Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.03.2004. In der taz identifiziert Herfried Münkler die Eta als Urheber der Bombenanschläge in Madrid. Auch das FAZ-Feuilleton denkt über die Anschläge in Madrid nach. Die SZ rät zur Abschaffung der Goethe-Institute. Die NZZ beobachtet eine Roboter-Ralley in der Mojave Wüste. Viele erlebten überdies einen erhabenen Moment mit Brian Wilson.

TAZ, 12.03.2004

Heike Holdinghausen interviewt für die Tagesthemenseite den Politologen Herfried Münkler zu den Anschlägen in Madrid. Er hält eine Beteiligung von Al Qaida für unwahrscheinlich und vermutet eine alleinige Urheberschaft der ETA. Die neue Qualität des Terrors gegen Zivilpersopnen erklärt er so: "Die ETA steckt zurzeit in erheblichen politischen Schwierigkeiten. Die Gruppe hat sich lange finanziert, indem sie im Baskenland wohlhabende Leute 'besteuert', nämlich flächendeckend erpresst hat. In den letzten zehn Jahren hat es eine große Abwanderung von 'besteuerbaren' Personen gegeben. Der ETA ist viel an Logistik ausgetrocknet. Die frühere Sympathie und Unterstützung der Bevölkerung im Baskenland ist dramatisch zurückgegangen. Dieser untypisch brutale Anschlag ist Ausdruck der Krise ihrer Organisation, in der sie die Gewalt eskalieren lässt."

Einen feierlichen Moment erlebte Harald Fricke, als Brian Wilson von den Beach Boys 35 Jahre nach der Entstehung in Frankfurt Stücke aus dem Album "Smile" spielte. Wilson hat den Faden wiedergefunden, schreibt Fricke, "35 Jahre nach dem Crack-up... Es ist schlichtweg unglaublich, mit welcher Präzision und Leidenschaft die Band in Frankfurt um ihn herum im Timing bleibt, egal wie irrwitzig das Tempo anzieht, Gitarrenriffs unvermittelt in Bläsersätze aufgelöst werden oder Walzer in einen Marsch einmünden. Nur die Die-Hard-Fans, die 'Smile' seit Jahren als Bootleg im Schrank stehen haben, sind etwas irritiert. Denn mit dem Konzert verliert ein Stück weit der Mythos seine Macht: Plötzlich wird zu Ende gebracht, was vorher in der Fantasie unendlich viele Variationen zuließ. Die letzte Leerstelle des Pop hat sich geschlossen."

Besprochen werden Sören Voigts Film "Identity Kills" (den Andreas Busche als "kleine Sensation" feiert) und zwei Alben aus dem Nachlass des Jazzbassisten Peter Kowald.

FAZ, 12.03.2004

Die Bombenanschläge in Madrid haben Hunderte von Menschenleben gekostet. Doch statt die Eta als gemeinsamen Feind zu betrachten, machen die spanischen Politiker mit den Anschlägen Wahlkampf, berichtet Paul Ingendaay: "... das ist, nach den Bomben, den Toten und Verletzten, die zweite unheilvolle Konsequenz der Eta-Verbrechen: Sie spalten die spanischen Demokraten, treiben sie in erbitterte Auseinandersetzungen und persönliche Beleidigungen, die einen rationalen Umgang mit dem Terrorismus erschweren, wenn nicht unmöglich machen. Mit Blick auf den Wahlsonntag sagen die einen, nur die Konservativen seien fähig, den Terrorismus zu bekämpfen. Die anderen sagen: Die Toten von Madrid bedeuten die absolute Mehrheit für Aznars Nachfolger Rajoy, die es zu verhindern gelte."

Weitere Artikel: Andreas Platthaus war dabei, als Thomas Schadt und Knut Beulich ihren Dokumentarfilm über "Massaker in Erfurt" ebendort im Audimax der Universität zeigten (der Film wird am 20. April von der ARD ausgestrahlt). Hannes Hintermeier schüttelt den Kopf über die Forst-Reform in Bayern: "Nach Auffassung der Staatsregierung soll es künftig vor allem wohl um die Fähigkeit der Wälder gehen, 'leistungsfähig' zu sein." Gina Thomas stellt Daniel Libeskinds Graduierten-Zentrum für die Metropolitan University in London vor.

