Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.12.2002. Die Zeit entlarvt Harry Potter als potenziellen FDP-Vorsitzenden. Die FAZ fordert Erbarmen mit der Bahn. Die FR analysiert die Lage Europas mit Kant. Die NZZ bebaut den Ground Zero. Die SZ legt einen Schwerpunkt auf die deutsch-türkischen Beziehungen. Die taz begrüßt die neue Nekrophilie und gibt Anregungen zur Weihnachtszeit: "Das entfleischte Rippengehäuse des Großvaters könnte als Messerhalter dienen."

Zeit, 18.12.2002

Aufsehenerregende Enthüllungen bringt der Aufmacher des heutigen Zeit-Feuilletons. Nach eingehenden Analysen des Film- und Ideologiekritikers Georg Seeßlen (mehr hier) stellt sich nämlich heraus, dass es sich bei Harry Potter und dem Herrn der Ringe um Veranstaltungen eines gnadenlosen Kapitalismus sowie amerikanischer Kriegslüste handelt: "Potter verwandelt ein fast schon aufdringlich Dickenssches Kinderschicksal in die Lebensstrategie des jungen Karrieristen.... Hierzulande würde es jedenfalls kaum wundern, wenn Harry Potter als FDP-Vorsitzender von Westfalen-Lippe wieder auftauchen würde." Und "in der Welt von 'Der Herr der Ringe' .. werden Kriege geführt, in denen die Guten und die Bösen auf eine Weise voneinander geschieden sind, als hätten sie George Bush junior und kalifornische Visagisten gemeinsam erfunden." In der nächsten Ausgabe geht's wahrscheinlich dem Weihnachtsmann an den Kragen.

Im Iran steht auf das Anprangern von Ersatzreligionen noch die Todesstrafe. Das Zeit-Feuilleton veröffentlicht eine Rede des Historikers Haschem Aghadscheri, der in Teheran im Gefängnis sitzt. Er hatte für eine islamische Aufklärung plädiert: "Die religiösen Führer haben uns gelehrt, dass es ein Verbrechen sei, den Koran auf eigene Faust auszulegen. Sie fürchteten wohl, dass ihre Zunft daran kaputtgehen würde, dass die Jungen lernten, den Koran selbst zu lesen." Verwiesen wird af die Adresse des Middle East Media Research Institute, wo die Rede ungekürzt nachzulsen ist.

Weitere Artikel: Katja Nicodemus wehrt sich gegen einen von Hilmar Hoffmann vertretenen Vergleich Leni Riefenstahls mit Sergej Eisenstein (weil der Kommunismus doch irgendwie ein Humanismus war?) Der Historiker Christian W. Thomsen erzählt eine kleine Kulturgeschichte des Kannibalismus. Tilman Baumgärtel beklagt, dass das kulturelle Erbe der Computerspiele kaum archiviert wird (nennt aber immerhin verdienstvolle Internetadressen wie Classic Trash und Atari Age). Und Klaus Harpprecht (mehr hier) freut sich über die Wiederauferstung der föderalistischen Gironde in Gestaltdes neuen französischen Premierministers Jean-Pierre Raffarin und seiner Dezentralisierungspläne.

Besprochen werden eine Zürcher Dreifachausstellung über das schöne Thema der "Liebeskunst" (mehr hier), eine Hamburger Ausstellung über Picasso und die Mythen, Marius Petipas "Tempeltänzerin" an Berliner und Hamburger Opern und die Ausstellung "Science + Fiction" in Hannover.

Aufmacher des Literaturteils ist Gabriele Killerts Rezension eines Bandes über den Zeichner F. K. Waechter. (Siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr). Im Essay des Politikteils fragt Norbert Seitz, "warum deutsche Politiker nicht von Nazivergleichen lassen können". Der Leben-Teil ist der Dunkelheit gewidmet und beginnt mit einem Essay des Soziologen Mike Davis ("City of Quartz") über eben dieses Thema.

FAZ, 18.12.2002

Im Aufruf eines verzweifelten Liebhabers schlägt sich der Schriftsteller Burkhard Spinnen (mehr hier) auf die Seite der Bahn und fordert, Erbarmen zu zeigen. All die Kritik, die sich jetzt über der Bahn ergieße, wolle im Grunde nur die schmerzliche Gefühlslücke füllen, die die Abschaffung der Dampflokomotiven gerissen habe. Seitdem nämlich werde gemeckert, meist grundlos: "Die aktuelle Debatte zeigt erneut, dass es nur ein einziges kompaktes Bild der Bahn in der Öffentlichkeit gibt: das des Sündenbocks und Lückenbüßers für all die Unerträglichkeiten der avancierten Beförderungssysteme Auto und Flugzeug. Man will von der Bahn nicht etwas, geschweige denn etwas Bestimmtes, mit dem sich rechnen ließe, sondern immer all das, was die anderen von Fall zu Fall verweigern: mal Sicherheit, mal Pünktlichkeit, mal Schnelligkeit, mal Sparsamkeit, mal Menschenwürde. Und da wir all dies und noch viel mehr von unseren besten Gefühlen den anderen Transportsystemen täglich opfern wie gefräßigen Götzen, bleibt nichts, das wir der Bahn noch geben könnten. Keinen Vorschuss etwa an Vertrauen. Und nicht einmal das mindeste: einen Hauch von grundloser Liebe."

