Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.10.2004. In der SZ kritisieren der chinesische Dichter Yang Lian und der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama die westlichen Demokratien für ihre Kumpanei mit Diktatoren. Die taz denkt über Kollateralschäden der Terrorpraktiken nach. In der FR präsentiert Raoul Schrott eine Liste arabischer Elemente in unserer Zivilisation. Die NZZ kommt glücklich vom Literaturfestival Berlin zurück.

SZ, 05.10.2004

Der chinesische Dichter Yang Lian (mehr), der kürzlich die in China verbotene "Untersuchung zur Lage der chinesischen Bauern" des Reporter-Ehepaars Wu Chuntao und Chen Guidi für den am Wochenende verliehenen Lettre Ulysses Award vorgeschlagen hatte, übt in seiner Laudatio heftige Kritik an den westlichen Demokratien. Des Profites und der Verlockung des künftigen Marktes wegen schüttelten ihre Vertreter "Hände, an denen Blut" klebe. "So weit ist es gekommen: Dass sich die westlichen Investoren heute mehr sorgen, China könne 'instabil' werden als die KP. Sie brauchen die Diktatur der KP! Deshalb schauen sie etwas verlegen bei allen Schandtaten der Partei in die andere Richtung."

Zusammen mit 100 anderen Politikern und Intellektuellen forderte der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama (mehr) in der vergangenen Woche in einem offenen Brief an westliche Staatschefs eine kritischere Haltung gegenüber Russland. Im Interview kritisiert Fukuyama die westlichen Länder, die wegschauen, wenn Putin gegen demokratische Gepflogenheiten verstößt: "Der amerikanische Präsident George W. Bush braucht einen Alliierten im Kampf gegen den Terrorismus. Deshalb ist er so unkritisch gegenüber Putin", aber "die anderen Regierungschefs verhalten sich ganz ähnlich, wenn auch vielleicht aus anderen Motiven. Für den italienischen Präsidenten Berlusconi, für Bundeskanzler Schröder und andere hat Russland momentan keine Priorität. Und sie haben jeweils gute Gründe, um ihr Verhältnis mit Putin nicht zu belasten. Aber dieses Verhalten ist nicht im Interesse eines demokratischen Russlands. Putin vertraut momentan darauf, dass die internationale Öffentlichkeit abgelenkt ist und dass er mehr oder weniger unbeobachtet seine Macht konsolidieren kann."

Weitere Artikel: Reinhard J. Brembeck beklagt die Auflösung von immer mehr Orchestern aus Kostengründen, Susan Vahabzadeh verabschiedet die Schauspielerin Janet Leigh, die mit der berühmtesten Duschmordszene aller Zeiten unsterblich wurde ("Psycho"). Anke Hilbrenner resümiert eine Tagung der DFG über "Zigeunerforschung" in Europa. Fritz Göttler empfiehlt eine umfangreiche Retrospektive des schwedischen Regisseurs Victor Sjöström im Münchner Filmmuseum. "midt" amüsiert sich über einen erfundenen Dramatiker, dessen Stück jetzt als Theaterstück des Jahres vorgeschlagen wurde. Und in der "Zwischenzeit" bedauert Harald Eggebrecht den Niedergang der Nachhaltigkeit im bäuerlichen Leben.

Besprochen werden Elias Perrigs Inszenierung von Roland Schimmelpfennigs Stück "Die Frau von früher" in Hannover, Torsten Wackers Kinokomödie "Süperseks", eine Essener Aufführung von Felix Mendelssohns wiederentdecktem Singspiel "Der Onkel aus Boston" und Bücher, darunter Stepeh Viziczkys "lässiger" Roman "Wie ich lernte, die Frauen zu lieben", der Debütroman "Ein großes Ding" von Colin McAdams (Leseprobe), ein Buch über das Überleben nach einer Vergewaltigung, eine Interviewband von Roger Willemsen und eine Studie über das Deutschlandbild in polnischen Sprachbüchern zwischen 1933 und 1945 (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Die SZ präsentiert heute ihre Literaturbeilage! Im Aufmacher schreibt Heinz Schlaffer über den Essay als literarische Form der Kostprobe.

