen politische Entwicklungen viel schneller vorher als jeder Demoskop; und jeder Psychologe oder Soziologe wird Facebook um seinen Datenschatz beneiden."

TAZ, 12.08.2013

Schön verwunschen findet Annett Jaensch das neue in den Müggelwald verlegte Stück der argentinischen Choreografie Constanza Macras "Forest: The Nature of Crisis", bei der es um Märchen und Spekulationsblasen geht: "Nadelduft in der Nase und weich federnden Boden unter den Füßen. Während der Tross erwartungsvoll zum ersten Schauplatz marschiert, huschen schon die ersten Feen durchs Gehölz. 'Geh, wilder Knochenmann und rühre mich nicht an', röhrt eine Punklady hinter einem Baum hervor. 'Der Tod und das Mädchen' von Franz Schubert einmal anders."

Weiteres: Jörg Sundermeier sammelt die neuesten Entwicklungen im Fall Suhrkamp gegen Barlach. Brigitte Werneburg sieht sich im Luxemburger Mudam die Ausstellung "L'Image papillon" an.

Und Tom.

Welt, 12.08.2013

Hanns-Georg Rodek ruft der jungen Tessiner Schauspielerin Carla Juri, die mit 15 Jahren aus einem Dorf in den Alpen nach New York ging und jetzt die Hauptrolle in der Verfilmung von Charlotte Roches "Feuchtgebiete" spielt, ein herzliches "Willkommen im Club der Verwegenen, Carla", zu. Richard Kämmerlings ist erstaunt über die maue Reaktion des Suhrkamp Verlags auf das Einstiegsangebot von dtv. Michael Pilz freut sich, für Oktober ein neues Album von Prefab Sprout ankündigen zu können. Manuel Burg stellt den Dirigenten Antonio Pappano vor, der jetzt in Salzburg den "Don Carlos" und Brittens "War Requiem" dirigiert. Der französische Ex-Kulturminister Jacques Lang beschwört in einer kleinen Kolumne den europäischen Geist. Besprochen wird Constanza Macras' Choreografie "Forest: The Nature of Crisis" an der Berliner Schaubühne.

Aus den Blogs, 12.08.2013

Die Idee ist natürlich schon älter, aber plötzlich sind Containerwohnungen ein Hit. Das Blog Domus zeigt ein Südtiroler Modell, dass auf dem Gelände der Libera Università in Bozen steht. Entworfen hat es die italienische Architekturfirma Niederstaetter zusammen mit Studenten.

In Amsterdam gibt es bereits ein ganzes Containerdorf für Studenten, das offenbar ein ziemlicher Erfolg ist, auch wenn es im Video etwas zugig wirkt.

Demnächst wird es das auch in Berlin geben. Eba51 heißt das Projekt und soll im Plänterwald stehen. Die Bilder sehen alle recht lauschig aus. Investor Jörg Duske hat es am Sonntag auf Radio1 vorgestellt.
Stichwörter: Amsterdam, Berlin, Südtirol

SZ, 12.08.2013

Burkhard Müller hat wenig Verständnis für das Wehklagen der Kulturpessimisten, die jedes neue Medium beschuldigen, soziale Bande und Formen der Geselligkeit zu zersetzen, nur um es dann, bei Ankunft eines noch neueren Mediums, rückwirkend nostalgisch zu verklären. "Ein Medium ist bei Kräften, solang es als Schund gilt. Dass heute allgemeine Einigkeit über den Bildungswert des Buchs besteht, bezeugt dessen mediale Schwäche; und dazu gehört es wohl auch, dass es auf einmal soziale Qualitäten aufweisen soll, die man ihm früher rundheraus abgesprochen hat."

Außerdem: Catrin Lorch berichtet, dass mit der gestiegenen wirtschaftlichen Relevanz des asiatischen Modemarkts die Arbeit für schwarze Models schwieriger wird. Außerdem feiern die SZ-Autoren Giovanni Boccaccios tausendsten Geburtstag.

