Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.07.2003. Die SZ beschreibt die italienische Angst vor dem "colosso Germania". Die NZZ zeichnet ein dunkles Panorama des deutschen Bildungssystems. In der FR wendet sich der Literaturwissenschaftler Paul Michael Lützeler  gegen Kerneuropa. Die taz sieht die USA als erstes Opfer der Globalisierung. Die FAZ schildert verzagte Reformversuche in Saudi-Arabien.

SZ, 07.07.2003

Die Verbalausfälle Silvio Berlusconis sind Ausdruck eines deutsch-italienischen Misstrauens, das seit dem Zweiten Weltkrieg immer wieder aufflackert, erklärt Wolfgang Schieder unter Verwendung einiger historischer Anekdoten. Die Wiedervereinigung hat das Verhältnis nicht entspannt. "In Italien fürchtet man seitdem, dass Deutschland die Hegemonie in Europa beanspruchen könnte und reagiert darum häufig überempfindlich gegenüber deutscher Kritik. In Umfragen rangieren die Deutschen in Italien regelmäßig am Ende der durchschnittlichen Beliebtheitsskala, weit nach Amerikanern und Franzosen und noch nach Japanern, Briten und Russen (...) Und wenn heute auf das wiedervereinigte Deutschland angespielt wird, ist schnell vom 'colosso Germania' die Rede." Dazu passt Claudia Lanfranconis Resümee des "Dolce-Vita"-Festivals in Berlin.

Im Interview gibt Sachsens Ministerpräsident Georg Milbradt Entwarnung: Die Staatlichen Kunstsammlungen in Dresden werden nicht aufgelöst. "Wir wollen die Museumslandschaft in Sachsen fortentwickeln und verbreitern. Niemand will die Staatlichen Kunstsammlungen zerstückeln. Es gibt keine Geheimpläne. Tatsächlich gibt es Pläne für ein Haus der Archäologie in Chemnitz, das aus dem Museum für Vor- und Frühgeschichte heraus entwickelt werden soll."

Weitere Artikel: Arno Orzessek hat auf einer Tagung in Berlin gelernt, was hinter der Liebe zum Tod der palästinensischen Selbstmordattentäter steckt. "jby" begrüßt Walter Falks Wiederbelebungspläne für das vor sich hin rottende Metropol-Theater in Berlin. Und gratuliert gleich darauf dem nun zehnjährigen Einstein Forum in Berlin, eine der "glücklichen Gründungen" der frühen Neunziger. Dorothee Müller denkt über den Münchner Designparcours sowie die gestalterische Situation in Deutschland überhaupt nach. Willi Winkler stellt zunächst das schlechte Gewissen des deutschen Kapitalismus fest, um dann genüsslich darin zu baden. "Es mangelt ihm am Selbstbewusstsein, er neigt zum Geißlertum." Jonathan Fischer schreibt zum Tod des Soul-Walrosses Barry White. Außerdem lesen wir ein Gedas Gedicht "Sidi-Bou-Said" von Lorand Gaspar. "... Tout en haut des murs immobiles / un carre de bleu distraitement / nous boit." Zum Glück auch auf deutsch.

Auf der Medienseite stellt Christopher Schmidt in der Serie über Große Journalisten den Meister aller Genres Theodor Fontane. Julia Bonstein verkündet die bahnbrechende wissenschaftliche Erkenntnis, dass einem bei Sonnenschein die Lust aufs Fernsehen vergeht.

Besprochen werden die Ausstellung "Ex Oriente" in Aachen über den west-östlichen Kulturaustausch zur Zeit Karls des Großen, Amelie Niermeyers Inszenierung von Shakespeares "Wie es euch gefällt" in Freiburg, ein heldenhafter Konzertabend mit der Geigerin Arabella Steinbacher und dem Cellisten Daniel Müller-Schott, Jan Lauwers wenig geschätzte drei Frauenmonologe nebst Tanzsolo in Salzburg, Olivier Ducastels und Jacques Martineaus filmisches Tagebuch "Ma vraie vie a Rouen" (mehr hier), und viele Bücher, darunter Karl Heinz Bohrers Anleitung zum Unglücklichsein "Ekstasen der Zeit", Jutta Scherers kritische Inspektion der russsischen "Kulturologie" sowie Dirk Schümers fast schon zu realistische Beobachtungen über das "Leben in Venedig" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

NZZ, 07.07.2003

In der NZZ kritisiert Joachim Güntner heute das deutsche Bildungssystem: "Freudlosigkeit, Angst, Geringschätzung prägen die Atmosphäre." Da kriegt jeder sein Fett ab: "Wahrscheinlich beherrscht niemand die niedere Kunst des Demütigens so gut wie die deutschen Lehrer." Auch dass die Lehrer ihrerseits ständig von der Politik als "faule Säcke" und ähnliches bezeichnet würden und mit Gewalt seitens der Schüler rechnen müssen trage zur miesen Stimmung bei. Ein großes Problem sieht Güntner in der mangelnden Erziehung, welche die jungen Menschen erfahren hätten. Dafür sei sogar schon ein Begriff gefunden worden: "Erziehungswaise" - gezeugt, aber nicht erzogen. Das größte Problem sei jedoch der Umgang der Politik mit der Misere. Hier würden falsche Schlüsse aus der PISA-Studie gezogen: "Eine mangelhafte 'Lesekompetenz' hatte PISA den deutschen Schülern bescheinigt. Der Befund wäre auf die Bildungspolitiker auszudehnen."

