Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.07.2004. Die FAZ musste weghören, als das politische Theater in Avignon lallte und strampelte. Die SZ erkennt dagegen im Theatermarkt einen entgrenzten Merkantilismus. Die Welt behandelt das Trauma des Christoph Schlingensief (er sieht zu gut aus). Im Tagesspiegel spricht der Maestro selbst über seine Nähe zu Richard Wagner. Die NZZ wundert sich über den Medienrummel zum 20. Juli. Die FR erinnert an den "anti-antifaschistischen" Widerstand.

FAZ, 19.07.2004

Das politische Theater ist schwer in der Krise, glaubt Joseph Hanimann, nachdem er eine Reihe von Aufführungen in Avignon besucht hat: "Die allenthalben zurückgemeldete Politik auf dem Theater lallt, strampelt und schreit sich einen ab, dass man manchmal weghören muss, um besser zu verstehen. So wirkt eine Diskussion der Globalisierungsgegner am Rande des Festivals geradezu feinsinnig gegenüber dem auf der Bühne herausgebrüllten Abscheu vor Supermärkten, Fernsehrealität und Globalkapitalismus."

Der Strafrechtler Michael Pawlik fordert die Bundesregierung auf, Paragraph 14 Absatz 3 des Luftsicherheitsgesetzes - wonach ein Passagierflugzeug abgeschossen werden darf, wenn es wie am 11. September "gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll" - mit allen Konsequenzen zu formulieren: Ein entführter Flugpassagier muss sein Leben opfern, um das Gemeinwesen zu retten. Dies kann nach Pawlik jedoch nur rechtmäßig sein, wenn der § 14 "in den gleichen Begründungszusammenhang gestellt wird wie Artikel 20 Absatz 4 des Grundgesetzes ... Wer es unternimmt, den Staatsnotstand zu verrechtlichen, sollte ihn auch beim Namen nennen."

Weitere Artikel: Wie Brita Sachs berichtet, wird die Pinakothek der Moderne nicht weitergebaut, weil das Geld für das Museum der Sammlung Brandhorst benötigt wird. Rose-Maria Gropp nennt Sigmund Freuds "Einführung in die Psychoanalyse" ihr Lieblingsbuch. Timo John stellt das "Haus Wu" des Architekturbüros Wulf & Partner in Stuttgart vor. Günther Gillessen war bei einem Kolloquium der deutsch-russischen "Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen" in München, wo es um Widerstand in totalitären Diktaturen ging. Aro. meldet erstens, dass die Stadt Essen, die sich gerade als "Europäische Kulturhauptstadt 2010" bewirbt, ihr Kinder- und Jugendtheater schließt, und zweitens, dass der WDR an seinen sendereigenen Orchestern festhalten will. Und Zhou Derong meldet, dass der Fußball in China erfunden wurde, wo er "cu ju" hieß.

Auf der Medienseite berichtet Esther Kilchmann über den "D-Day" des Deutschen Journalistenverbandes, der auf einer äußerst turbulenten Sitzung die Landesverbände Berlin und Brandenburg ausgeschlossen hat. Michael Hanfeld liefert dazu einen Kommentar. Gisa Funck porträtiert Israels preisgekrönte Dokumentarfilmerin Nurit Kedar. Kho. meldet die Ermordung des armenischen Reporters Pail Pelojan, Redakteur der in Moskau erscheinenden Emigrantenzeitschrift Armjanski pereulok (Armenische Gasse). Eine Meldung von AP besagt, dass im Iran zwei reformorientierte Zeitungen - Dschomhuriat und Waghay-e-Ettefaghieh - "vorübergehend" Erscheinungsverbot haben: "Beide Blätter haben ausführlich über den Fall der kanadischen Fotojournalistin Zahra Kazemi berichtet, die vor einem Jahr in Polizeigewahrsam in Teheran gewaltsam zu Tode kam."

