Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.11.2003. Walter Jens und Peter Wapnewski waren Mitglieder der NSdAP: Die FAZ ist mild und streng zugleich. In der FR veranschlagt der syrische Philosoph Sadik J. al-Azm zwanzig Jahre, um mit dem Islamismus fertig zu werden. Die NZZ besucht Patrick McGrath, den Meister des neoviktorianischen Schauerromans. Im Tagesspiegel analysiert Herfried Münkler die Selbstmordattentate als größte Bedrohung des Westens seit dem Mauerfall.

FAZ, 25.11.2003

Ein internationales Germanistenlexikon, herausgegeben von der Marbacher Arbeitsstelle für die Erforschung der Geschichte der Germanistik, hat es an den Tag gebracht: Praktisch alle Germanisten hatten seinerzeit Kontakt mit der NSdAP. Auch Germanisten, die ihre eigentliche Karriere nach dem Krieg machen, waren PGs. Die bekanntesten Namen sind Walter Jens, Walter Höllerer und Peter Wapnewski. Hubert Spiegel möchte die damals sehr jungen Männer darum nicht verurteilen: "Wer seine Jugend unter dem Regime von Hitler und Goebbels verbringen musste, sollte auf ein gewisses Verständnis rechnen dürfen, wenn er damals eine Unterschrift leistete, für die er sich wenig später geschämt haben mag." Das jahrzehntelange Schweigen über die Tatsache mag Spiegel aber nicht verstehen: "Was Jens und andere der Generation ihrer Väter zu Recht vorgeworfen haben, galt, wie wir jetzt wissen, auch für sie selbst - über die eigene Vergangenheit wurde nicht geredet."

Zum Artikel gehört ein Interview mit Christoph König, dem Herausgeber des Lexikons: "Neu ist die Erkenntnis, dass die weit überwiegende Mehrheit der zur NS-Zeit tätigen Germanisten Kontakt mit der Partei hatte. Das hat mich in dieser Dichte sehr überrascht."

Weitere Artikel: Joseph Croitoru kommt noch einmal auf eine Umfrage zurück, nach der zahlreiche Europäer Israel als Gefahr für den Frieden einschätzen und beklagt, dass dies "manchen Israelis einen Vorwand lieferte, eine Debatte über den angeblich ausufernden Antisemitismus der Europäer loszutreten". Dieter Blume freut sich, dass ein verloren geglaubtes Stundenbuch des Dante-Zeitgenossen Francesco da Barberino wiedergefunden wurde. Heinrich Wefing meldet, dass in Washington ein Museum für die Geschichte der Schwarzen entstehen soll. Eleonore Büning gratuliert Gerard Mortier zum Sechzigsten. Uwe Walter hat ein Berliner Symposion zum hundertsten Todestag Theodor Mommsens mit angehört. Andreas Rosenfelder verfolgte eine Wolfenbütteler Tagung über "Kreatives Schreiben". Jordan Mejias besucht die neu eröffnete U-Bahnstation am Ground Zero. Stephan Sahm liest bioethische Zeitschriften.

Auf der letzten Seite berichtet Dirk Schümer über die Wiederaufbauarbeiten an La Fenice in Venedig. Gerhard Rohde porträtiert Albrecht Puhlmann, den Intendanten der Oper von Hannover. Und Ilona Lehnart meldet, dass die Fusion der Bundeskulturstiftung mit der Kulturstiftung der Länder wohl scheitern wird.

Auf der Medienseite erklärt Michael Hanfeld ausführlich, "wie der öffentlich-rechtliche Rundfunk sich sein Grab schaufelt" (durch Kommerzialisierung, wenn wir den Autor recht verstehen). Hanfeld porträtiert auch den sympathischen Medienmanager Horst Schiphorst (mehr hier), dessen Honorar für die Neugestaltung der Öffentlichkeitsarbeit beim Arbeitsamt von sich reden macht.

Besprochen werden Stephane Braunschweigs Inszenierung des "Menschenfeinds" in Straßburg, Andreas von Studtnitz' Inszenierung der "Minna von Barnhelm" in Wiesbaden und Tanzspektakel nach Schumann und Schubert an der Leipziger Oper.