Die Medienseite präsentiert ein Diagramm des "Medienriesen SPD", das die Beteiligungen der DDVG (Deutsche Druck- und Verlagsgesellschaft, die Medienholding der SPD) darlegt. Den geplanten Einstieg der DDVG bei der Frankfurter Rundschau kommentiert Michael Hanfeld: "... eines kann man wirklich nicht: die SPD und ihr Medienreich als 'Bonsai-Imperium' bezeichnen, wie dies ein Zeitungswissenschaftler getan hat. Für eine solche Verniedlichung ist der Einfluss dieser Partei auf die Medien einfach viel zu groß."

Auf der letzten Seite porträtiert Jordan Mejias den neuen Chef des amerikanischen PEN-Zentrums Salman Rushdie. Jürg Altwegg berichtet, dass Schweizer "Landesverräter", die während des Zweiten Weltkriegs Juden in die Schweiz schmuggelten, nach einem neuen Gesetz rehabilitiert werden. Klaus Cäsar Zehrer stellt den schlesischen Schwan vor: Friederike Kempner, Gutsherrin und "vollendete Meisterin" des Zen in der Kunst des komischen Dichtens. Hier eine Kostprobe: "Wie heißt das Wort, das in der halben Welt / Man gleichbedeutend mit dem Elend hält, / Doch mit dem Elend - das mit wack'rem Mut / Die schwere, große Arbeit tut? / Es ist, es heißt: der, der, der, der, / Es heißet: Proletarier!"

Besprochen werden Werke von Mats Ek, die zum Auftakt der Münchner Ballettwoche aufgeführt wurden, Brian Wilsons "Smile"-Konzert in Frankfurt, die Neuinszenierung von "Street Scene" und ein Weill-Liederabend mit Christine Schäfer und Max Raabe beim zwölften Kurt Weill Fest in Dessau ("Christine Schäfer, Dessauer Artistin in residence, flucht kultiviert. Sie flötet die bösen Worte von 'Maul' und 'Hund so damenhaft, daß jeder kapiert, gleich bricht die große Distanz auf zwischen Wort und Sinn: Hier wird gefälligst nicht gelitten, hier macht sich nur eine lustig über all das olle Rinnstein-Pathos rundum", schreibt Eleonore Büning), Aelrun Goettes Dokumentarfilm "Die Kinder sind tot", Majakowskis "Mysterium Buffo" an der Berliner Volksbühne, die Monitorgeschichten von Ann-Sofi Siden im Kölnischen Kunstverein, eine Ausstellung über die "totale Welt des Playmobils" im Jungen Museum Speyer und Bücher, darunter ein Band über "Daumier und Deutschland" von Werner Hofmann (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 12.03.2004

S.B. berichtet auf der Medienseite von einem seltsamen Rennen durch die Mojave-Wüste nach Las Vegas: computergesteuerte Vehikel (hier kann man das Modell "Sandsturm" begutachten), gebastelt von Robotics Instituten und privaten Tüftlern, kämpfen um eine Million Dollar Preisgeld, die von der Forschungskoordinationsstelle des amerikanischen Verteidigungsministeriums für den Sieger ausgeschrieben wurden. S.B. sah die Vorausscheidungen und hegt ernsthafte Zweifel ob auch nur eines der Fahrzeuge das Ziel erreicht: "Ein schwerfälliger Lastwagen steht neben einer kleinen Seifenkiste, ein Yamaha-Zweirad ohne Sattel neben einem Armeefahrzeug, dessen Aufbauten an ein Raumschiff erinnern. Ab und zu wird eines dieser Fahrzeuge auf die Fahrbahn gerollt, wo Hindernisse einen rund zwei Kilometer langen Parcours markieren. Dann sieht man sie nervös herumkurven, als säße ein Betrunkener hinter dem Steuer. Eines bleibt abrupt stehen, ein anderes kippt, ein drittes prallt gegen die Leitplanken."

