Heute in den Feuilletons

Retter der Leere

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.12.2013. Die NZZ sucht im Kopenhagener Louisiana-Museum nach einer Idee vom Norden und lässt sich dabei auch von Glenn Gould inspirieren. Die Welt sieht Abdellatif Kechiches Film "Blau ist eine warme Farbe" als Gegenentwurf zu Hollywood. Der Jurist David Cole kommt im NYRBlog zum Ergebnis, dass die NSA illegal operiert. In der Zeit fragt Clemens J. Setz, wie ein Gebärdendolmetscher gestikuliert, wenn er nichts sagt.

NZZ, 19.12.2013

Auf dem Maidan-Platz in Kiew ist ein "Bund autonomer Menschen" entstanden, schreibt der ukrainische Schriftsteller Andrij Bondar. "Da haben sich Menschen gegen die Staatsgewalt aufgelehnt, die in den vergangenen 22 Jahren gelernt haben, ohne Staat zu leben und zu überleben. Vom Staat fordern diese Leute überhaupt nicht viel - Sicherheit, gerechte Steuern, klare Spielregeln, Rechtsstaatlichkeit und, natürlich, Freiheiten. Eine Staatsgewalt brauchen sie nicht. Sie können auch ohne auskommen. Gar keine Staatsgewalt ist ihnen jedenfalls lieber als eine, die nicht das Umfeld zu garantieren vermag, in der sie alles selbst machen können."

Wussten Sie, dass Glenn Gould 1967 fürs Radio eine Collage aus Stimmen, Geräuschen und Klängen gebastelt hat, die er bei Fahrten in den kanadischen Norden aufgenommen hatte? (Hier kann man sie hören, ist das Internet nicht wunderbar?) Dies erfuhr Petra Kipphoff in der Ausstellung "Arctic" im Louisiana Museum of Modern Art im dänischen Humlebæk. "Es ging bei Gould und es geht in der Ausstellung nicht irgendwie um den Norden, Eis und Schnee, sondern um das, was hinter der Schönheit und dem Schrecken liegt: die Idee vom Norden. Es gab sie schon lange vor der Entdeckung dieser Landschaft der schattenlosen Klarheit. Die Arktis, schreibt Töjner im Katalog, 'ist ein ideografischer Ort, bevor sie ein geografischer Ort ist - man kann in der Arktis reisen, aber nicht hin zu ihr'." (Bild: Gerhard Richter, Eisberg, 1982)

Weiteres: Um das Ansehen Moncef Marzoukis ist es wohl geschehen, meint Beat Stauffer, nachdem der frühere tunesische Oppositionspolitiker und heutige Präsident ein Schwarzbuch mit Namen von Journalisten hat veröffentlichen lassen, die mit dem alten Regime zusammenarbeiteten. Besprochen werden Asghar Farhadis Film "Le passé" und Bücher, darunter zwei Romane von Hermann Bang (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 19.12.2013

Auf der Medienseite erklärt Anne Fromm, was es damit auf sich hat, dass in der aktuellen Ausgabe des Magazins Dummy Seiten von Hand geschwärzt und herausgerissen werden müssen: wegen Bildern von einem Penis an der Schnur und einem Stalin mit Hakenkreuz hat eine Münchner Fachkanzlei für Medienrecht den Pressegroßhändlern angeraten, das Heft nicht auszuliefern. Rechtlich bindend ist diese Empfehlung allerdings nicht: "So wie Dummys Vertrieb, Axel Springer, das an seine Grossisten weitergegeben hat, klingt es allerdings eher nach Befehl als nach Empfehlung: 'Wir möchten Sie dringend darauf hinweisen, dass diese Ausgabe auf keinen Fall an den Handel ausgeliefert werden darf, da es Klärungsbedarf zu Inhalten des Heftes gibt', schrieb der Axel-Springer-Vertrieb in einer Mail, die der taz vorliegt, an seine Grossisten. Wieso der Springer-Vertrieb solch eine Mail schrieb und wie die Zusammenarbeit mit der Anwaltskanzlei funktioniert, dazu will sich der Vertrieb nicht äußern."

Im Kulturteil unterhält sich Claudia Lenssen mit dem Regisseur Abdellatif Kechiche über dessen in Cannes preisgekrönten Film "Blau ist eine warme Farbe", die Liebesgeschichte zwischen zwei Schülerinnen.

Besprochen werden Nicole Holofceners Romantic Comedy "Genug gesagt" mit James Gandolfini in seiner letzten Hauptrolle, das neue Album von Beyoncé Knowles und Bücher, darunter der Band "Arbeitsfrei" von Constanze Kurz und Frank Rieger (mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr)

Und Tom.