Klaus Völker, Rektor der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin, eröffnet eine Serie über "Regie im Theater" mit dem Thema "Regietheater und Autorentheater". Die jüngeren Regisseure kommen bei Völker nicht gut weg: "Zurzeit haben leider auffällig viele nur theatertheoretisch und lediglich medienorientiert ausgebildete Regisseure an vielen Bühnen das Sagen. Sie dominieren die Schauspieler mit 'Visionen' und dekonstruktiven Konzeptionsansätzen, die eloquent popkulturelle Effekte ins Spiel bringen. Auf der Bühne gibt es kein Zusammenspiel mehr..."

Weitere Artikel: Andreas Breitenstein berichtet vom 8. Literaturfestival in Leukerbad (mehr hier) Sieglinde Geisel protokolliert ein Gespräch, das sie mit der ungarischen Schriftstellerin Zsuzsa Bank (mehr hier) geführt hat. Besprochen wird die Ausstellung der "Lindisfarne Gospels" (mehr hier), einer Handschrift aus dem frühen achten Jahrhundert in London.

FR, 07.07.2003

Der in den USA arbeitende Literaturwissenschaftler Paul Michael Lützeler erklärt, dass schon seit dem Mittelalter darüber diskutiert wird, wie Europa zu sein habe. Habermas&Co sind da nur eine weitere Aktualisierung, schreibt er, und eine kontraproduktive dazu. "Solange die europäische Einheit in vergangenen Jahrzehnten auf die Initiativen einiger Avantgarde-Staaten angewiesen war, gab es zu Kerneuropa keine Alternative. Heute aber, an der Schwelle zur Osterweiterung der EU, würden Aktivitäten eines Kerneuropa die mühsam genug errungene Einheit gefährden. Außenpolitisch muss die Europäische Union mit einer Stimme sprechen, sonst macht sie sich unglaubwürdig, provoziert Zerreißproben und kann zum Spielball anderer Großmächte werden."

Dem gerade zu Ende gegangenen Münchner Filmfestival wünscht Rüdiger Suchsland gute Besserung - mit einem neuen Chef. Denn "heute ist München, wo Hauff bis zur letzten Minute selbstherrlich wie ein kleiner König regierte, nicht mehr die eindeutige Nummer zwei unter den deutschen Festivals, sondern nur eine Filmwoche unter mehreren. Wo Hof und Mannheim mit klaren Schwerpunkten und Hamburg zumindest mit einem besseren Termin aufwarten können, verwirrt München durch Profillosigkeit."

Weitere Artikel: Für die Reihe über die Krise der Kommunen hat sich Alexander Schnackenburg im verschuldeten Bremen umgesehen, wo zaghaft in die freie Kultur investiert wird. Der König des Soft Soul ist tot, und Sandra Danicke verabschiedet den glamourösen Barry White standesgemäß. Christoph Schröder kennt in Times mager das eigentliche Ziel der Bertelsmänner, das nun offen zutage tritt: "weitreichende Dominanz in der deutschsprachigen Taschenbuchlandschaft mit all ihren Konsequenzen für Autoren, Rechteverwertung und Leser". Gemeldet wird, dass die Schriftstellerin Anne Duden den Heinrich-Böll-Preis erhält, dass die FAS sich für eine Entgleisung bei Klagenfeld-Juror und SZ-Kollege Thomas Steinfeld entschuldigt und dass in Syrien ein großes Bodenmosaik aus dem 6. Jahrhundert gefunden wurde.

Auf der Medienseite berichtet Moritz Kleine-Brockhoff über einen Krieg in Indonesien, wo das Militär seit 1976 kämpft und alle Journalisten verhaftet werden, die dem Kampfgebiet zu nahe kommen. Reinhard Lüke spekuliert, ob der Ausstieg von WAZ und Rheinischer Post bei tv.nrw das Ende des kommerziellen Regionalfernsehens in NRW bedeutet.