Villö Huszai porträtiert die Internet-Künstlerin Cornelia Sollfrank (hier zur Hompage mit dem Slogan "free adorno"), die Ende der neunziger Jahre dem Missstand, dass es keine weiblichen Hacker gab, auf kuriose, doch wirksame Weise abhalf: "So erfand Sollfrank fünf weibliche Hackerinnen und drehte sogar ein Video über diese. Es sei eines der großen Potenziale der Kunst, 'mit ihr Dinge behaupten zu können und durch die Behauptung in Existenz zu versetzen'. Dass mittlerweile weibliche Hacker aufgetaucht sind, freut Sollfrank."

Im Feuilleton schildert der im Banat geborene Schriftsteller Richard Wagner (mehr hier) eindrücklich die Diskrepanzen zwischen Selbstverständnis und Realität im seit jeher stark auf Europa - speziell auf Frankreich und Deutschland - ausgerichteten Rumänien, das durch den Ausschluss aus der EU-Osterweiterung 2004 frustriert sei. Und dies aus verschiedensten Gründen: "Ein geradezu kurioses Konkurrenzverhältnis pflegt Rumänien zum westlich vorgelagerten Ungarn. Dass dieses die besseren Karten in Europa hat, ist ein schon fast zeitloser Grund für die rumänische Frustration. Es ist, als bekomme der Nationalstolz seinen regelmäßigen ungarischen Dämpfer. Den Rumänen wurde zwar von den Siegermächten des Ersten Weltkriegs Siebenbürgen zugesprochen, aber was haben sie daraus gemacht, hört man regelmäßig von ungarischer Seite. Die gesamte Wunderlandschaft bringt touristisch heute weniger ein als in Ungarn der Plattensee."

Weitere Artikel: Markus Spörndli durchdringt das "wohlgeordnete Chaos" der Berner Grafiker von Büro Destruct, die in Industrie- und Webdesign die Tradition des Schweizer Grafikdesigns fortschreiben. Besprochen werden ein Konzert von Brian Wilson (mehr hier) in Frankfurt, eine Fotoausstellung in Hamburg, die eine moderne Passionsgeschichte ("Reportagefotos vom Erlöser", der ein "Gewand aus Jeans und grobem Hemd" aber immerhin auch einen Heiligenschein trägt, wundert sich Joachim Güntner) imaginiert und die 14. Münchener Frühjahrsbuchmesse.

Auf der Filmseite beobachtet Raphael Nägeli den Boom des bosnischen Kino: "In fast allen Fällen arbeiteten Schauspieler ohne Lohn, halfen Familien und Freunde mit, blieben Schulden zurück. Dass solche Selbstausbeutung nicht ewig betrieben werden kann, darin ist man sich einig. Vorerst aber bildet sie die Grundvoraussetzung für jegliches Filmschaffen auf dem Balkan." (Hier das Sarajevo Filmfestival).

Weiteres: Heinz Kersten berichtet vom Grazer Filmfest Diagonale, das, wenn auch auf vier Tage reduziert und mit halbiertem Budget, erfolgreich und unabhängig über die Bühne gegangen ist. "fjs" vermutet, dass der in Schweden angelaufenen Estonia-Film ein Fiasko erleben wird. Andreas Maurer bespricht Pjer Zalicas bosnische Nachkriegssatire "Gori Vatra".

Welt, 12.03.2004

Im Interview kritisiert John le Carre, dessen neuestes Buch "Absolute Freunde" gerade in Deutschland erschienen ist, noch einmal die Kriege in Afghanistan und Irak und fürchtet, "dass Osama nur die Ausrede liefert, um auf messianische Weise gegen den Islam vorzugehen und ihn als Quelle der Angst zu nehmen".

FR, 12.03.2004

Alexander Kluy räsonniert anlässlich anlässlich einiger Bücher und Kunstwerke über ein neues Sicherheitsdenken in den Städten, das auch Einfluss auf den Urbanismus nimmt: "Gerade das Phantasma eingeforderter Sicherheit befördert mittels Camouflage eine Militarisierung, präjudiziert Gewalt, überformt die Idylle und entzieht ihr jeden zivilisatorischen Grund, ebnet die Unterschiede zwischen Provinz und den Städten ein. Der Schrecken, der autosuggestiv-hysterisierte wie der gebaute, ist allgegenwärtig."