Perlentaucher, 19.12.2013

Der Sex spielt im Kopf der Kritiker Abdellatif Kechiches eine größere Rolle als im Film selbst, konstatiert Perlentaucher-Kritiker Lukas Foerster: "Trotz aller gegenteiliger Anrufungen sehe ich die Nähe auch dieser Szenen zu den Bildern der kommerziellen Pornografie schlicht und einfach nicht; oder höchstens im oberflächlichsten aller Sinne: es geht da halt um Sex und erst einmal um nichts anderes. Aber Kechiche inszeniert den Sex gerade nicht ums 'genitale Ereignis' (Linda Williams), nicht um klinische Großaufnahmen herum, meist bleibt er in der Totalen."

Welt, 19.12.2013

Recht begeistert bespricht Hanns-Georg Rodek Abdellatif Kechiches Film "Blau ist eine warme Farbe": "Dies ist auch ein europäischer Gegenentwurf zu Hollywoods Kino, das sich immer sklavischer an die mechanistisch-formelhafte Dramaturgie hält, wie sie der kürzlich verstorbene Drehbuchguru Syd Field postulierte. Bei Kechiche gibt es kein Gut und kein Böse, und die Höhe und Wendepunkte lassen sich nicht mit der Stoppuhr in der Hand vorausberechnen."

Weitere Artikel: Matthias Heine staunt über die Unbefangenheit mit der die Deutschen das Wort "Fuck" benutzen, die in den Ursrpungsländern des Worts undenkbar wäre. Wieland Freund droht mit Fortsetzungen der Stieg-Larsson-Romane, verfasst von David Lagercrantz. Besprochen wird die Dramatisierung von David Grossmans Roman "Aus der Zeit fallen" am Deutschen Theater.

Aus den Blogs, 19.12.2013

Die Argumentation der Obama-Regierung zum segensreichen Wirken der NSA ist nicht haltbar, schreibt der Rechtsprofessor David Cole im NYRBlog: "The Obama administration has maintained that the program is fully lawful, and that it has been approved repeatedly by all three branches of government. This defense has always been misleading. Since the program was developed, approved, and applied in secret, it had never been subject to public scrutiny or adversarial judicial testing. Now it has, and it has failed dramatically."

(Via Netzwertig) Das Nieman Lab hat ein Riesendossier zur Zukunft des Journalismus im Jahre 2014 zusammengestellt.

Bitte sehr, für alle, die Musik gern mitlesen, liegen nun Beethovens sämtliche Klaviersonaten im Musescore-Format - einem Open-Source-Format für Musik und Partituren vor. Wir verlinken auf Opus 2 Nr. 1.

Weitere Medien, 19.12.2013

Harald Jähner begutachtet in der Berliner Zeitung die beiden von der Jury ausgezeichneten und sehr unterschiedlichen Entwürfe für den geplanten Neubau einer Berliner Zentralbibliothek, die vor allem eins widerspiegeln - die Unklarheit der Ausschreibung: "Nicht einmal Grundfragen wie die, ob sich eine Bibliothek besser in vertikaler Ausdehnung oder über acht Geschosse in die Höhe organisieren lasse, wollte die Jury beantworten."

Sollten subventionierte Theater eine Unternehmensethik entwickeln? So fragte man sich auf einem Symposion von Theaterdirektoren, über das Martin Eich im Freitag berichtet. Einige Aspekte dieser Frage benennt er auch gleich: "Klaus Weise, bis zum Ende der vergangenen Spielzeit Generalintendant des Bonner Theaters, erhielt 320.000 Euro jährlich und damit mehr als der Bundespräsident... während die monatliche Mindestgage von Schauspielern derzeit bei 1.650 und das durchschnittliche Salär bei 2.500 bis 3.000 Euro liegt."

Zeit, 19.12.2013

Clemens Setz rätselt auf einer ganzen Seite, was den Gebärdendolmetscher bei der Beerdigung Nelson Mandelas zu seiner absurden Show veranlasst haben mag. "Hans Hütt, einer der großen Kenner politischer Rhetorik, sagte zu mir auf Facebook, als wir über den Dolmetscher diskutierten: "Zum ersten Mal wurden leeres Reden und leeres Gebärdisch kongruent." Ist es dann nicht auch so, dass die normalen, üblicherweise verwendeten Gebärdendolmetscher so etwas sind wie die "Retter" der Leere? Sie erheben das, was eigentlich bloß inhaltsdünner, dominanter Klang ist, ins Bedeutungsvolle, wahrhaft Zeichenhafte."

