Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.11.2002. Der Großscheich der Al Azhar-Universität Kairo, Dr. Mohamed Said Tantawi, erklärt in der FAZ, warum Terroristen keine Märtyrer sind, der palästinensische Terror aber gerechtfertigt ist. Die FR sieht eine Renaissance der Sowjetzeichen in Russland. Die taz sprach mit der Edith Piaf der Neurophysiologie: dem Biologen Humberto Maturana. In der SZ hofft Slavenka Drakulic, dass der kroatische General a.D. Janko Bobteko nach Den Haag ausgeliefert wird.

FAZ, 30.11.2002

In die Menschlichkeit des Islams und die Feinheiten der Märtyrerkunde wird heute - wie immer in der FAZ - von "höchster Stelle" eingeführt, vom Großscheich der Al Azhar-Universität Kairo, Dr. Mohamed Said Tantawi. Fast die ganze erste Seite hat das Feuilleton seiner Erklärung zur Menschlichkeit freigeräumt, in der es unter anderem heißt: "Wir sind nicht damit einverstanden, daß sich jemand inmitten unschuldiger Menschen, Frauen und Kinder in die Luft sprengt. Wer sich aber inmitten von Soldaten, die ihn töten wollen, oder inmitten einer Armee, die seine Heimat vergewaltigt, in die Luft sprengt, ist ein Märtyrer." Denn, wie Tantawi schreibt, die israelische Kriegsmaschinerie raube das Territorium der Palästinenser und beflecke islamische Heiligtümer, während der "palästinensische Widerstand" sich darauf konzentriere, "die Durchsetzung der verabschiedeten UN-Resolutionen zu erwirken". Ach ja, der tyrannisierende, gewaltsame und grundlose Angriff auf das arme und wehrlose afghanische Volk, "ohne dass Ermittlungen zu den Geschehnissen vom 11. September 2001 aufgenommen worden waren", ist natürlich ganz und gar nicht gerechtfertigt. Seltsam, dass die FAZ dies unter der Überschrift zusammenfasst: "Wer Unschuldige tötet, ist kein Märtyrer". 

Andreas Kilb verteidigt Jörg Friedrichs Buch über den Bombenkrieg "Der Brand" gegen seine vor allem britischen Kritiker. Zwar ebne Friedrich tatsächlich die "moralische Unterscheidung zwischen Churchill und Hitler" ein, doch sei "Der Brand" nicht Anklage gegen den einen oder anderen Kriegherrn, sondern eben gegen den Bombenkrieg. Kilb: "Nicht dass das deutsche Trauma irgendein Recht hätte, sich tiefer als die Traumen (!) anderer Völker zu dünken. Aber es hat ein Recht, ausgesprochen zu werden."

Weitere Artikel: Ernst Horst berichtet von einem Vortrag des Heidelberger Ägyptologen Jan Assmann (mehr hier) über den Iconic Turn, die Wende zur Bildlichkeit in der Schriftkultur der alten Ägypter. Joseph Croitou hat beim Blättern in osteuropäischen Zeitschriften verfolgt, wie moldavische Schriftsteller ihre Position zwischen Tradition und Postmoderne suchen. Zum 200. Geburtstag würdigt Tilman Spreckelsen ausführlich den "literarischen Unternehmer und Märchenerzähler" Wilhelm Hauff. Bernd-A. Rusinek untersucht Rektoratsreden aus dem 19. Jahrhundert und bescheinigt Ihren Magnifizienzen viel Geist, viel "universitas" und ein gehöriges Maß an Respektlosigkeit. Gina Thomas begutachtet die neue Dependance der Queens Gallery in Edinburgh, und Erwin Seitz bestaunt über das restaurierte Schloss des Deutschen Ordens in Wolframs-Eschenbach.

Auf der Medien-Seite feiert Hans-Dieter Seidel Hannelore Elsner, ihren "letzten Film" und die unerhörte Kühnheit, während "miha" beklagt, was RTL mit seinen abgeschmackten Witzen und primitiven Anspielungen "bei der Jugend anrichtet".

Besprochen werden die Ausstellung "Mensch und Tier" im Dresdner Hygiene-Museum, Robert Carsens "Siegfried"-Inszenierung in Köln sowie Schallplatten: Messiaens "Transfigurationen", Ravels "Cantates de Rome" und das Live-Album "Blue Wild Angels" von "Herzensbrecher" Jimi Hendrix und Bücher: die endlich abgeschlossene Proust-Werkausaugabe, Hörspiele mit Marlene Dietrich und Dieter Wellershoff "Liebeswunsch" auf CD.

