Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.11.2001. In der SZ sucht Dan Diner die Wurzeln des Afghanistankonflikts. Die NZZ macht sich Sorgen über das Niveau der amerikanischen Universitäten. Die FAZ bringt eine Reportage des in Afghanistan getöten Journalisten Volker Handloik. Die FR beschreibt "Afghanistan als Aporie".

FAZ, 13.11.2001

Auf der Medienseite berichtet Markus Wehner über den Tod von drei Journalisten in Afghanistan. Man ließ sich auf einem Schützenpanzer der Nordallianz zu einer eroberten Stellung der Taliban mitnehmen und hielt die Situation für ungefährlich: "Eine Granate der Taliban traf den Schützenpanzer, die Taliban-Kämpfer eröffneten das Feuer aus einem Hinterhalt auf das Fahrzeug."

Unter den Toten war der deutsche Reporter Volker Handloik, dessen letzte Reportage, die imdeutsch-russischen Internetmagazin Moskau.ru erschienen war, in der FAZ abgedruckt wird: "Ich hatte mir ein Zelt am Hügel Chagatai aufgebaut. Auf der Hügelspitze hatten die Mudschahedin einige Mörser eingegraben. Gegenüber saßen Taliban-Sniper und schossen gelegentlich herüber. In dieser Nacht schmissen amerikanische B 52 Bomben-Cluster auf die Köpfe der Bösen. Die Erde wackelte. Neben meinem Iglu fiel ein Leinwandzelt der Mudschahedin zusammen."

Das angeblich so liberale Dänemark hat eine äußerst rigide Ausländerpolitik, berichtet Marc-Christoph Wagner. Nun meldet sich Mogens Glistrup, "der Altmeister des dänischen Rechtspopulismus" zurück und fordert eine weitere Verschärfung: "8000 Polizisten will er nun einstellen, um 10.000 'Mohammedaner' aus dem Land zu werfen - wohlgemerkt pro Woche. Wer nach drei Monaten nicht freiwillig gegangen sei, solle hinaus- 'kolportiert' werden, ausländische Mädchen zugunsten der dänischen Staatskasse verkauft werden." Hä???

Gerhard Stadelmaier schickt aus München, nach einer Inszenierung von "Dantons Tod" an den Kammerspielen eine der kürzesten Kritiken seiner Karriere: 29 Zeilen. In der Inszenierung werde (mit Kondom) kopuliert oder wahlweise (ohne Kondom) onaniert. Stadelmaier kommt zu dem Ergebnis, dass angesichts solcher Protagonisten "die Guillotine schon ein Segen sein" mag.

Weiteres: Jürgen Kaube fragt sich, ob angesichts des Krieges nicht auch "der Kabinettstisch längst ein Stammtisch ist, an dem ebenso freihändig wie ohnmächtig über ein unbekannt bleibendes Geschehen diskutiert wird".Christian Schwägerl beobachtet Wolfgang Clement dabei, wie er "die Tür nur einen Spalt breit" aufmacht, um israelische Stammzellen nach Deutschland zu importieren. Der Historiker Andreas Rödder berät die CDU in der Frage: "Was ist konservativ?" Der Notar Peter Rawert fordert eine Reform des Stiftungsrechts, die diesen Namen verdient. Auf der Bücher-und-Themen-Seite erinnert der Sprachwissenschaftler Helmut Glück an Eduard Engel, der im Ersten Weltkrieg eine "Entwelschlichung" der deutschen Sprache vorantrieb. Und Dieter Bartetzko zeigt am Beispiel der thüringischen Stadt Heiligenstadt, dass Man im Denkmalschutz des Guten auch zuviel tun kann.

Besprochen werden die Ausstellung "Virtue & Beauty" in Washington, Sophokles' "Elektra" in Hamburg, Willy Deckers "Walküre"-Inszenierung in Dresden, ein Festival des Nouveau Cirque in Venedig, der Berliner Open-Mike-Wettbewerb, eine Ausstellung über die Lebensreformbewegung auf Darmstadts Mathildenhöhe, Vivaldis Oper "Orlando furioso" in Prag, eine Lesung Ulrich Wickerts in Hamburg und eine Ausstellung mit Fotografien von Nan Goldin im Centre Pompidou.