TAZ, 05.10.2004

In der Kolumne Theorie und Technik denkt Isolde Charim über die "Kollateralschäden der Terrorpraktiken" nach. "Schockieren war früher eine Strategie, um die Grenzen des Zulässigen auszuloten und zu erweitern. Diese Strategie setzte also so etwas wie Öffentlichkeit voraus. Öffentlichkeit, das ist der Raum, in dem Menschen miteinander umgehen. Dort wird das Gemeinsame, das uns zugleich 'verbindet und trennt', sicht- und hörbar. Hannah Arendt nannte deshalb Öffentlichkeit einen 'Erscheinungsraum'. Was aber wird aus dieser Öffentlichkeit, wenn sie täglich von Bildern des Grauens okkupiert wird?"

Weitere Artikel: Heute beginnt in Frankfurt die Buchmesse mit dem Schwerpunkt arabische Literatur. Daniel Bax porträtiert die ägyptische Schriftstellerin Miral al-Tahawi ("Das Zelt", "Die Aubergine"), die "bemerkenswerteste literarische Stimme" ihres Landes. Gerrit Bartels beschreibt in seiner Auftaktkolumne zur Buchmesse den Wirbel im Vorfeld. Sabine Leucht resümiert das "visionen- und geheimnisarme" Wochenende der jungen Dramatiker an den Münchner Kammerspielen, konzediert einem der Stücke aber:"Glühen, das ist doch schon mal was!" Jan Süselbeck lauschte dem Trio Bernd Rauschenbach, Joachim Kersten und Jan Philipp Reemtsma, die im Rahmen der Ausstellung "Arno Schmidt fotografiert. Bilder aus Bargfeld" gemeinsam in der Berliner Akademie der Künste Arno Schmidts Geschichte "Großer Kain" lasen. In der Zeitschriftenschau werden die neuen Ausgaben von Cicero und Lettre durchgeblättert.

In tazzwei erklären Florian Höhne und Patrick Griesser das Prinzip der Online-Enzyklopädie Wikipedia, an der bekanntlich jeder mitschreiben kann - was zu durchaus unterschiedlichen Ergebnissen führt; begleitend wird die Korrespondenz zwischen dem Autor eines Artikels über die Waffen-SS und seinen Kritikern dokumentiert. Und die Medienseite berichtet über religiöse Reiseberichte für Jugendliche in den USA, in denen das Fremde überwiegend als "barbarisch" vorgeführt wird.

Und hier Tom.

FR, 05.10.2004

Die FR tritt dem Buchmessenschwerpunkt arabische Literatur gar ein Stück Titelseite ab. Hier hat erinnert der österreichische Schriftsteller Raoul Schrott (mehr) alphabetisch aufgelistet an die vielen "arabischen Elemente in unserer Zivilisation". Das fängt mit "Alphabet" an und reicht über Estragon, Mittelscheitel und das Schachspiel bis zur Ziffer.

Im Feuilleton geht es dann weiter: Hilal Szegin resümiert das Symposium "Orient und Okzident" zum Buchmessenauftakt am vergangenen Wochenende im Römer. Und Ursula März denkt in einem Essay über das Verhältnis von Literatur und Glaubwürdigkeit nach. Sie hört neben den "legitimen" Fragen an die Qualität von Literatur neuerdings zunehmend einen "anderen Fragekatalog im Flüsterton" durchdringen: "Ist das wirklich wahr, was da steht? Ist die Geschichte richtig? Stimmt das? Soll man das glauben?"

Weiteres: In Times mager überlegt Hannes Gamillschegg schon mal, ob und wie das Literatur-Nobelpreiskomitee in diesem Jahr die Quotenfrage in Angriff nehmen wird. Gemeldet wird schließlich der Tod der Schauspielerin Antje Weisgerber.

Besprochen werden eine Ausstellung der Architekturvisionen des Katalanen Antoni Gaudi im Paula Modersohn-Becker Museum in Bremen und eine Ausstellung mit Arbeiten der italienischen Malerin Carol Rama im Ulmer Museum.

NZZ, 05.10.2004

Sieglinde Geisel wusste beim Literaturfestival Berlin kaum wohin, so viele Veranstaltungen gab es. Aber das fand sie auch gut so: "Es gibt kaum ein anderes Festival, das eine so unmittelbare Form der Weltbürgerkunde bietet. Die Begegnung mit dem Fremden war zugleich Wirklichkeit und Thema, auch in vielen Lesungen."

Weitere Artikel: In einem Schauplatz Israel berichtet Angelika Timm über Versuche, die arabisch-palästinensische Kultur in Israel zu fördern. Andres Lepik schreibt zum Tod des Fotografen Richard Avedon. Marli Feldvoss schreibt zum Tod der Schauspielerin Janet Leigh.

Besprochen werden eine Gerhard-Marcks-Ausstellung im Stadtmuseum Jena, ein Konzert des Westschweizer Streichquartetts Quatuor Sine Nomine und Bücher, darunter Viktor Pelewins Roman "Die Dialektik der Übergangsperiode von Nirgendwoher nach Nirgendwohin" und Michel Foucaults Vorlesungen über "Gouvernementalität" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Die NZZ präsentiert heute ihre Literaturbeilage! Aufmacher ist eine Besprechung des Briefwechsels Flauberts mit den Brüdern Goncourt.

FAZ, 05.10.2004

Auf der Medienseite erinnert sich Wigald Boning im Interview mit Freuden an die Prominenteninterviews der WIB-Schaukel zurück: "Die WIB-Schaukel war die schönste Arbeit, die ich mir je vorstellen konnte. Eigentlich war die WIB-Schaukel ja ein klassisches Missverständnis mit dem ZDF. Um so schöner, daß dieses Missverständnis erst nach zwei Jahren aufgeklärt wurde. Und einen besseren Abschluss gibt's doch gar nicht: Abgesetzt werden und am nächsten Tag den Grimme-Preis erhalten. Das ist eigentlich nicht zu toppen."

Für's Feuilleton hat Hubert Spiegel Günter Grass in seiner Werkstatt besucht und einigermaßen überrascht festgestellt, dass dieser Hans Christian Andersens Märchen illustriert. Die FAZ durfte einige der Zeichnungen abdrucken. Im Kommentar mokkiert sich "pba" über besserverdienende Befürworter von Hartz-IV. Christian Schuler hat auf einer Münchner Tagung zur Liturgiereform den Niedergang der einheitlichen Glaubenpraxis beobachten können. Hans-Peter Riese trauert dem morbiden Charme des ehemaligen New Yorker Indianer-Museums nach, das jetzt in Washington zum politisch korrekten "Museum of the American Indian" wurde. Außerdem zu lesen: ein Nachruf auf die Schauspielerin Janet Leigh, "das virtuos unter fließendem Wasser verröchelndes Mordopfer in Alfred Hitchcocks 'Psycho'" und ein Geburtstagsgruß zum Sechzigsten des Tänzers Richard Cragun.

Rund um die Frankfurter Buchmesse: Eberhard Rathgeb fühlt sich von der Kommunikationssituation auf der Buchmesse überfordert und schwelgt in Erinnerung an die Zeiten, als noch Transparente geschwenkt wurden und es zum guten Ton gehörte, grimmig dreinzuschauen. Hannes Hintermeier berichtet vom wachsenden Ärger der Buchbranche über den Börsenverein.

Auf der letzten Seite erzählt Joseph Hanimann vom Nomadentreffen im marokkanischen Tan-Tan - es ist seit vielen Jahren das erste Mal, das Treffen kam nur zustande, weil die Uno Marokkos Nomaden zu Kulturgütern erklärt hat. Mark Siemons porträtiert die Gewinner des Lettre Ulysses Award. Und Katja Gelinski erinnert vier Wochen vor den Wahlen daran, dass viele tausend US-amerikanische Häftlinge nicht wählen dürfen.

Besprochen werden Wim Wenders' neuer Film "Land of Plenty", die im Rahmen des Festivals Romaeuropa von der Extremkörperkünstlerin Marina Abramovic aufgeführte Performance "The Biography Mix", David Harrowers Stück "Dark Earth" in Mannheim, die Uraufführung von Enda Walshs "The New Electric Ballroom" an den Münchner Kammerspielen, Sybille Bergs Stück "Das wird schon" am Schauspielhaus Bochum, Janaceks "Aus einem Totenhaus" an der Bonner Oper, die Ausstellung "InkaGold" in der Völklinger Hütte, Minnie Drivers gelungenes Popdebüt "Everything I've Got In My Pocket" und Dirk Kurbjuweits Roman "Nachleben".