Auf der letzten Seite erinnert Jürg Altwegg an die Neuausgabe von Friedrich Sieburgs Frankreich-Klassiker "Dieu est-il Francais?" vor fünfzig Jahren. Verena Lueken porträtiert den amerikanischen Rechtsaußen Pat Buchanan. Lorenz Jäger scheint sich zu fragen, welchen Sinn der Verzicht auf die Erwähnung der ethnischen Zugehörigkeit von Tätern hat, wie die französische Presse es hält, wenn im Einzelfall doch davon ausgegangen wird, dass die Täter Moslems sind.

Besprochen werden eine Retrospektive von Jürgen Partenheimer im Dortmunder Museum am Ostwall, der Kinderfilm "Davids wundersame Welt" und Bücher, darunter ein Band "Letzte Gespräche mit Niklas Luhmann" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Tagesspiegel, 19.07.2004

Im Interview mit Peter Laudenbach spricht Christoph Schlingensief über seine Nähe zu Richard Wagner: "Das Pendeln zwischen Selbstüberschätzung und Depression kenne ich. Und hier in Bayreuth wird das Genie im Mausoleum gefeiert als einer, der nur aus sich selbst geschöpft hat. Der Mann hat mit Frauen seiner Geldgeber rumgevögelt, er wurde von einem Bekloppten aus Bayern finanziert. Die schönste Idee von Wagner finde ich, für eine Oper ein eigenes Opernhaus zu bauen, eine einzige Aufführung zu machen und danach das Haus samt der Partitur zu verbrennen."


Welt, 19.07.2004

"Schlingensiefs Zukunft hängt zunächst einmal davon ab, wie er den drittwichtigsten Job bewältigt, den Deutschland zu vergeben hat. Wenn seine 'Parsifal'-Inszenierung bei den Bayreuther Festspielen weder gut noch so richtig skandalös wird, dann ist er wohl erledigt", schreibt Matthias Heine und beschreibt das Schliengensiefsche Dilemma so: "Der Widerspruch zwischen Sein und Scheinen ist bei Schlingensief schon in seiner naturgegebenen Optik angelegt. Die einstige Fassbinder-Diva Irm Hermann brachte es auf den Punkt: 'Er ist so ein charmanter Kerl, und er sieht obendrein so gut aus.' Das ist das Trauma des Christoph Schlingensief: Er wirkt wie der nette Schwiegermutterliebling, der er seiner ganzen Herkunft nach ja tatsächlich ist. Irgendwie hat er es versäumt, seinen Körper rechtzeitig mit Drogen und Alkohol zu zerstören, wie man das hier zulande von einem echten Genie erwartet. Deshalb rebelliert er umso krawalliger, je heftiger er geliebt wird."

NZZ, 19.07.2004

In einem ausführlichen Artikel widmet sich der Historiker Christoph Jahr (mehr hier) dem 60. Jahrestag des Hitler-Attentats: "Die entscheidende Frage bleibt trotz der allseitigen Würdigung umstritten. Stand der 20. Juli in der Tradition deutscher Freiheitsbewegungen - oder ist er lediglich der fehlgeschlagene Versuch einer zutiefst mit dem mörderischen Regime verbundenen Elite, ihren Kopf kurz vor dem absehbaren Untergang aus der Schlinge zu ziehen?"

Und Joachim Güntner kommentiert den Jubiläumsrummel lakonisch: "Der 20. Juli ist ein Datum geworden, das leuchtet. Seine mediale Strahlkraft sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass es eine Albernheit wäre, aus den Deutschen rückblickend ein Volk von Oppositionellen zu machen. In einem Zeitungsbeitrag schrieb Altkanzler Kohl kürzlich: 'Das heldenhafte Handeln der Verschwörer verdeutlichte, wie falsch die Propaganda war, wonach Deutschland identisch sei mit Hitler und umgekehrt - in freien Wahlen bekam Hitler niemals mehr als ein gutes Drittel der Stimmen.' So kann man natürlich rechnen. Aber wenn wir denn schon einmal bei Zahlenverhältnissen sind: Zeithistoriker beziffern den Anteil jener in der damaligen Bevölkerung, die irgendeinen Widerstand leisteten, auf gerade einmal ein Prozent."