NZZ, 13.11.2001

Sorgen um das Niveau der amerikanischen Universitäten macht sich Susanne Ostwald. Die Erforschung der Populärkultur sei so populär geworden, dass für die Klassiker kaum noch Raum sei: "Ein Bericht des American Council of Trustees and Alumni bestätigt: 'Die Verbannung von Shakespeare-Pflichtkursen aus dem Anglistik-Curriculum ist zur Norm geworden.' Diese Entwicklung ist so weit fortgeschritten, dass etwa das St. John's College im Magazin The New Yorker mit folgender Anzeige auf sich aufmerksam macht: 'Plato, Shakespeare, Nietzsche, Darwin: Still Teaching at St. John's along with 50 other great book authors.'"

Paul Jandl berichtet aus Wien über den Fund eines Fotoarchivs der Gestapo, in dem die von Juden geraubten Kunstwerke dokumentiert wurden: "Die in den letzten drei Jahren forcierten Anstrengungen Österreichs, geraubte Kunst an ehemalige Besitzer oder deren Erben zurückzuerstatten, könnten damit einen entscheidenden Schritt weiterkommen. Der Provenienzforschung jedenfalls steht jetzt ein Instrument zur Verfügung, das einige noch offene Fragen mit der Macht des Faktischen, der Photographie, endlich klären könnte."

Besprochen werden eine Schau internationaler Gegenwartskunst in Helsinki, Schostakowitschs Oper "Die Nase" in Lausanne, ein Konzert unter Valery Gergiev in Zürich und einige Bücher, darunter Christian Hallers Roman "Die verschluckte Musik" (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 13.11.2001

Bernd Ulrich konstatiert bei Deutschlands organisatorischen Vorbereitungen auf einen Krieg einen eigentümlichen Widerspruch: zwischen der Praxis westlicher Gesellschaften, ihre "Lizenz zum ... Töten" an Spezialisten zu delegieren, und der "Sprache ihrer politischen Legitimation". Deren gesellschaftlicher Einfluss sei zwar noch kaum erforscht. Doch die amerikanische "Verpflichtungsrhetorik" mit ihrer "Zementierung einer dichotomischen Unterscheidung von Wir und Sie" sage über die Notwendigkeit dieses Krieges nichts aus. Allerdings verdeutlicht sie für Ulrich durchaus, "worauf sich Deutschland einlässt".

Für Rolf Paasch dagegen bilden die Einsatzberichte und Anti-Slogans für eine politische Lösung "nur die traditionelle Folie" einer "improvisierten Anti-Terror-Kampagne". Er beschreibt "Afghanistan als Aporie", in der es nicht mehr um die "Reduktion von Komplexität", sondern "das Aushalten widersprüchlicher Zusammenhänge" gehe.

Außerdem denkt Marcia Pally über die Langsamkeit der jüdischen Weltverschwörung nach, "wo wir doch schon seit Jahrhunderten daran arbeiten". Wir werden über den Charme des Streiks an Pariser Museen informiert, und erfahren per CNN Neuestes über "Hollywood und Propaganda".

Vorgestellt wird die kulturgeschichtliche Ausstellung "Blut" im Museum für Angewandte Kunst der Frankfurter Schirn, außerdem lesen wir einen Bericht über die 25. Duisburger Filmwochen und einen Rückblick auf "Blue Moon", eine Art Architekturevent zum Anfassen in Groningen.

Besprochen werden das inzwischen fünfte Album von Stereo Total (hier ein kurzer Ausschnitt aus "Liebe zu Dritt", Real Player), außerdem eine Inszenierung von "Dantons Tod" in den Münchner Kammerspielen, eine Matinee für Einar Schleef am Berliner Ensemble und Roland Schimmelpfennigs "Push up 1-3" an der Berliner Schaubühne.