Eberhard Rathgeb liefert Impressionen von der Versöhnungsfeier zwischen dem Kanzler und Sigmar Gabriel in Oldenburg. Vor allem der Auftritt Gabriels scheint ihn besonders beeindruckt zu haben: "Gabriel posaunt und donnert und schmettert und flötet auch manchmal leise - der erste Opernsänger in der Politik. Dafür braucht er kein Manuskript. Das trägt er alles in seinem Herzen, und das Herz, das pocht unter der Oraniergedenkkrawatte. Mit dem so gewonnenen Geld dürften nicht die Schulden im Haushalt gestopft werden. Gabriel selbst steht vor den schwarzen Schuldenlöchern wie ein Wächter. An ihm vorbei wird kein Cent rollen und ins Loch hineinkullern."

Weitere Artikel: Andreas Kilb annonciert den vermutlich erfolgreichsten Film des kommenden Jahres, den zweiten Teil des "Herrn der Ringe", als gigantischen Themenpark, Richard Kämmerlings spricht mit dem Verleger Michael Klett, dem der Tolkien-Boom ein schönes Geschäftsjahr beschert hat. Jorda Mejias fragt sich, wer warum die Pläne des Pentagons, jetzt auch in Deutschland zur psychologischen Kriegsführung überzugehen, wohl ausgeplaudert hat, kommt aber zu keinem Ergebnis. Andreas Rossmann gratuliert dem englischen Dramatiker Christopher Fry zum fünfundneunzigsten Geburtstag. Heinz Berggruen plaudert über sich, Picasso und Matisse.

Auf der Medien-Seite weiht Alexander Bartl in die Finessen und Vertracktheiten des Google-Algorithmus ein, des Page-Rank und des neuen Nachrichtenportals.

Auf der Stil-Seite erfahren wir von Dominik von Glass, warum Saddam immer dafür sorgt, dass etwas passiert, "Die moderne Hausfrau" aber immer verhindert, dass etwas passiert (Öl von den Oliven tropft, Wühlmäuse kommen, Rouladen auseinanderfallen). Julia Schümann hilft bei der Kunst des Entkorkens.

Klaus Wagenbach erzählt von Kafka Fabriken (mehr hier) und wie dieser für die Arbeiter-Versicherungsanstalt von Prag böhmischen Unternehmern den Unfallschutz erklärte. Henning Ritter stellt das kambrische Fossil "Hallucigenia" vor. Jörg Magenau berichtet von einem Abend mit Imre Kertesz, Peter Nadas, György Konrad und Peter Esterhazy, die offenbar noch sehr auf ihren Individualismus pochen konnte, es nützte nichts - sie waren "Ungarn in Berlin".

Besprochen werden: Ernst Kreneks Jazzoper "Johnny spielt auf" von Günter Krämer und Seiji Ozawa, eine Schau mit Fotografien von Thomas Struth im Museum of Contemporary Art in Los Angeles, eine Ausstellung von Goethe-Devotionalien im Frankfurter Goethe-Museum. Und Bücher: Das Zuckmayer-Jahrbuch und Günter Erbes Geschichte der "Dandys" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 18.12.2002

Bei Immanuel Kant setzt der Bielefelder Historiker Christian Geulen an, wenn er die politische und gesellschaftliche Lage Europas analysiert. Zwei entgegengesetzte Einstellungen zu Europa hat er ausgemacht, die ökonomische und die, deren "Vertreter man die Herzenseuropäer nennen kann. Dieses Europa will mehr sein als nur ökonomisches Kalkül und sich zugleich enger definieren als über einen prinzipiell globalen Universalismus. Es ist das Europa derjenigen, welche die Festlegung seiner Außengrenzen fordern und zugleich nach seiner inneren Identität fragen." Die Lösung liegt für Geulen jenseits der beiden Lager. "Nicht die Frage, was europäische Identität, europäisches Gemeinschaftsgefühl oder Europas Außengrenzen sind, nicht die Frage wie - mit anderen Worten - ein europäisches Vaterland aussehen könnte, sollte dabei im Vordergrund stehen, sondern die Frage, was Europas nationale, regionale, kulturelle, soziale oder religiöse Partikularitären zusammenhält ohne sie aufzulösen - diesseits des rein Ökonomischen und jenseits projizierter Quasi-Gemeinsamkeiten."

