Heute in den Feuilletons

Zeit für eine Rasur

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.01.2014. In der taz spricht Ilija Trojanow über die Wirkungen des Schriftstelleraufrufs gegen den digitalen Überwachungsstaat und wettert über "Defätisten, die es sich auf dem Hochsitz der pessimistischen Weltanschauung" bequem machen. Die NZZ stellt die Seite Alfredflechtheim.com vor, die von mehreren Museen erstellt wurde. Die Welt bewundert den alten Mann Robert Redford und das Meer. Die FAZ veröffentlicht einen Aufruf für Liu Xia. Und die SZ überlegt, wer sich Dissident nennen darf.

TAZ, 08.01.2014

Ilija Trojanow fasst sich an den Kopf, wenn er Revue passieren lässt, mit welchen Argumenten der Aufruf der Schriftsteller gegen die Massenüberwachung kritisiert wurde: "Nicht wenige äußerten, mal im tragischen, mal im sarkastischen Ton, es sei ohnehin zu spät, die Entwicklung nicht aufzuhalten, die digitale Versklavung des Menschen ein unausweichliches Naturgesetz. Es handelt sich hier um Defätisten, die es sich auf dem Hochsitz der pessimistischen Weltanschauung bequem gemacht haben und dem Spirituellen in Totengräberarien frönen. Andere wandten meist höhnisch ein, so ein braver Aufruf werde das Problem nicht lösen, die Geheimdienste kaum erzittern lassen... Das sind die Maximalisten, die jeden Veränderungsvorschlag mit ihrem absoluten Anspruch wegfegen, um sich zur Lethargie zu betten." Aber auch die Minimalisten und Connaisseurs bekommen ihr Fett weg: "Solchen Zeitgenossen und Zeitgenossinnen sind hehre Werte durchaus genehm, aber nur wenn sie kostümiert auf der Bühne verhandelt werden."

Besprochen werden Christian Perrissins und Tom Tiraboscos Comicadaption von Joseph Conrad "Kongo", J. C. Chandors Seenot-Drama "All Is Lost" mit Robert Redford sowie das Heft "Taksim Calling", in dem der Fotograf Frederic Lezmi seine Bilder von den Portesten im Istanbuler Gezi-Park festhält.

Und Tom.

Welt, 08.01.2014

In "All is Lost" spielt Robert Redford einen alten Mann, der mitten auf dem Ozean auf seinem beschädigten Segelboot ums Überleben kämpft. Hanns-Georg Rodek projiziert die Rolle auf den Schauspieler und fragt, was von ihm blieb: "Im wesentlichen, signalisiert der Film, der Selbstrespekt und die Integrität und die Bescheidenheit. Er flucht nicht herum, auch wenn ihm das F-Wort schließlich doch herausrutscht. Er verfällt nicht in Selbstmitleid, in der Tradition eines Gary Cooper oder Gregory Peck. Und selbst wenn er dem Tod ins Auge blickt, Redfords Segler nimmt sich Zeit für eine Rasur."

Weitere Artikel: Tilman Krause erzählt noch einmal die Geschichte des wiederaufgetauchten Iffland-Nachlasses, den sich der Theaterhistoriker Hugo Fetting nach dem Krieg unter den Nagel gerissen hatte und den er nun versilbern wollte. Und Alan Posener mag nach einer Publikation der Gedichte des elisabethanischen Earl of Oxford endgültig nicht mehr glauben, dass es sich bei ihm um den wahren Shakespeare gehandelt habe. Frédéric Schwilden kann über die radikalvegetaristischen Äußerungen des Popsängers Morrissey nur den Kopf schütteln.

Und Hans-Georg Rodek schreibt den Nachruf auf den Kung-Fu-Filmmogul Run Run Shaw, der im Alter von 106 Jahren gestorben ist. Hier der Trailer zum Shaw-Brother-Klassiker "Intimate Confessions of a Chinese Courtesan":


NZZ, 08.01.2014

Eine enorme Informationsfülle attestiert Caroline Kesser der Website Alfredflechtheim.com, die mehrere Museen dem großen Kunsthändler der Avantgarde als Hommage gewidmet haben: "Es gibt kaum einen Zeitgenossen, der Alfred Flechtheim rückhaltlos verehrt hätte. Er war großmäulig, eitel und snobistisch, den von ihm vertretenen Künstlern gegenüber aber auch erstaunlich treu - auch solchen, die es nicht zu Weltruhm brachten wie die Plastikerin Renée Sintenis. Seine Leidenschaft und seinen Wagemut sprach ihm niemand ernstlich ab."

Weiteres: Joseph Croitoru wirft in einer Wanderausstellung des Uno-Hilfswerk UNRWA einen Blick auf die Geschichte der palästinensischen Flüchtlinge seit 1948. Ingeborg Waldinger porträtiert den Wiener Schauspieler und Schriftsteller Robert Seethaler. Und bereits gestern gab Manfred Rist im politischen Teil einen Einblick in die Debatte um den Antisemitismus des französischen Komikers Dieudonné.

Besprochen werden mehrere Biografien des Kaisers Konstantin und Kinderbücher (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Aus den Blogs, 08.01.2014

Die Huffington Post Deutschland (deren Existenz bisher kaum aufgefallen ist) übersetzt den Text eines evangelikalen Pfarrers auf dem Rückweg aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit: "Ich kann nicht mehr richtig an die Kirche, und ehrlich gesagt auch nicht mehr richtig an Gott glauben. Ich gehe nicht mehr regelmäßig zur Kirche, und ich habe Schwierigkeiten im Umgang mit Gläubigen. Ich ziehe die Gesellschaft von Kritikern und Menschen, die nicht in die Kirche gehen, vor. Ich bete nicht mehr viel, und seit ich nicht mehr regelmäßig Predigten schreiben muss, habe ich auch kaum mehr in der Bibel gelesen." Nun will der Mann verschiedene Formen des Unglaubens ausprobieren.