TAZ, 13.11.2001

Die taz beschert uns heute einen Rezensionsreigen. Besprochen werden Wilhelm Genazinos Roman "Ein Regenschirm für diesen Tag", Mario Bellatins bisher einziger ins Deutsche übertragene Text "Der Schönheitssalon", Tahar Ben Jellouns Innenansicht eines marokkanischen Gefängnisses "Das Schweigen des Lichts" und ein Bildband des Fotografen Nick Waplington. Vorgestellt werden außerdem die CDs "Crazy Times I + II" von C.D. Payne mit ihrem Helden Nicky Twisp.

Des weiteren setzt sich Harald Fricke sehr ausführlich mit einer Ausstellung der Berliner Konzeptkünstlerin Maria Eichhorn in der Kunsthalle Bern auseinander, Ralf Sotschek porträtiert den irischen Autor Ronan Bennett, und Falko Hennig stellt den Jugendpsychiater und Schriftsteller Jakob Hein vor, der gerade sein erstes Buch "Mein erstes T-Shirt" veröffentlicht hat.

Der Redaktionsmediziner Gerrit Bartels schließlich klärt darüber auf, was alles bei Milzbrand hilft, respektive dagegen wirkt.

Und hier wie gewohnt: Tom.

SZ, 13.11.2001

Die SZ ist heute äußerst themenreich. Der Historiker Dan Diner (mehr hier) analysiert die historischen Wurzeln des Afghanistankonflikts. Sie datieren für ihn zeitlich gesehen im Jahre 1947 und sind inhaltlich die Folgen einer "fehlgeleiteten Dekolonisierung". Diner zeigt, wie mit den beiden Teilungen Indien/Pakistan und Israel/Palästina der Islamismus als gleichermaßen politischer und religiös bedingter, anti-modernistischer Reflex entsteht - der quasi kreuzweise, je nach aktuellem Konflikt und Bedarf, mobilisiert wurde und wird.
Weitere Themen und Texte: Willi Winkler würdigt den 25. Jahrestag der Ausbürgerung Wolf Biermanns aus der DDR; die Humboldt-Stiftung diskutierte in Kairo über den Dialog der Kulturen; Jakob Augstein hat eine Diskussionsveranstaltung in Berlin besucht, auf der u.a. Erhard Eppler, Günter Grass und Oskar Negt uneingeschränkte Solidarität übten; und der Arzt Ernst Augustin betrauert "Das blutige Herz Afghanistans". Außerdem hält Burkhard Hirsch eine Laudatio auf den Schriftsteller und Psychoanlytiker Arno Gruen, der sich im Gegenzug für die Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises bedankt.

Für die Kinoabteilung schreibt Fritz Göttler über die zu erwartende Marketingorgie anlässlich des bevorstehenden Starts von "Harry Potter" (mehr hier), gelobt wird Nenad Djapics Film "Newenas große Reise" und eine Kurzkritik erfährt "Die grüne Wolke" nach dem Buch von Alexander S. Neill.

Weiter geht es mit Büchern: mit Klaus Krügers kunstgeschichtlichen Einkreisungen des Unsichtbaren in der Renaissance, einer Rezension des Debüts von Jakob Hein "Mein erstes T-Shirt", Ingolf Pleils Untersuchung der unguten Gängelung von Dynamo Dresden durch die Stasi und einem Hinweis auf Johannes Willms' Buch "Die deutsche Krankheit". Hierher passen jetzt gut die Links zu drei Notizen: zu einer Rede unserer Bundesbildungsministerin, die die Habilitationsschrift abschaffen will, zur "Bibliothek der Forschungsabteilung Judenfrage in München 1936-1945" und zu einem bisher unbekannten Manuskript von Thomas Bernhard.

Auf der Bühne wurden die Büchner-Inszenierung "Dantons Tod" in München besichtigt, ebenso die "Penthesilea" in Frankfurt, die Uraufführung von Roland Schimmelpfennigs "Push up 1-3" in Berlin und schließlich eine "Walküre" in Dresden.

Abschließend können wir uns einem Ausstellungsbericht über "Radical Fashion" in London zuwenden, und zu wirklich guter Letzt einem Nachklapp auf das Festival "Music Unlimited" im österreichischen Wels. Uff.