Die beiden Besprechungen widmen sich Steven Soderberghs kalt-liebevollem Episodenfilm "Voll Frontal" und Antonio Lobo Antunes radikal nihilistischem Roman "Einblick in die Hölle" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 07.07.2003

In einem Artikel, der in gekürzter Form aus der Zeitschrift Internationale Politik übernommen wurde, erklärt Karen Kramer, Direktorin des Stanford University Program in Berlin, die Amerikaner nicht als Urheber der Globalisierung und ihrer negativen Folgen, sondern als deren erstes Opfer. Dabei versucht sie die Gemütsverfassung in den USA auf den Punkt zu bringen. Konservativ passe nicht, schreibt sie, und "auch das schärfere Wort 'reaktionär' trifft nur bedingt zu, denn die Betroffenen greifen mit der einen Hand weit zurück, um etwas (Bibel-)Festes in der Hand zu haben, mit der andern jedoch greifen sie nach vorne, um sich zu behaupten im Wettbewerb - für zum Beispiel die Familie oder zumindest für das, was von ihr übrig bleibt, oder, genauer gesagt, für den Familiengedanken. "Die Familie" steht inzwischen sowohl für den einzigen sicheren Ort überhaupt als auch für das Gefährdete schlechthin. Werden die USA angegriffen, gilt dieser Angriff der amerikanischen Familie. Die Familie ist der schwarze Punkt in der Mitte der Zielscheibe."

Weiteres: Knut Henkel schildert, wie die Schließung des spanischen Kulturzentrums in Havanna sowie die vorhergehende Verhaftung von Dissidenten dem internationalen Ansehen der kubanischen Kunstszene geschadet hat. Gab es, fragt Tobias Rapp in seinem Nachruf, außer Barry White noch jemanden, zu dessen Liedern man wahrscheinlich gezeugt worden ist und der später von Robbie Williams oder den Beastie Boys gesampelt wurde?

Auf der Tagesthemenseite schreibt Judith Henkel über das erste deutsche Trainingslager für arbeitslose Fußballer (in Frankreich gibt's das schon länger). "Die Öffentlichkeit, gewöhnt an das Klischee vom faulen Fußballmillionär, staunt."

Besprochen werden die Uraufführung von Jan Friedhoffs Stück "Die Kinder bringen den Müll raus" in Stuttgart und das hippie-gemütliche Konzert von R.E.M. in Berlin.

Schließlich Tom.

FAZ, 07.07.2003

Nach der peinlichen Entdeckung, dass die meisten Attentäter des 11. September aus Saudi-Arabien kamen, versucht das Regime des Landes sich ansatzweise zu reformieren, berichtet Joseph Croitoru. Unter anderem dürfen sich Frauen ein wenig mehr in der Öffentlichkeit zeigen und äußern: Aber Vorsicht! "Das kann, wie inzwischen die iranische Erfahrung lehrt, nur eine Zeitlang gut gehen: Schon regt sich Widerstand, und eine aufsässige Leserin bittet die Redaktion der als eher progressiv geltenden saudischen Tageszeitung Al-Watan (Das Vaterland) um eine Antwort auf die Frage, weshalb der Schleier saudischer Frauen unbedingt schwarz sein müsse."

Weitere Artikel: Kerstin Holm würdigt den russischen Journalisten Juri Schtschekotschichin, der vor kurzem an einer rätselhaften Allergie verstarb - man vermutet, dass er vergiftet wurde, weil er Korruptionsaffären aufdeckte. Andreas Rossmann macht Vorschläge für ein "Delaytainment" durch die Bahn-Verantwortlichen im Falle einer Verspätung von Zügen. Christian Geyer liefert launig Eindrücke von einer Festveranstaltung zum vierzigjährigen Bestehen der edition suhrkamp. Ingeborg Harms blickt in deutsche Zeitschriften. Edo Reents schreibt zum Tod von Barry White. "Rh" meldet den Verkauf des Berliner Metropoltheaters, das nun doch nicht abgerissen werden soll. "hd" meldet, dass Musikdirektor Ivan Fischer die Oper von Lyon verlässt. Andreas Rossmann erzählt, dass man in Mönchengladbach eine Skulptur des Kaisers Friedrich III. vermisst (sachdienliche Hinweise hier).

Auf der letzten Seite porträtiert Jürgen Kesting den virtuosen türkischen Pianisten Fazil Say. Regina Mönch berichtet, dass ein jüngst erst auf der ehemaligen Stalin-Allee aufgestellter Gedenkstein für den 17. Juni beschmiert wurde - die dort lebende ehemalige DDR-Elite scheint nicht sehr glücklich über diese historische Erinnerung. Und Alexandra Kemmerer stellt den Völkerrechtler Joseph H. H. Weiler vor, der in dieser Woche in Florenz eine Diskussion amerikanischer und europäischer Verfassungsrechtler über die Ergebnisse des europäischen Konvents leiten wird. Auf der Medienseite untersucht Tobias Piller die Berichterstattung der italienischen Fernsehsender zu Berlusconis Ausfällen und kommt zu dem Ergebnis, dass Berlusconis Sender die Angelegenheit keineswegs zensierten, während die staatlichen Sender Angst hatten, konkret zu werden.

Besprochen werden eine Ausstellung von Georg Baselitz' Sammlung afrikanischer Kunstwerke in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, Schostakowitschs Ballett "Der helle Bach" am Bolschoi, eine Ausstellung der Historiengemälde Carl von Pilotys in der Neuen Pinakothek München, John Dews Wiesbadener "Rheingold"-Inszenierung und Marco Bechis Film "Junta" über die Zeit der argentinischen Militärdiktatur.