Zum 1. Advent bespricht Henning Heske in der Frankfurter Anthologie das passende Rilke-Gedicht:

"Advent
Es treibt der Wind im Winterwalde
die Flockenherde wie ein Hirt,
und manche Tanne ahnt, wie balde
sie fromm und lichterheilig wird;
und lauscht hinaus. Den weißen Wegen
streckt sie die Zweige hin - bereit,
und wehrt dem Wind und wächst entgegen
der einen Nacht der Herrlichkeit."

FR, 30.11.2002

Oh Diana, seufzt James Woodall und preist in einem langen Essay (Vorabdruck aus dem Jubiläums-Kursbuch 150 "König und Königin"), wie sie dem vormals so starren England mitsamt dem Königshaus neues Leben eingehaucht hat. Ganz nebenbei analysiert er die englischen Befindlichkeiten und gesteht uns seine zweite Liebe - zu Deutschland. "Die Deutschen lieben, was sie haben - dicke Autos, tolle Musik und Wurst, riesige Flächen unverfälschter Natur -, aber auch, irgendwo in einem wunderlichen, unausgesprochenen Winkel ihrer Seele, das, was sie nicht haben und nie haben werden: ein Königshaus zum Beispiel. Sie lieben die Königshäuser anderer, vor allen die europäischen, über alle Maßen das der Briten. Darin sind sie wie die Amerikaner, nur intelligenter."

Der russische Präsident Putin weiß offensichtlich, wie mächtig Symbole sein können. Deshalb hat er den Tartaren jetzt verboten, statt der kyrillischen Schrift die lateinische zu verwenden. Überhaupt gibt es eine Renaissance der Sowjetzeichen, schreibt Karl Grobe. "Den Traditionalisten, die am vorrevolutionären Russland hängen, wurde der doppelköpfige Adler der Zaren als Symbol gewährt; den Demokraten erkannte die Zentrale die weiß-blau-rote Staatsflagge zu. (...) Jelzin, im Kampf gegen das ancien regime Russlands Fahne schwenkend, ist ein unvergessenes Bild. Jelzin - der war ja nicht nur schlecht, ging später nur leider Irrwege."

Weitere Artikel: Vito Avantario schreibt wehmütig vom Untergang der alten mächtigen Männer Italiens um den distinguierten Gianni Agnelli und dem Aufstieg der neuen Generation a la Berlusconi. Renee Zucker bekennt in ihrer Zimt-Kolumne Sympathie für Frank Bsirske und seinem Verdi-Chor, weil es sonst gar nichts mehr zu lachen gäbe. Eva Schweitzer erklärt, warum die Graham-Greene-Verfilmung "The Quiet American" nur in wenigen Kinos läuft - und das, obwohl Michael Caine die Hauptrolle spielt. "DaK" verabschiedet sich von dem Theater- und Filmschauspieler Daniel Gelin (mehr hier). Schließlich unternimmt Christian Thomas einen langen Ausflug in die Schwäbische Alb, um nach Spuren von Wilhelm Hauff zu suchen, der heute zweihundert Jahre alt geworden wäre.

Besprochen werden die Uraufführung von Kai Hensels "Wege in den Dschungel" in Dresden und Bücher, unter anderem eine Erzähl-Anthologie von jungen Autoren oder Hartmut Langes Essayband "Irrtum als Erkenntnis" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Im Magazin schreibt Stefan Rathgeb aus dem Todestrakt im texanischen Huntsville. Rathgeb portärtiert Helen, die zweimal im Jahr aus der Schweiz nach Texas fliegt, um den Todeskandidaten Robert zu treffen, ihren Brieffreund. "Ich möchte, dass du aufstehst, dich umdrehst, bittet Robert, er bewundert Helens Kleidergeschmack. Leuchtende Farben, weil sie doch sonst so viel Grau haben. Ich danke dir für alles, was du für mich tust, sagt Robert. Die schwarzen Stiefel hat er nicht mal bemerkt, wird Helen später sagen, draußen. Wird sich geschlagen fühlen wie nach jedem Besuch und müde. Wird sich fragen: Was mach' ich da eigentlich?"

Ansonsten plaudert Schauspielerin, Oscarpreisträgerin und neues Bond-Girl Halle Berry über den Fluch der eigenen Schönheit und andere Schicksalsschläge. Ronald Reng stellt das deutsche Gymnasium im rumänischen Herrmannstadt vor, wo viele Rumänen auf eine Zukunft in Deutschland hoffen. Und Stephan Hilpold hat den nationalen Opern-Oberlehrer der Österreicher Marcel Prawy besucht, der seit Jahren im Wiener Nobelhotel Sacher residiert.