Weitere Artikel: Für den Aufmacher besucht Moritz von Uslar Karstadt am Hermannplatz (mit einem besonderen Gruß an die fabelhaften Verkäuferinnen in der Stoffabteilung). Nina May trifft sich mit David Grossman, der zur Uraufführung seines Textes "Aus der Zeit fallen" nach Berlin gekommen ist ("Andreas [Kriegenburger] hat mein Werk erst vollendet. Ich hatte von Anfang an das Gefühl, dass es gespielt werden muss", sagt Grossman nach der Generalprobe, hier die Besprechung von Simone Kaempf bei Nachtkritik). Peter Kümmel erleidet einen apokalyptischen Schluckauf angesichts der Gendatensammler von 23andMe (Hintergrundartikel von Sven Stockrahm bei Zeit online). Christine Lemke-Matwey reist zu allerlei Aufführungen des Verdi-Jahres. Maximilian Probst schüttelt den Kopf über den Hamburger Senat, der zusammen mit den Eigentümern die Esso-Häuser hat verrotten lassen. Thomas E. Schmidt fordert ein Kunstrückgabegesetz, dass die Verantwortlichkeiten bei Restitutionsfällen regelt.

Besprochen werden Jim Jarmuschs Vampirfilm "Only Lovers Left Alive" mit Tilda Swinton und Bücher, darunter Werner Dahlheims Geschichtsbuch "Die Welt zur Zeit Jesu" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 19.12.2013

Kai Strittmatter poträtiert den chinesischen, mit dem Pritzker-Preis ausgezeichneten Architekten Wang Shu, dessen Bauten aus den Neunzigern mittlerweile allesamt abgerissen wurden, um Raum für größere Gebäude zu schaffen. Den momentanen Urbanisierungsschub des Landes beobachtet Wang Shu mit Blick auf die Spuren der Geschichte, die dabei zerstört werden, skeptisch: Strittmatter charakterisiert ihn als jemand, um den es einsam ist, "der sich Größenwahn wie Geschwindigkeitsrausch entzieht, der den Menschen wiederentdeckt als einen, der vielleicht mehr braucht als nur 'es warm zu haben und satt zu sein', was die Parteipropaganda gemeinhin als Erfüllung menschlichen Strebens zeichnet. Man könnte das Bild vom Kampf gegen die Windmühlen bemühen, aber das würde das Ungleichgewicht der Kräfte stark untertreiben."

Außerdem: Die Schauspielerin Adèle Exarchopoulos erzählt im Gespräch mit Annett Scheffel unter anderem von den anstrengenden Dreharbeiten zu Abdellatif Kechiches Film "Blau ist eine warme Farbe", der heute ins Kino kommt. Volker Breidecker bringt Hintergründe dazu, dass auch die James-Joyce-Stiftung den von Schließung bedrohten Zürcher Strauhof verlassen muss. Till Briegleb und Alexander Menden berichten vom Warburg-Treffen, das kurzerhand auf London und Hamburg verteilt wurde.

Besprochen werden eine Aufführung von Volker Brauns "Die Übergangsgesellschaft" in Berlin, Nicole Holofceners romantische Komödie "Genug gesagt" und Bücher, darunter Norbert Wolfs "Art deco" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 19.12.2013

Der Erste Weltkrieg war auch der Erste Informationskrieg, erfährt Frank Schirrmacher, als er mit dem Europapolitiker Martin Schulz über die Schlachtfelder von Verdun spaziert: "Telefon und Funk führten nicht nur zur Dezentralisierung zentraler Entscheidungsabläufe und damit zur sozialen Revolution in der Armee, sondern umgekehrt auch zur totalen Distanzierung von Befehlshabern, die das, was ihre Befehle auslösten, nur noch vermittelt und abstrakt erfuhren."

Weitere Artikel: Tim Tolsdorff legt Recherchen vor, deren Ergebnisse darauf schließen lassen, dass der Stern eine braunere Vergangenheit hat als Gründer Henri Nannen eingeräumt hatte. Eleonore Büning fordert den Dirigent Valery Gergiev auf, sich endlich von seinem Freund Putin zu distanzieren. Hernán D. Caro erinnert an den Schriftsteller Ambros Bierce, der vor 100 Jahren verschwand. Melanie Mühl macht sich Gedanken über Nesthocker.

Besprochen werden Robert Rodriguez' neuer Film "Machete Kills", eine Stralsunder "Lohengrin"-Aufführung, deren Ensemble sich gleichermaßen aus Polen und Deutschland rekrutiert, und Bücher, darunter Wiglaf Drostes neue Glossensammlung "Die Würde des Menschen ist ein Konjunktiv" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).