Joachim Güntner zum zweiten: Er entdeckt Parallelen zwischen Kölner Kulturpolitik und Karneval und sieht OB Fritz Schramma zu "närrischer Höchstform" auflaufen. Paul Jandl befasst sich mit dem Sex-Skandal im österreichischen Priester-Seminar St. Pölten. Renate Klett besuchte das estnische Sängerfest in Tallinn (mehr hier). Thomas Meyer resümiert eine Historikertagung auf Schloss Elmau. Gemeldet wird der Tod des Künstlers Alfred Hofkunst.

Besprochen wird die Ausstellung "Zwei deutsche Architekturen" im Hamburger Kunsthaus.

FR, 19.07.2004

Der anti-antifaschistische Widerstand in der DDR orientierte sich nur in den Anfängen an den Attentätern des 20. Juli, erinnert sich der ehemalige Bürgerrechtler Ludwig Mehlhorn. Explizit auf die Weiße Rose beriefen sich noch die Studenten des erst nach Jahren enttarnten Eisenberger Kreises. "Nach dem 17. Juni 1953 beschlossen sie zu handeln. Sie fabrizierten Flugblätter und Handzettel, auf denen sie für freie Wahlen, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und ein einheitliches Deutschland eintraten. Sie gingen nachts mit einem Eimer weißer Farbe los, ganz wie die Münchner Studenten 1942, und pinselten 'Nieder mit der SED' und 'Wir fordern Freiheit' an die Hauswände. Im Oktober 1956, als in Polen eine erste zögernde Entstalinisierung einsetzte, schrieben sie in großen Buchstaben an Güterwaggons: 'Polen ruft Deutschland'. Sie freuten sich diebisch, als diese Züge eine Weile über Land fuhren."

Die Historikerin Claudia Kraft greift in die Debatte um die Vertreibung der Deutschen aus Polen ein. Im Gegensatz zu Bogdan Musial (mehr hier), der den sowjetischen Einfluss auf die Polen betonte, hebt Kraft den polnischen Beitrag bei den Vertreibungen hervor. "Galten den Truppen der Roten Armee die Deutschen vielfach als nützliche Helfer bei der Aufrechterhaltung der Infrastruktur, so waren sie für die Polen die Unterdrücker, die in den vergangenen sechs Jahren dem Land unvergleichliches Leid zugefügt hatten und nun den raschen Wiederaufbau und vor allem die endgültige Inbesitznahme der neuen Gebiete verhinderten."

Kirsten Liese berichtet von den hochsommerlichen wie traditionsreichen Opernfestspielen im finnischen Savonlinna. Jürgen Roth singt in Times mager das Klagelied von der gebrochenen Benzinleitung. Auf der Medienseite macht sich Henning Hoff anlässlich eines medienkritischen Buches Gedanken über die Situation des britischen Journalismus.

Besprechungen widmen sich einer Retrospektive des slowenischen Architekten Jo?e Plecnik in Regensburg und politischen Büchern, darunter ein Sammelband von Wolfram Wette über "Retter" in der Zeit des Nationalsozialismus sowie Paolo Flores d'Arcais' Lob des Dissidenten in der Demokratie "Die Demokratie beim Wort nehmen" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 19.07.2004

Ehrfürchtig blickt Tilman Baumgärtel zurück in den heißen August 1953, als Elvis Presley auf den Sun Sessions mit den Tricks seines Produzenten den Rock 'n' Roll erfand. Gerrit Bartels graut es vor der Gedenktagewelle, die im Sommerloch auf uns zurollt. Daniel Bax weist darauf hin, wie "The Clash" (mehr) nicht nur mit ihrem Album "Sandinista!" das Vorbild für Legionen politischer Bands abgaben. Knut Henkel stellt das Label Übersee Records vor, das sich um die Verbreitung lateinamerikanischer Musiker wie Panteon Rococo und Karamelo Santo verdient machen.

Heinrich Senfft betont im Kommentarteil, dass neben den Verschwörern vom 20. Juli auch Kommunisten zum Widerstand gegen die Nationalsozialisten gehörten. Alleiniges Thema des Tages ist die sandinistische Revolution in Nicaragua, die vor 25 Jahren hoffnungsvoller begann als sie endete. In der zweiten taz schildert Claudia Blume die Anstrengungen des Hobbyhistorikers Gavin Menzies, der beweisen will, dass ein Chinese Amerika entdeckt hat. Niklaus Hablützel berichtet von Bertelsmanns ewigen Problemen mit Napster. Und Susanne Lang begibt sich unter die Streikenden von Sindelfingen und fürchtet um die Identität der Stadt. Auf der Medienseite notiert Heide Platen, wie die Landesverbände Berlin und Brandenburg aus dem DJV geworfen wurden.

Besprochen wird die Ausstellung "Ungleiche Platzverteilung" in Leipzig, in der sich verschiedene Künstler aus Osteuropa mit kulturellen Praktiken im öffentlichen Raum beschäftigen.

Und Tom.

SZ, 19.07.2004

Viel Theater heute: Andrian Kreye unterhält sich mit den Veranstaltern des Festivals New German Voices in New York über die Unterschiede zwischen deutschem und amerikanischem Theater. Da kommt es dann zu schönen Aussagen wie die von Florencia Lozano: "Es gibt bei uns immer den Versuch, mit dem Publikum zu kommunizieren, um es wirklich zu erreichen. Das ist schon ein kultureller Unterschied." Oder Ronald Marx, amerikanisch höflich: "Bei uns sind die Regisseure die Stars. Bei euch haben ja auch die Schauspieler viel mehr zu sagen. Diese ganzen Gewerkschaftsauflagen fanden wir sehr interessant."

"Der Theatermarkt funktioniert nach Regeln des entgrenzten Merkantilismus", stellt Jürgen Berger fest, der in den kreativen Berufen die Verwirklichung des von der Wirtschaft erträumten Arbeitnehmers sieht. "Ein Schauspieler etwa ist gleichzeitig freier Selbstvermarkter, aber auch extrem abhängig davon, wie Regisseure und Intendanten seine Leistung beurteilen. Jedes Wort kann karrierefördernd oder karriereschädigend sein. Das heißt: Schauspieler haben all das, was ein neoliberaler Arbeitsmarkt vom perfekten Arbeitnehmer verlangt. Sie sind kreativ und flexibel bis zum Abwinken, springen bis zwei Uhr nachts ohne Probleme von einem Projekt ins nächste, bereiten eigenständig ihre Rollen vor und wechseln übergangslos in die Teamarbeit."

Weiteres: Dietmar Polaczek hat an zwei aufeinanderfolgenden Abenden in Sizilien die Extreme des italienischen Theaters erlebt. Alexander Menden sichtet den Beitrag des umstrittenen Diana-Brunnens im Hyde Park zur englischen Gesamtbefindlichkeit (groß ist jedenfalls der Brunnen selbst). "jby" mokiert sich über das Gerangel um die Neubesetzungen in der Berliner Theaterlandschaft. Jeanne Rubner berichtet von einem Symposium in Kyoto, wo die Bildungskrisen von Japan, Frankreich und Deutschland verglichen wurden. Tilman Sprengler wohnt einem Symposium in Heidelberg bei, auf dem man sich den in Stein gehauenen Religionsschriften im China des 6. Jahrhunderts widmete. Dirk Peitz besucht die Nomaden des Hip Hop, The Roots, und glaubt, dass sie mit ihrem neuen Album endlich am Ziel angelangt sind. Holger Liebs gratuliert dem Fotografen Ulrich Mack zum Siebzigsten. Und Annette Hildebrand, Direktorin der Akademie für Publizistik in Hamburg, betont auf der Medienseite die Bedeutung einer angemessenen Ausbildung für die Zukunft des Journalismus.

Besprochen werden James Levines letztes Konzert mit Mahler und Münchens Philharmonikern (ein "langer, glücklicher Abschied", versichert Wolfgang Schreiber), die elfte Ausgabe des Ausstellungsprojekts Rohkunstbau im Schloss Groß Leuthen, Kevin Brays Remake von "Walking Tall", Violeta Urmanas Liederabend im Münchner Prinzregententheater, und Bücher, darunter Joachim Zelters hypochondrische "Betrachtungen eines Krankenhausgängers" oder Christoph Luitpold Frommels "Prachtwerk" über die Schätze der römischen Villa Farnesina (hier einige Bilder) (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).