Silke Hohmann ist begeistert von der Aufführung des legendenumwobenen Albums "Smile" des Beach Boy Gründers Brian Wilson in der Alten Oper Frankfurt: "'Smile' ist unter all den Legenden über verloren gegangene Popmusik die mit dem größten Mythos, weil sie zugleich die Geschichte eines verloren gegangenen Verstandes ist." Sascha Westphal schöpft Hoffnung aus Philippe Muyls Film "Der Schmetterling - Le Pappillon".

Besprochen werden außerdem Schostakowitschs Oper "Die Nase" nach Gogol in Basel (mehr) und Sebastian Hartmanns Aufführung von Wladimir Majakowski "Mysterium Buffo" an der Berliner Volksbühne. Gemeldet wird der Austritt von 84 Autoren aus dem ungarischen Schriftstellerverband. Anlass waren antisemitische Äußerungen eines führenden Mitglieds.

SZ, 12.03.2004

Die "dritte Säule" der Außenpolitik - die Kulturarbeit der Goethe-Institute und der anderen Mittlerorganisationen - wird nach Thomas Steinfeld durch neue Kürzungspläne endgültig zum Einsturz gebracht. Schuld ist aber für Steinfeld keineswegs Außenminister Joschka Fischer, sondern ein Papier der Ministerpräsidenten Roland Koch und Peer Steinbrück, die die auswärtige Kulturarbeit als bloße "Steuervergünstigung" betrachten. Steinfeld rät: "Die Auflösung des Goethe-Instituts, des Deutschen Akademischen Austauschdienstes und der anderen beiden Mittlerorganisationen wäre eine konsequentere Entscheidung als das langsame Erwürgen dieser Institutionen - der Effekt wäre spätestens Ende dieses Jahrzehnts ohnehin derselbe."

Anlässlich neuer Ausstellungen von Santiago Serra (hier) und Jeff Burton (hier) konstatiert Holger Liebs: "Die 'Body Art' von heute arbeitet raffinierter, aber auch zynischer - sie hat ihre Lektion posthumanen Körperdesigns gelernt. Nicht der Künstler selbst lässt seinen Körper zum Schlachtfeld - er trägt die realen Schlachtfelder ins Museum."

Weiteres: Jürgen Otten fragt sich, ob Berlin je einen Direktor für seine Opernstiftung finden wird. Johannes Willms hat Philippe de Gaulles Erinnerungen an seinen Vater gelesen. Die Franzosen scheinen begeistert zu sein, auch von den preußischen Tugenden des Generals. Wolfgang Schreiber hat sich von Gerhard Mortier über dessen künftige Pariser Opernarbeit ins Bild setzen lassen. Petra Steinberger erzählt, wie der Disney-Film "Hidalgo" mit einer ausgedachten Geschichte angeblich alle Welt gegen sich aufbringt. Gemeldet wird, dass Armgard Seegers-Karasek, Kulturredakteurin beim Hamburger Abendblatt, neue Kultursenatorin in Hamburg werden soll.

Auf der Literaturseite unterhält sich Roswitha Budeus-Budde mit Carlsen-Chef Viktor Niemann über die lieben Kollegen: "Dieses gönnerhafte Verhalten der Erwachsenenverleger, nach dem Motto: 'Toll, was ihr da macht', entspricht der Arroganz der Ahnungslosen. Sie denken vermutlich, die Leser fallen vom Baum."

Besprochen werden Mats Eks Choreografie "Apartment" am Bayerischen Staatsballett, Sebastian Hartmanns Inszenierung von Majakowskis "Mysterium Buffo" in Berlin, eine Ausstellung zu Joan Miro im Pariser Centre Pompidou, Anne-Sophie Mutters Previn-Konzert in München, Mathieu Kassovitz' Film "Gothika" mit Halle Berry.

Und Bücher, darunter Peter Richters Heimatkunde "Blühende Landschaften", Jonathan Carrolls Roman "Das hölzerne Meer" und Ihsan Oktay Anars "Der Atlas der unsichtbaren Kontinente" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).