Weitere Medien, 08.01.2014

Warum dampfen diese Leute so? Der New Yorker zeigt die besten Bilder aus dem Polar Vortex.

In einem Editorial zur Frage, was aus der von Obama einst versprochenen Transparenz wurde, klopft die New York Times einige Wahrheiten fest, die in der NSA-Affäre zu Tage traten: "Edward Snowden's unauthorized disclosures of secret mass surveillance programs have forever changed the public discussion about the relationship between national security and the protection of privacy and civil liberties. That debate is meaningful only if it is open. The public should not be left in the dark about the legal justifications for the most significant actions of its government."

Stets lesenswert. Die Zeit online hält über den aktuellen Stand der NSA-Enthüllungen auf dem laufenden.

SZ, 08.01.2014

Die heute in Russland als Dissidenten eingestuften Personen wie der eben freigelassene Michail Chodorkowskij oder der noch einsitzende Michail Kosenko lassen sich nur schwer mit den als Dissidenten einsitzenden Menschenrechtlern der Sowjetzeit vergleichen, meint Tim Neshitov: "Das wichtigste Kriterium ist dabei das Martyrium in der Haft. Kosenko ist die personifizierte Menschenrechtsverletzung. Was er selbst dazu sagt, spielt keine Rolle. Auch bei der öffentlichen Wahrnehmung Chodorkowskijs spielt seine Beharrlichkeit, seine Bereitschaft, Putin die Stirn zu bieten, eine viel wichtigere Rolle als seine Ideen. Seine Ideen, zumindest diejenigen, die ihm am meisten am Herzen liegen, würde keiner der Dissidenten von damals unterschreiben." Weshalb die zwei für den heiklen Neshitov nur "Dissidenten" in Anführungszeichen sind.

Till Briegleb liest im Bericht des Untersuchungssauschusses zum Elbphilharmonie-Fiasko, dass vor allem Verletztheiten und Eitelkeiten das Projekt zum Erlahmen brachten: "Ständig war irgendwer beleidigt, empört, in seinem Vertrauen verletzt ... Mit rund 400 Millionen Euro haben diese persönlichen Animositäten einen stolzen Preis."

Weitere Artikel: In der Türkei diskutiert man darüber, aus der Hagia Sophia wieder eine Moschee zu machen, berichtet Klaus Kreiser. Roswitha Budeus-Budde schreibt den Nachruf auf die Schriftstellerin Irina Korschunow.

Besprochen werden die Ausstellung "Funktion/Dysfunktion" über das Kunstzentrum Glasgow im Neuen Museum Nürnberg (Bild), der Film "All is Lost" mit Robert Redford, Sebastian Nüblings Inszenierung von "Die Klasse" am Jungen Theater Basel, das sich mit den Gezi-Park-Protesten befassende Stück "Hurenkinder Schusterjungen" am Nationaltheater Mannheim und Bücher, darunter Robert Harris' neuer Thriller "Intrige" über die Dreyfus-Affäre (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 08.01.2014

Der chinesische Exilschriftsteller Bei Ling, Peter Englund von der Schwedischen Akademie und Per Wästberg, Präsident des Nobelkomitees für Literatur, fordern die chinesische Regierung auf, endlich Liu Xia freizulassen. Sie steht seit drei Jahren unter Hausarrest - nicht als verurteilte Person, sondern als Ehefrau des inhaftierten Bürgerrechtlers Liu Xiaobo. Der Druck, der auf sie ausgeübt wird, ist enorm. Die drei schildern zur Veranschaulichung folgende Szene: "Die letzte Nachricht, die wir von Liu Xia haben, ist eine Szene, die sich vor ihrem Haus abgespielt hat: Anfang Oktober 2013 kamen mehrere Freundinnen zu ihrer Wohnung in Peking im Bezirk Haidian. Der Wohnblock wird scharf bewacht, sie konnten nur bis zu einer Absperrung vordringen. Eine von ihnen rief laut: 'Liu Xia!' Liu Xia hörte wahrscheinlich diesen Ruf, sie öffnete jedenfalls ein Fenster und schaute herab. Eine Freundin winkte und rief: 'Wie geht es Xiaobo?' Liu Xia antwortete schluchzend: 'Xiaobo geht es von unserer Familie am besten.' Dann weinte sie nurmehr. Die Freundinnen wurden von Polizisten abgedrängt und konnten nicht zu ihr gelangen."

Weitere Artikel: Stefan Schulze ermuntert zum Kinderkriegen, Kapitalismus hin oder her. Der Schauspieler Jon Voight spricht im Interview über abgelehnte Rollen, Hollywood in den Siebzigern und seine neue Fernsehserie "Ray Donovan". Jörg Michael Seewald besucht in Ungarn die Dreharbeiten zu dem Mantel-und-Degen-Epos "Altariste". Birte Carolin Sebastian begleitet einen Tag lang Chris Dercon, den Leiter der Tate Modern in London.

Besprochen werden die Ausstellung "Verwandlung der Welt. Die romantische Arabeske" im Goethemuseum Frankfurt (Bild: Moritz von Schwind, Adams Schlaf, um 1824), J. C. Chandors Film "All is Lost" mit Robert Redford in der einzigen Rolle und Bücher, darunter der - bisher nur auf Französisch erschienene - neue Band von Stéphane Heuet in seiner Adaption von Prousts "Recherche" und Vladimir Odoevskijs Roman "Der schwarze Handschuh" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).