TAZ, 30.11.2002

Bernhard Pörksen unterhält sich mit Humberto Maturana (kleines taz-Porträt , mehr im Netz hier und hier), dem Biologen und Erfinder der autopoietischen Systeme über die Verbindung von Wissenschaft und Philosophie, wie nahe sich Philosophie und Ideologie sind und seine eigene Berühmtheit. "Natürlich hat sich mein Alltag durch die Euphorie, mit der man meine Arbeiten aufnahm, ein bisschen verändert; es gab zahllose Einladungen, irgendwer nannte mich einmal die Edith Piaf der Neurophysiologie. Ganz grundsätzlich gesprochen würde ich allerdings sagen, dass ich in vielen Bereichen eher ein vorbeiziehender Stern war, denn der Enthusiasmus Einzelner ist immer von begrenzter Dauer, das geht vorbei."

Auf der Medienseite zu lesen: Clemens Niedenthals Sottise über die Zeitgeistprobleme der Zeit und ein Lagebericht von Oliver Hinz zur bayerischen Günther-Koch-Affäre, in der der Intendant des br jetzt die CSU entscheiden lässt.

Besprochen werden Oliver Hirschbiegels selbstreflexiver "Mein letzter Film" mit Hannelore Elsner und Missy Elliotts neues Album "Under Construction".

Im tazmag porträtiert Dominic Johnson Ruanda (Hintergrund), das sich nun, acht Jahre nach dem Bürgerkrieg, eine neue Verfassung geben will. Ob sich das Land aber jemals erholen wird, ist noch ungewiss, meint Johnson. "Ruandas Hauptproblem ist, dass alle Herausforderungen auf einmal bewältigt werden müssen: Ohne wirtschaftliche Erholung ist Frieden in der Region nicht möglich - und umgekehrt. Ohne Demokratisierung kann Entwicklung nicht funktionieren - und diese hängt vom Frieden ab. Sollte Ruanda diesen Teufelskreis durchbrechen, könnte es den düsteren Ruf eines Landes der Massengräber durch den eines positiven Entwicklungsmodells ersetzen."

Weiteres: Regina Frey untersucht die Thesen der populären Gender-Spezialisten Allan und Barbara Pease. Malte Oberschelp grübelt, ob das mit dem Fußball in den USA (Hintergrund) jemals etwas werden wird - die Frauen sind zu dominant.

Schließlich TOM.

SZ, 30.11.2002

Janko Bobteko, General a.D. der kroatischen Armee, forderte kürzlich im Fernsehen, ihn nicht nach Den Haag auszuliefern, wo ihm eine Anklage wegen Kriegsverbrechen droht. "Es war ein armseliger Versuch, sich über das Gesetz zu stellen", meint die kroatische Schriftstellerin Slavenka Drakulic, "aber die Aussage war deutlich: Die Kroaten sollten nicht dem Druck nachgeben und ihn ausliefern, selbst wenn sie wegen der möglicher Weise aus dieser Weigerung resultierenden UN-Sanktionen 'Gras fressen' müssten." Eine Auslieferung Bobtekos würde wahrscheinlich "den Zusammenbruch der Regierung" bedeuten, schreibt Drakulic. Doch hofft sie, dass jetzt wenigstens in Kroatien über die eigenen Kriegsverbrechen diskutiert wird.

Morgen, am Welt-Aidstag, wird Afrika wieder seinen kurzen Auftritt haben, ansonsten haben wir es vergessen, klagt Alex Rühle. Besserung für den geplagten Kontinent ist nicht in Sicht. "Afrika findet sich in einem Taumel der Kriege, in dem jeder vierte Staat aufgehört hat zu existieren. Gleichzeitig ist Afrika mit dem Fall der Mauer politisch irgendwie unsexy geworden. 'In Nationen außerhalb unserer strategischen Interessen sollten wir unsere Truppen nicht mehr schicken, um ethnische Säuberungen zu stoppen.' Dixit George W. Bush. Afrika liegt außerhalb aller Interessen." Passend dazu verreißt Sonja Zekri eine Ausstellung über Schwarze im Dritten Reich des NS-Dokumentationszentrums Köln, die darauf baut, dass "die Konfrontation mit rassistischer Propaganda eine Immunisierung gegen Fremdenhass auslösen könnte." Tut sie nicht, meint Zekri.