Nicolas Steman kommt nichtsahnend aus dem Urlaub und findet ein Deutschland in der Krise: "In meiner Wohnung hatte sich während meiner Abwesenheit eine Gruppe von Rentnern aus dem städtischem Altersheim einquartiert, die allerdings noch erstaunlich gut gekleidet waren, verglichen mit all den mittelständischen Ex-Unternehmern, die die (ehemaligen) U-Bahnschächte bevölkerten."

Weiteres: Ulrich Clewing warnt davor, in Zukunft die kulturellen Einrichtungen Hessens mittels der sogenannten "Neuen Verwaltungssteuerung" (hier die amtliche Erklärung) zu führen, also wie private Unternehmen. Anton Thuswaldner fand ein Salzburger Symposium zu Peter Handke zu akademisch. Ulf Meyer verabschiedet wehmütig das alte Bayer-Hochhaus, die "Aspirin-Schachtel" in Leverkusen, und wartet zugleich sehnsüchtig auf den Neubau von Helmut Jahn (eine Auswahl seiner Gebäude). Gemeldet wird der Tod des Konstruktivisten Heinrich Siepmann (mehr hier) und die Fortsetzung des Berliner Operndramas. "H.K.J." wandelt in Times mager irritiert durch die weihnachtlichen Straßen, wo es an jeder Ecke dudelt. Susanne Raisch hat sich in der Justizvollzugsanstalt Wiesbaden "Zwischen den Zeilen" angesehen, einen von Häftlingen im Rahmen einer Gewalttherapie produzierten Film.

Besprochen werden Peter Jacksons zweiter "Herr der Ringe", Installationen von Jessica Stockholder in Duisburg und Düsseldorf, Ernst Kreneks Zeitoper "Jonny spielt auf" in Wien, Hector Berlioz' Oratorium "L'Enfance du Christ" in Mainz und ein Abend mit Folk-Punk Vertreter Alejandro Escovedo in Frankfurt. Angekündigt wird schließlich Andre Previns Oper "Endstation Sehnsucht" in Gießen.

NZZ, 18.12.2002

Heute werden in New York einige neue Entwürfe für die Bebauung des Ground Zero vorgestellt, berichtet Werner Oechslin. Sieben Architektenteams sind von der Lower Manhattan Development Corporation (LMDC) gebeten worden, ihre Projekte einzureichen. "Nun sind deren Pläne, Modelle und Videos vergangene Woche abgeliefert worden... 'Spione' haben schon mal von einem Zickzack-Wolkenkratzer Daniel Libeskinds berichtet. Norman Foster ließ auf Anfrage mitteilen, 'New York verdiene etwas Großes'. Der besondere Ort rufe nach einer 'Ikone'. Das überrascht alles nicht. Im Vorfeld hielt jetzt die Daily News, die sich 'New York's Hometown Newspaper' nennt, den New Yorkern die Petronas Towers in Kuala Lumpur unter die Nase und forderte unmissverständlich dazu auf, den alten Wettbewerb um den höchsten Turm nicht nur wieder aufzunehmen, sondern ihn auch zu gewinnen." Oechslin selbst favorisiert - in Unkenntnis der streng geheim gehaltenen Entwürfe - eine Gruppe um Richard Meier und Peter Eisenman.

Weitere Artikel: Joachim Güntner analysiert die missliche Lage der deutschen Stadttheater. Paul Jandl schildert das Verhältnis der österreichischen Intellektuellen zu den Grünen. Besprochen werden der zweite Teil der Verfilmung des "Herrn der Ringe" und einige Bücher, darunter Untersuchungen Marc Andre Charguerauds über die katholische Kirche und den Holocaust, die bisher nur auf französisch vorliegen, sowie eine Auswahl des iranischen Dichters Ahmad Shamlu und der neue Roman des Mexikaners Jorge Volpi.

TAZ, 18.12.2002

In dieser besinnlichen Zeit macht sich Systemtheoretiker Peter Fuchs Gedanken zum Tod, zu technisch meisterhaft inszenierten Nekrophilien a la "Herr der Ringe", zum jesuitischen Kadavergehorsam und zu Gunter von Hagen, der plastinierte Leichen ausstellt und damit eine vorläufige Grenze überschreitet. "Später kann man nach weiteren Enttabuisierungen dazu übergehen, die Plastinate als stumme Butler einzusetzen, die Schwiegermutter als Schirmständer etwa oder die Ehefrau als Schmuck der Bar. Das entfleischte Rippengehäuse des Großvaters könnte als Messerhalter dienen. Schubläden für allerlei Kram ließen sich in das Plastinat des Ehemannes einbauen. Sogar einzelne Leichenteile wären gesondert verwertbar, Hände als Türgriffe, Beine als Tischuntergestelle, Köpfe als Kannenwärmer."