Tagesspiegel, 25.11.2003

Im Tagesspiegel analysiert der Berliner Politologe Herfried Münkler die Selbstmordattentate als größte Herausforderung der westlichen Gesellschaft seit dem Mauerfall. "Selbstmordattentate sind .. immer auch ein Einbruch der Vormoderne in die Postmoderne, und postmoderne Gesellschaften laufen Gefahr, diese Auseinandersetzung zu verlieren, wenn sie nicht auf mentale Dispositionen zurückgreifen können, die ihnen nicht unbedingt eigen sind. Sind sie mit Gewalt in kleinerem wie großem Maßstab konfrontiert, so bedienen sie sich in der Regel finanzieller Mittel, um die Gewaltanwender ruhig zu stellen", schreibt Münkler. Doch "Wo das Leben nichts zählt, ist Geld kein Argument." (Aber sacken die Eltern nicht ganz gern eine kleine Belohnung ein?)

FR, 25.11.2003

In einem Interview äußert sich der syrische Philosoph Sadik J. al-Azm über islamistischen Terror. Zur Frage, ob der militante Islamismus ein längerfristiges Problem darstellen werde, meint al-Azm: "Wenn man bedenkt, dass der deutsche Staat zehn Jahre brauchte, um mit der Baader-Meinhof-Bande fertig zu werden oder dass Italien bis heute nicht mit den Roten Brigaden fertig geworden ist, dann muss man für einen militanten Islamismus wohl eine Zeitspanne 20 oder 25 Jahre veranschlagen."

Weitere Artikel: Thomas Winkler berichtet über die Music Academy in Kapstadt, wo eine international zusammengesetzte Truppe unter anderem über die Frage diskutierte, ob ein DJ nun "Popstar oder doch nur Dienstleister" sei. Sascha Michel resümiert die zweiten Frankfurter Adorno-Vorlesungen, die nach Judith Butler in diesem Jahr der Berliner Soziologe Claus Offe bestritt. In Times mager stellt Ulrich Holbein Überlegungen zur Suche nach dem "größten Chinesen" an. Auf der Medienseite freut man sich über den Zuschauermangel eines neuen nationalistischen TV-Senders in Polen, der überwiegend aus "frommen Erweckungsprogrammen und Hetztiraden gegen Minderheiten" durch den Radiopriester Tadeusz Rydzyk besteht. Außerdem wird über die Absetzung der italienischen Satiresendung "RaiOt" wegen "zu viel unliebsamer Information" berichtet.

Besprochen werden Wolfgang Rihms Musiktheater "Seraphin" bei der Zeitgenössischen Oper Berlin und das "neue Schauerstück" von Martin McDonagh "Der Kissenmann", das am Wiener Akademietheater als "kreuzbraves Kammerspiel des Schreckens" und an den Kammerspielen des Deutschen Theaters in Berlin als "vergondeltes Traumspiel in der Klamotte" seine deutschen Erstaufführungen erlebte.

TAZ, 25.11.2003

Scharf kritisiert Daniel Bax die Äußerung von Ariel Scharon, dass "eine noch stärkere Präsenz von Muslimen in Europa sicherlich das Leben der jüdischen Menschen" gefährde. In schöner Wendung eines weiteren Diktums von Scharon wirft er diesem vor, es rundum abzulehnen, "zwischen Israel-Kritik und Antisemitismus zu unterscheiden". "So schnell also landet man in wenigen Schritten vom Rundumschlag gegen echte und vermeintliche Antisemiten beim ganz gewöhnlichen Rassismus, der die 17 Millionen Muslime in Europa unter Generalverdacht stellt. Sollte bislang jemand Zweifel an Scharons paranoider Geisteshaltung gehabt haben, die aus seiner Politik spricht, dann dürften sie mit dieser Äußerung ausgeräumt sein."

Jan Engelmann berichtet über einen Workshop am Potsdamer Einstein Forum, der zu ergründen versuchte, wie und warum die religiöse Rechte in Amerika immer mehr Einfluss zu gewinnen scheint, und Detlef Kulhbrodt resümiert "eine künstlerische Untersuchung zur Wirtschaftskrise in Argentinien" am Berliner "Hebbel am Ufer". Auf der Rätselseite tazzwei porträtiert Cornelius Tittel den Möchengladbacher Rapper Eko Fresh, der ganz nach oben, also in Bravo, Bild und Bunte will, und die Medienseite berichtet über einen Trend englischer Edelzeitungen zum Boulevardableger im so genannten Tabloid-Format, das man sich als "Fäzzchen für die Handtasche" vorstellen muss.

Besprochen wird die Uraufführung des Stücks "Die Optimisten" von Moritz Rinke in Bochum, und Dirk Knipphals bespricht neue Bücher: Reportagen von Cees Nooteboom aus "Paris, Mai 1968", ein "Handbuch Populäre Kultur", der Ratgeber "So werden Sie prominent" und ein Band über "Läden, Schuppen, Kaschemmen" in Hamburg (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr)

Und hier TOM.