Auf der Seite 3 erzählt Renate Meinhof die Geschichte der rumänischen Kunsträuber, die im Oktober 2012 sieben Bilder aus der Kunsthalle Rotterdam gestohlen haben. Offenbar hat die Mutter eines der Angeklagten sie als fatale Beweismittel im Ofen verbrannt: einen Matisse, einen Gaugin, zwei Monets, einen Feud, einen Picasso und einen Meijer de Haans.

Besprochen werden eine Carol Rama gewidmete Ausstellung im Museo Comunale 'Arte Moderna in Ascona (Bild: Carol Rama, Feticci 5), eine Munch-Ausstellung in der Staatsgalerie Stuttgart und Bücher, darunter Sven Lewandowskis soziologische Studie über Pornografie (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 12.08.2013

Nicht erst im Jahr 1985, sondern schon in ihrem ersten Grundsatzprogramm von 1980, wollten die Grünen Pädophilie legalisieren, haben die Forscher Franz Walter und Stephan Klecha für die FAZ herausgefunden. Das Programm behielt bis 1993 Gültigkeit, schreiben sie auf der Gegenwartsseite: "Nur die Anwendung von Gewalt hätte bestraft werden sollen, während all jene Formen nicht länger unter das Strafrecht fallen sollten, in denen das Opfer 'gewaltfrei' gefügig gemacht worden wäre. Die im Strafgesetzbuch gezogenen Altersgrenzen stellen nämlich eine 'absolute Grenze für den sexualbezogenen Umgang strafmündiger Personen mit Kindern' dar, wie es in einem Strafrechtskommentar heißt. Genau diese absolute Grenze wollten die Grünen zu Fall bringen und pädophile Handlungen gutheißen." In einem Kommentar auf Seite 1 weist Daniel Deckers auf das anhaltende "Antidiskriminierungspathos" hin und fragt, "ob das, was einer Minderheit nützt, immer auch dem Wohl der Allgemeinheit dient - die Umwertung des Ehebegriffs lässt grüßen".

Im Feuilleton stellt Sandra Kegel klar, dass Suhrkamp-Autoren trotz des Insolvenzverfahrens weiterhin ihre Honorare erhalten werden, weil sich "das Ehepaar Sylvia und Ulrich Ströher bereit erklärt, über ihre SAF GmbH eine Zwischenfinanzierung bereitzustellen" - die Wella-Erben sind auch als potenzielle neue Teilhaber der Verlags im Gespräch. Lena Bopp stellt den Genfer Autor Joël Dicker vor, dessen Roman "Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert" - im letzten Jahr der Sensationserfolg in Frankreich - nun auf Deutsch vorliegt. Sandra Kegel hat den Dumont-Verleger Jo Lendle getroffen, der gerade einen neuen Roman vorlegt und demnächst bei Hanser anfängt. Felicitas von Lovenberg hat in Locarno David Wnendts Verfilmung von Charlotte Roches "Feuchtgebieten" gesehen und musste an manchen drastischen Stellen durchaus schlucken. Türkei-Korrespondentin Karen Krüger trifft die türkischen Journalisten Adnan Türkkan und Mehmet Sabuncu, die im Rahmen des Ergenekon-Prozesses als Terroristen verurteilt wurden. Jürg Altwegg fürchtet um Niveau und Profil des Festivals von Avignon. Anika Gründer und Florian Kirfel erzählen, was die Japaner so alles mit ihren aus demografischen Gründen leerstehenden Schulen machen. Und der Journalist und Schriftsteller Günter Hack weist in kommende Fortschritte der digitalen Fotografie ein, die es künftig erlauben werden, auch ohne Licht oder um die Ecke zu fotografieren.

Besprochen werden ein Auftritt Yoko Onos in Hamburg und Bücher, darunter Christian Holtorfs Studie über die Verlegung des ersten Transatlantikkabels im 19. Jahrhundert (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

In der FAZ am Sonntag mahnt der neue Superphilosoph Markus Gabriel: "Proust hat vor langer Zeit bemerkt, dass uns die Zeit verloren geht. Doch wir sollten nicht die verlorene Zeit suchen, denn Zeit ist nicht der Bedeutungsträger."