Weiteres: In der Jazzkolumne stellt Christian Broecking die Wiedergeburt des mittelständischen Jazz vor, Jason Moran aus New York, der seine Musik auf seiner Homepage zum Download anbietet. Und auf der Tagesthemenseite bringt uns Matti Lieske die Halbgötter in Weiß des nun 100-jährigen Fussballmythos Real Madrid näher.

Besprochen werden Peter Jacksons zweiter "Herr der Ringe", die Jan Fabre Retrospektive "Gaude succurrere vitae" im belgischen Gent sowie ein "Jiddisch"-Wörterbuch.

Und schließlich Tom.



SZ, 18.12.2002

Türkei-Schwerpunkt heute in der SZ: Die junge deutschtürkische Elite der zweiten und dritten Generation hat im Internet-Portal Vaybee eine Plattform gefunden, wo diskutiert, gestritten und kenenngelernt wird. Frank Böckelmann hat dort mehr erfahren über die größte Minderheit in unserem Land als es all die offiziellen Studien zuvor vermocht haben. "Ich habe als Vaybee!-Mitglied die Forumsdiskussionen der letzten drei Jahre verfolgt und dabei einen Klub aufgekratzter und selbstironischer Geister kennengelernt, die sich über Herkunft, aber nicht über Ankunft definieren, eine inbrünstig streitende Intelligenzija, die nicht, wie dauernd behauptet wird, 'zwischen den Kulturen' lebt, sondern von deren Auflösung zu profitieren sucht, weniger 'hybrid' als festlegungsfeindlich."

Zum Thema Deutschland und Türkei haben außerdem die Schriftsteller Georg Klein, Feridun Zaimoglu, Hans Pleschinski, Martin Mosebach und Tim Staffel kurze Texte beigetragen.

Ansonsten: Lothar Müller bricht eine Lanze für Ver.di-Chef Frank Bsirske. Der sei kein kurzfristiger Aufheizer, sondern ein Mahner mit weiter Perspektive. Franz Kotteder kondoliert der Münchner Kulturreferentin Lydia Hartl, die alle Sympathien verspielt hat und sich wohl bald auch von einem ihrer Lieblingsprojekte (es geht um Kunst im öffentlichen Raum) verabschieden muss. Fritz Göttler hat Sean Penn beobachtet, als der am Wochende zu einer Stippvisite in Bagdad eintraf. Klaus Englert porträtiert Salamanca, die europäische Kulturhauptstadt des kommenden Jahres. Lothar Müller war im überfüllten Berliner Wissenschaftskolleg, wo Imre Kertesz und Kollegen über die nicht immer leichte Beziehung von Deutschland und Ungarn sprachen. Sonja Asal schreibt zum Tode des deutsch-französischen Philosophen und Übersetzers Rainer Rochlitz. Holger Liebs verabschiedet den konstruktivistischen Künstler Heinrich Siepmann. "mea" fühlt sich an alte journalistische Traditionen erinnert, wenn jetzt täglich berichtet wird, was der "Menschenfresser" zu Mittag isst. Gemeldet wird kurz, dass in Schottland jetzt ein Canaletto-Gemälde aus dem 18. Jahrhundert identifiziert worden ist.

Auf der Medienseite empfehlen Christiane Kögel und Hans Leyendecker einen politisch brisanten Dokumentarfilm, der beweisen will, dass Tausende Taliban nach ihrer Kapitulation hingerichtet worden sind - mit dem Wissen der Amerikaner, deren Außenministerium gegen die Ausstrahlung heute in der ARD protestiert hat. Dazu ein Interview mit ARD-Chef Fritz Pleitgen.

Besprechungen widmen sich Peter Jacksons zweitem Teil des "Herrn der Ringe", einer Ausstellung über die fotografische Auseinandersetzung mit dem Christentum in Paris, der Neuaufführung von Ernst Kreneks einstiger Erfolgsoper "Jonny spielt auf" in Wien, der Eröffnungsausstellung des neuen Bucerius Kunst Forum in Hamburg, und Büchern, darunter drei Bände über das bald dreihundertjährige Sankt Petersburg, Eric-Emmanuel Schmitts kleine feine Lebenskunde "Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran", Lutz Hachmeisters Journalistenhistorie "Die Herren Journalisten" und der erste Band der Werkausgabe von Albert Drach (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).