NZZ, 25.11.2003

Udo Taubitz berichtet von einem Besuch bei Patrick McGrath, dem "Meister des neoviktorianischen Schauerromans", dessen Bücher, wie Taubitz uns versichert, "zugleich Freud'sche Parabeln und altmodische Gothic-Schocker" sind. Seine düsteren Romane wie "Groteske" oder "Stella" seien durchzogen mit dunklen Motiven wie das der "unergründlichen Künstlerseele: voll Leidenschaft, Bedürftigkeit und Freiheitsdrang - große Energien, die sich wechselweise in schönstem Schaffen oder hässlichen Gewaltausbrüchen entladen." Daher schreibt der seit nun 22 Jahren in New York wohnende Schriftsteller auch nicht für diejenigen, die "in einer seelischen Hölle leben. Ich tue etwas für die Leute, deren Ego so gefestigt ist, dass sie für geistige Stimulanz offen sind."

Weiteres: Aldo Keel berichtet vom Leiden der schwedischen Kultur: Wo man hinblickt "Sparen, nichts als Sparen. ... Schimmel, nichts als Schimmel". Gemeldet wird, dass Albrecht Puhlmann ab Herbst 2006 neuer Intendant an der Stuttgarter Oper wird.

Besprochen werden Maurizio Pollinis Zürcher Klavierabend und Bücher, darunter in einem ausführlichen Artikel Gerd Koenens Studie "Vesper, Ensslin, Baader. Urszenen des deutschen Terrorismus", Ernst Burrens Mundartgeschichten sowie Georg M. Oswalds Roman "Im Himmel" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 25.11.2003

Mathias Drobinski erklärt, inwiefern der Film "Luther" die Protestanten "mobilisiert" und zum "Hit" wird: "Man muss in den Film gehen, um mitreden zu können." Darüber hinaus weiß er zu berichten: "Die Katholische Nachrichtenagentur meldet: Ein Film über das Leben der Jungfrau Maria zählt derzeit zu den Rennern in Brasilien. Er wurde schon von mehr als zwei Millionen Menschen gesehen. Synchronisierungen und eine Papst-Vorführung sind geplant. Das Imperium filmt zurück. Katholiken, Karten reservieren!"

Weiteres: Als "traurig, aber nicht tragisch" kommentiert Arkadij Waksberg, Mitarbeiter von "Literaturnaja Gazeta", das politische Ende von Eduard Schewardnadse. In einem Interview stellt sich Amelie Niermeyer vor, die "jüngste und erfolgreichste Intendantin des deutschen Theaters" (derzeit Freiburg). Jürgen Otten berichtet über die in die Diskussion geratenen "Privilegien" - sprich: Arbeitsbedingungen und Vergütung - von Orchestermusikern. Ira Mazzoni informiert über die gefährdeten Ausbaupläne für die Zeche Zollverein in Essen. Stefan Koldehoff kommentiert die Nichtrückgabe von Noldes Gemälde "Buchsbaumgarten" an eine jüdische Erbin als "Affront". Alexander Kissler informiert über die morgen anstehende Entscheidung der europäischen Forschungsminister über die Finanzierung der Embryonenforschung. Zu lesen ist außerdem das Gedicht "Kloppitz / Klopot nad Odra" von Marion Poschmann, der Hinweis auf ein Projekt des Verlags Egmont Ehapa, das Micky Maus mit japanischen Mangas kurzschließt, und in der Zwischenzeit empfiehlt Claus Heinrich Meyer zwei Fotoausstellungen (August Sander und Dirk Reinartz) im Berliner Gropiusbau.

Besprechungen gibt es zu einer Inszenierung der Monteverdi-Oper "Die Krönung der Poppea" in Basel, einer Ausstellung mit Arbeiten des österreichischen Aktionskünstlers Günter Brus in der Wiener Albertina und einer Mailänder Probe des neuen Stücks von Dario Fo, "L'anomalo bicefalo", in dem "Berlusconi Putins Gehirn" habe und das am 3. Dezember uraufgeführt werden soll.

Rezensiert werden schließlich eine Edition der Kransberg-Protokolle von Albert Speer aus dem Jahr 1945, Tanja Kinkels neuer Roman "Götterdämmerung", die neue Ausgabe der Zeitschrift "Historische Anthropologie" zum Thema Alltagsgeschichte, eine Art "Wanderführer für Cineasten" durch Paris und - höchst gelobt - der neue Harry Potter gelesen von dem Schriftsteller und Schauspieler ("Oscar Wilde") Stephen Fry (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr)