Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.09.2004. In der NZZ geißelt der irakische Schriftsteller Najem Wali den Männlichkeitskult und nationalistischen Übereifer arabischer Intellektueller. In der FR ahnt Buchmessen-Chef Volker Neumann, warum der Börsenverein ihn entlassen hat. In der taz prangert der FDP-Politiker Mehmet Daimagüler das "Taliban plus Öl"-Regime in Saudi-Arabien an. In der FAZ findet Ian Kershaw die Atmosphäre im Bunker wunderbar eingefangen. In Le Monde schreibt Andre Glucksmann über das Massaker von Beslan und die westliche Ignoranz.

NZZ, 17.09.2004

Die Reaktionen arabischer Intellektueller auf den 11. September sind so verlogen und armselig, dass sie "ob ihrer ungehobelten Derbheit Brechreiz auslösen", bekennt der irakische Schriftsteller und Publizist Najem Wali. "Warum hat die herrschende arabische Kultur der letzten drei Jahrzehnte mit ihren Veröffentlichungen keine Intellektuellen hervorgebracht, die den Grundstein für eine Kultur, eine Philosophie und ein intellektuelles Leben gelegt hätten, die sich nicht aus einem Männlichkeitskult, aus Feindseligkeit und Aggressivität nährten und in denen nicht nationalistischer Übereifer pulsierte? ... Warum verlieren sie dagegen kein Wort über die Diktaturen, die allen Maulkörbe verpassen, oder über die zunehmende Ausbreitung des Terrorismus, zu dem die Prediger des Hasses unablässig aufrufen, indem sie vor 'jüdischen Verschwörungen' warnen? Warum schreiben sie nicht über die neue Form der Sklaverei, über Arbeitslosigkeit, Hunger, Vergewaltigung von Frauen und politische Gefangene in ihren Ländern? Warum wiederholen sie unterschiedslos bei allen Anlässen immer wieder die gleichen abgedroschenen Phrasen?" Im "Words Without Borders" finden wir eine lange Erzählung dieses Autors.

Joachim Güntner fasst die "Aufregung" über den Film "Der Untergang" zusammen und fragt am Ende: "Trägt das Mittel der 'historischen Rekonstruktion' etwas zur vertieften Kenntnis des Nazireiches bei? Oder verrät der Film - als Parallelaktion zu anderweitiger, namentlich architektonischer Rekonstruktion (Dresdner Frauenkirche, Berlins Stadtschloss) - weit mehr über die vergangenheitsselige, dafür aber zukunftsängstliche deutsche Gegenwart?"

Weitere Artikel: Sieglinde Geisel beschreibt die Marketingaktionen zur neuen Humboldt-Ausgabe. Richard Merz stellt das Programm des Londoner Royal Ballet zum 100. Geburtstag seines Choreografen Frederick Ashton vor. Gemeldet wird der Tod von Johnny Ramone.

Besprochen werden ein Gastspiel des Cullberg-Balletts in Basel und Falk Richters Inszenierung der "Möwe" am Schauspielhaus Zürich.

Auf der Filmseite stellt uns Andreas Maurer in bewegenden Worten Jean-Luc Godards neuen Film "Notre musique" vor: "Heute, 73-jährig, blickt Jean- Luc Godard geradezu erhaben auf die göttliche Tragödie des Daseins: Mythos, Geschichte und das ewige Mysterium des bewegten Bildes, in 'Notre musique' befinden sie sich endlich in beglückendem Einklang. Vorüber die Zeiten, da Godard die schrecklichste Bedrohung in BH-Reklamen, Coca-Cola oder Spielberg vermutete - der Filmer-Philosoph meditiert nun über die letzten Dinge. Inspiriert von 'La Divina Commedia' und dem Musiklabel ECM, hat er diese drei Strophen komponiert, die jedoch weniger Dantes Läuterungsreise zu Menschlichkeit und Gerechtigkeit nachempfinden als vielmehr drei parallele Welten entwerfen. Wir haben die Wahl."

Besprochen werden außerdem Guillermo del Toros Comicverfilmung "Hellboy", Peter Liechtis Dokumentarfilm "Namibia Crossings" und Marco Kreuzpaintners Verfilmung eines Coming-out "Sommersturm".

Auf der Medienseite erklärt sich der Zürcher Medienforscher Otfried Jarren die gegenwärtige Krise der Tageszeitungen nicht nur mit konjunkturellen oder strukturellen Schwierigkeiten, sondern auch mit dem generell schwindenden Einfluss von gesellschaftlichen "Intermediären": "Den Tageszeitungen geht es wie Parteien oder Verbänden: Das Wechselverhalten nimmt zu, ablesbar an den rückläufigen Abonnementszahlen bei Zeitungen. Das hat sowohl politische wie pragmatische (Single-Haushalte, Lebensstil) Gründe. Zugleich wird, auch von der Leserschaft, nach 'Nutzwert' gefragt, und damit nimmt die Forderung nach einem journalistischen Dienstleistungsverständnis zu. Das Abonnement ist mit dem Modell 'Stammwähler' vergleichbar."

Weitere Medien, 17.09.2004

In einem grandiosen (und lang erwarteten) Text, erschienen in Le Monde von gestern, reagiert Andre Glucksmann auf das Massaker von Beslan. "Wir dürfen vor diesen Bildern nicht flüchten", schreibt der Nouveau Philosophe, der sich seit Jahren für Tschetschenien einsetzt. "Sie sind prophetisch. Die apokalyptische Szene, die sich da am 3. September unter unseren Augen abspielte, hat Zukunft. Eine scheußliche Zukunft. Wie eine dreistufige Rakete zielt sie nicht nur auf Kaukasien und Russland, sondern auf ganz Europa." Glucksmann prangert auch die Passivität des "Friedenslagers" an, das mit dem Argument "Krieg erzeugt Terror" so mutig gegen den Krieg im Irak focht, während es beim Tschetschenienkrieg so unmutig schweigt: "Alle wissen, dass die tschetschenische Bevölkerung um ein Fünftel oder gar ein Viertel reduziert wurde. Wem die Fantasie fehlt, dem sei gezeigt, dass dieser Aderlass einem Verlust von 10 bis 15 Millionen Menschen in Frankreich entspräche. Tschetschenien erleidet den schlimmsten der zur Zeit auf der Erde geführten Kriege: 40.000 getötete Kinder, ohne Bilder, in Nacht und Nebel." Und zu Putin: "Europa und die Vereinigten Staaten geben ihm carte blanche. Bestürzende Demission der Intelligenz."

Auf derselben Seite von Le Monde findet sich ein Text des in London lebenden Oligarchen Boris Beresowski zum Thema.

FR, 17.09.2004

Volker Neumann hat die Frankfurter Buchmesse wirtschaftlich stabilisiert, die Zahl der Aussteller hat sich wieder vergrößert. Auch war er der einzige, der die unverschämten Frankfurter Hotelpreise in Frage stellte, indem er einen Umzug der Messe nach München anregte. Jetzt wurde er vom Börsenverein entlassen. Im Interview wird er gefragt, welche Interessen der Börsenverein eigentlich vertritt: "Ich weiß es nicht. Aber man konnte ja heute lesen, dass es ein großes Interesse der Messe Frankfurt gibt, die Buchmesse zu übernehmen. Das wäre mit mir vielleicht nicht gegangen. Ich weiß, dass es diese Begehrlichkeiten gibt. Ich habe immer ganz vehement davor gewarnt ... Weil ich der Meinung bin, dass diese Messe für den Börsenverein ganz wesentlich ist. Die Messe ist sein internationales Aushängeschild. Wenn die verscherbelt ist... . Für den Einfluss der Stadt würde aber auch eine Minderheitsbeteiligung reichen. Dann ist man die leidige Diskussion über den Standort der Buchmesse ein- für allemal los. Ich wurde an den Gesprächen mit der Messe allerdings nicht beteiligt."

Weitere Artikel: In Times Mager warnt Peter Michalzik vor einer Beteiligung der Stadt Frankfurt an der Buchmesse: "Die (CDU-)Politik von Stadt und Land strebt damit das Gegenteil dessen an, was sie dem Volk immer predigt, wenn es verzichten soll: Sie hat nicht versucht, für die Messe Voraussetzungen zu schaffen, die ihr das Bleiben leicht machen, sondern sie will die Messe halten, indem sie die Kontrolle über sie bekommt." Viel Kritik mussten die Germanisten beim Germanistentag in München einstecken, berichtet Roman Luckscheiter, der schon ein Motto für das nächste Zunfttreffen bereithält: "Europa ohne Germanistik". Besprochen wird die Uraufführung von Roland Schimmelpfennigs neuem Stück "Die Frau von früher" am Akademietheater Wien.

TAZ, 17.09.2004

Der Jurist, Wirtschaftsberater und FDP-Politiker Mehmet Daimagüler (Homepage) schreibt einen flammenden Artikel gegen die Menschenrechtsverletzungen in Saudi-Arabien und das Schweigen der westlichen Nationen: "Das unglaubliche Maß an westlicher Ignoranz gegenüber den Menschenrechtsverletzungen und der Unterdrückung der Frauen in Saudi-Arabien sind nicht länger hinnehmbar. Saudi-Arabien ist keineswegs 'Taliban light', sprich, nicht ganz so brutal. Es ist 'Taliban plus Öl'. Das kann aber keine Entschuldigung für das deutsche Schweigen sein."

Auf der Kulturseite berichtet Ralph Bollmann über recht laue Reaktionen deutscher Zeithistoriker auf den Film "Der Untergang", der auf dem Historikertag präsentiert wurde: "Der Film sei ohne Fehler 'im engeren Sinne'", zitiert Bollmann, und " "Der Film will politisch korrekt sein." Edith Kresta bespricht einen Band zu den umstrittenen Thesen des Philologen Christoph Luxenberg zum Koran. Sebastian Moll schreibt den Aufmacher über die Politisierung der amerikanischen Kulturszenen vor den Wahlen und stellt die Intiative "Downtown for Democracy" vor.

Besprochen werden neue Doppel-CDs von R. Kelly und Nelly.

In tazzwei unterhält sich Michael Briefs mit dem Marseiller Großmufti Soheib Bensheik, der einen liberalen Islam vertritt: "Ich hoffe, dass sich jede Generation die Freiheit neu erkämpft, den Koran wieder neu zu interpretieren."

Und Tom.

FAZ, 17.09.2004

Noch mal eine Seite über den Untergang des Hitlermanns. Bernd Eichinger hat dem anerkannten Hitlerbiografen Ian Kershaw (mehr hier) eine Privatvorführung in Manchester spendiert, und dieser findet den Film dann auch großartig: "Einen besseren Film über Hitlers letzte Tage kann ich mir nicht vorstellen. Die makabre, unheimliche Atmosphäre im Bunker wird wunderbar eingefangen."

Weitere Artikel: Hubert Spiegel glossiert das traurige Ende des Deutschen Bücherpreises, der in Form eines Butts in Leipzig vergeben wurde und als peinliche Veranstaltung galt und annonciert den Deutschen Buchpreis, der künftig in Frankfurt vergeben und in Anlehnung an den Booker-Preis dem besten Roman des Jahres gelten wird. Richard Kämmerlings resümiert den Germanistentag in München. Freddy Langer gratuliert dem Bergsteiger und Grenzgänger Reinhold Messner (Homepage) zum Sechzigsten. Claus-Peter Müller stellt einen neuen Masterplan für die Kasseler Museen vor.

Auf der Medienseite schildert Karl-Peter Schwarz den Konflikt zwischen den Redakteuren der rumänischen Zeitung Romania Libera und dem WAZ-Konzern. Stefan Niggemeier schildert die schlimmen Verhältnisse in der indonesischen Presse, wo missliebige Journalisten trotz Wahrung der "guten journalistischen Tradition des audiatur et altera pars" von Schlägertrupps heimgesucht und ins Gefängnis gesteckt werden.

Auf der letzten Seite freut sich Richard David Precht über das neue Haus für die Elefanten im Kölner Zoo. Dieter Bartetzko erzählt die Geschichte der Synagoge von Speyer, die vor genau 900 Jahr geweiht wurde und heute bis auf Überreste zerstört ist. Und Joachim Müller-Jung porträtiert den Chirurgen Benjamin Carson, der versuchte, die siamesischen Zwillinge von Lemgo zu trennen, und eines der Kinder inzwischen verloren geben muss.

Besprochen werden Schuberts "Winterreise" mit Maria Joao Pires und dem Tenor Rufus Müller in Frankfurt, Guillermo del Toros Verfilmung von Mike Mignolas Comic "Hellboy" und einige Sachbücher.

SZ, 17.09.2004

Im heute recht dünnen Feuilleton berichtet Thomas Urban vom polnischen Entsetzen über die Entscheidung der russischen Generalstaatsanwaltschaft, ausgerechnet am Jahrestag des Massakers von Katyn, die Ermittlungen über den Mord an 4.000 polnischen Offizieren endgültig einzustellen. Holger Liebs mutmaßt, dass die MoMA-Ausstellung auch deshalb so attraktiv ist, weil sie einen "neuen Kanon präsentiert, der Endgültigkeit suggeriert: Es sind die neuen Alten Meister, die hier zu sehen sind." Katharina Müller bewundert die neue Utrechter Universalbibliothek des Architekten Weil Arets. Werner Bloch erzählt von der neuen Universität der gastronomischen Wissenschaft in Turin, an der man nun in Slow-Food-Tradition guten Geschmack studieren kann. Annette Lettau spricht mit dem Direktor der Münchner Glypthotek Raimund Wünsche über die wiederentdeckten Fresken der Innenräumen von Peter Cornelius. Michael Struck-Schloen entdeckt beider neuen Intendantin des Bonner Beethovenfest, Ilona Schmiel, zaghafte Neuansätze.

Vom Germanistentag in München gibt es gleich drei Berichte, allerdings recht kurze: Michael Ott hätte sich ein bisschen "Waghalsigkeit, intellektuellen Glanz und innovationsfreudige Streitlust" gewünscht, Ijoma Mangold lotet das prekäre Verhältnis von Germanistik und Literaturkritik aus, und Julia Encke war bei der Elefantenrunde, die sich an "München 1966" erinnerte. "bru" liefert einen Nachruf auf Johnny Ramone ("Jetzt auch noch die Gitarre!").

Besprochen werden Terry Johnsons Dali-Freud-Stück "Hysteria" in Barcelona, eine Schau von Rubens-Zeichnungen in der Wiener Albertina, eine Retrospektive der Body-Art-Künstlerin Ana Mendieta und Bücher, darunter Petra Werners Humboldt-Buch "Himmel und Erde" sowie zwei philosophische Einführungswerke (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).