Weitere Artikel: Tobias Kniebe spricht mit der iranischen Filmemacherin Samira Makhmalbaf (mehr hier) über den Episodenfilm 110901 - September 11 und das Leben als poetische Realität. Michael Ott untersucht ausgiebig, warum der Alpinismus im 20. Jahrhundert zur wahren Heimstatt der Tragödie wurde und diagnostiziert in erster Linie den vom heroischen Selbstopfer faszinierten Deutschen eine "Angst-Lust an der Katastrophe". Claudia Brosseder war zugegegen, wie Jan Assmann in München ziemlich erfolglos versuchte, das Publikum von der Vorstellung der Hieroglyphe als mystisches Sinnbild zu befreien. Reinhard J. Brembeck befürchtet, dass sich Berlin drei Opernhäuser nur mehr schlecht als recht leisten kann. "tost" hat erfahren, warum an den schwedischen Schulen das Nachsitzen abgeschafft werden soll: man will sich von den Bayern distanzieren. "jby" meldet, dass der Berliner Henschel-Verlag und E.A. Seemann in Leipzig geschlossen werden.

Fritz Göttler nimmt Abschied vom französischen Schauspieler Daniel Gelin. "Aber" kann sich noch nicht so richtig an die neuen Münchner U-Bahn-Züge gewöhnen, wegen der Sitzbänke, die längs zur Fahrtrichtung angebracht sind. "Bha" erklärt in seiner kleinen Farbenlehre Rot zur neuen Reizfarbe der Deutschen und weiß, dass aus Rot-Grün Grau wird. "Mea" dokumentiert den Drogendiskurs von Helge Schneider und Stefan Raab.

Besprochen werden Neil LaButes Romanverfilmung "Besessen" mit Gwyneth Paltrow, eine Ausstellung über das deutsche Malergenie "Grünewald" in Aschaffenburg, eine weitere über den Amateur-Astronomen Otto von Guericke in Magdeburg, und last not least die Eröffnungsausstellung des Architekturmuseums der TU in der Neuen Pinakothek in München, und natürlich Bücher, darunter Dieter Fortes Luftkriegserinnerungen "Schweigen oder Sprechen", Cees Nootebooms Geschichten über Spanien oder Helmut Newtons Autobiografie (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

In der SZ am Wochende sieht uns Robin Detje auf dem besten Weg in die Weltliga der Hysteriker. "Die gesamte deutsche Bevölkerung wurde in den Krisenstab berufen. Bei Redaktionsschluss dieser Seiten ist noch ungewiss, wie unser Land am Wochenende aussehen wird. Nichts ist unmöglich. Wird eine Delegation des Deutschen Historikertages den Reichstag in Brand gesetzt haben, während die Studentenverbände sich in Vorbereitung der Rentenrevolution mit Bahnsteigkarten eindecken? Kommt es zu ersten Pogromen? Werden FAZ-Redakteure massenweise Rentner überfahren, langhaarige zuerst, zur Entlastung des Systems bei gleichzeitiger Sicherung ihres Lebensstandards im Alter?"

Ansonsten lesen wir Birks Meinhardts Begegnung mit dem russischen Aussiedler Wolodja, der aus dem ewigen Eis in das Land der rechten Winkel und ins Aussiedlerheim Wetzlar gekommen ist. Detlef Esslinger schildert das schwere Leben der Bundesliga-Schiedsrichtern an sich und Herbert Fandels im Besonderen. Und Thomas Steinfeld hat sich mit Nils Landgren unterhalten, der an der schwedischen Ostseeküste modische Knobelbecher trägt und als einer der wichtigsten Jazzposaunisten der Welt gilt.

NZZ, 30.11.2002

Die NZZ bietet heute im Netz nur ihre Ausgabe von gestern. Ist in der Schweiz etwa Feiertag?

10.54 Uhr. Nun ist sie doch im Netz. Hier eine Zusammenfassung in aller Kürze:

Karin Kneisel berichtet über das von Unesco und der Regierung Libanons in Byblos eingerichtete Institut für Sozialwissenschaften, das Centre International des Sciences de l'Homme. Es soll sich mit den Zusammenhängen von Kultur und Demokratie befassen und Forschungsprojekte zur politischen Kultur von Libanon über Indonesien bis Südafrika verfolgen. Claudia Schwartz begutachtet den Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche. Felix Philipp Ingold stellt Neues von Vladimir Nabokov in russischen Textausgaben vor.

Besprochen werden eine Wiener Ausstellung über Guatemala und Bücher, darunter Muriel Sparks Erzählband "Hundertundelf Jahre ohne Chauffeur" und Peter Haffners polnische Reportagen.

In der Wochenendbeilage Literatur und Kunst schreibt Elsbeth Gut Bozzetti über Archiv und Bibliothek des ehemaligen Rektors der Universität in Urbino, Carlo Bo. Rudolf Suter stellt uns die "Sophie-Texte" Hans Arps vor. Und Victor Ravizza schildert die Begegnung zwischen Johannes Brahms und Anselm Feuerbach 1865 in Baden-Baden.