Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.10.2004. Die FAZ stellt ein Manifest führender Hirnforscher vor, wonach doch noch so etwas wie der Freie Wille verbleiben soll. Die FR schildert, wie die Franzosen per Faulheit zur Revolution gelangen wollen. Die NZZ beobachtet Simon Rattle beim Erziehen.

FAZ, 15.10.2004

Christian Schwägerl stellt ein Manifest vor, das führende Hirnforscher in der Zeitschrift Geist und Gehirn lancierten - Titel: "Manifest über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung". Zu den Unterzeichnern gehören Wolf Singer (mehr hier) und Gerhard Roth (mehr hier), die in der FAZ-Gehirndebatte jegliche Willensfreiheit des Menschen leugneten, aber auch die Sprechforscherin Angela Fiedrici und die Neurobiologin Hannah Monyer. "Beträchtliche Erschütterungen unseres Bildes von uns selbst" werden da nach Schwägerl angesagt. Aber in der Frage der Willensfreiheit scheint man vorsichtiger geworden zu sein: "Was den Geisteswissenschaften heilig ist, das Individuum und die Freiheit, wird auf Samt gebettet. Eine vollständige Beschreibung des individuellen Gehirns und damit eine Vorhersage über das Verhalten einer bestimmten Person werde nur höchst eingeschränkt gelingen, da einzelne Gehirne sich aufgrund genetischer Unterschiede und nichtreproduzierbarer Prägungsvorgänge durch die Umwelt organisierten. Aller Fortschritt werde nicht in einem Triumph des neuronalen Reduktionismus enden, nicht die eigenständige Innenperspektive abschaffen." Das Manifest ist auf der Internetseite von Geist und Gehirn online gestellt.

Eine erstaunliche Geschichte erzählt Verena Lueken auf der Medienseite - die Geschichte der E-Mail aus dem Irak der Wall Street Journal-Reporterin Farnaz Fassihi, die im Internet kursiert. Es handelt sich eigentlich um eine E-Mail an Freunde, doch sie wird in der ganzen amerikanischen Öffentlichkeit diskutiert. "Frau Fassihi hatte die chaotische, immer unsicherer werdende Lage im Irak in ihren Reportagen wiederholt beschrieben. Sie ist eine brillante Reporterin, darin sind sich alle Kommentatoren einig, deshalb hat sie natürlich niemals von ihren eigenen Arbeitsbedingungen berichtet. In ihrer E-Mail aber tut sie gerade dies, und erst jetzt wird sie wirklich gehört."

Weitere Artikel: Eberhard Rathgeb schickt Notizen aus der immer schon trostlosen und jetzt auch noch untröstlichen Stadt Rüsselsheim. Der Telekommunkationsforscher Edward Castranova und der Volkswirtschaftler Gert Wagner fordern in einem offensichtlich satirisch gemeinten Text, den nächsten amerikanischen Präsidenten per Telefonumfrage zu ermitteln, um so das Problem der mangelnden Wahlbeteiligung zu umgehen. Eleonore Büning lässt einige Konzerte der Berliner Saison Revue passieren und macht uns Ignoranten darauf aufmerksam, welche Höhepunkte (zum Beispiel eine Konzertreihe des Pianisten Pierre-Laurent Aimard) wir schon wieder verpasst haben. Regina Mönch annonciert die Neueröffnung des Bitterfelder Kulturpalastes. Gerhard R. Koch gratuliert dem Komponisten Mathias Spahlinger zum Sechzigsten

Auf der Medienseite berichtet Zhou Derong, dass der Suchdienst Google in China nicht auf Internetseiten verlinkt, die von der Regierung unerwünscht sind (hier eine Erklärung des Google-Teams zum thema). Auf der letzten Seite referiert Jürg Altwegg die Ergebnisse einer Untersuchung über die Universität Lyon III, wo rechtsextreme Kräfte eine Nische fanden. Und Angelika Heinick stellt den Direktor der Stiftung des Konzerns Pinault-Printemps-Redoute, Philippe Vergne, vor, der die Kunstsammlung des Milliardärs Francois Pinault in einem auf der Ile Seguin bei Paris geplanten Bau leiten wird.

Besprochen werden eine Retrospektive des Künstlers Dan Flavin in Washington, eine Ausstellung über Mode, die von der Kunst inspiriert wurde, in Paris und der Film "Genesis" der Franzosen Claude Nuridsany und Marie Perennou, der in 77 Minuten die Entwicklung des Lebens nachzeichnen will.

TAZ, 15.10.2004

In der tazzwei kommentiert Christian Semler die neue Kanzlertugend des Durchhaltens und beochtet eine raffinierte Diskursverschiebung im Osten: "Es geht nicht mehr um die schlichte Tatsachenfeststellung, dass ungeachtet aller Opfer der Arbeitslosen keine Arbeitsplätze vorhanden sind. Vielmehr wird als letzter Grund der ostdeutschen Misere ein Gefühl entdeckt, eine Mentalität. Die Ossis fühlen sich als Bürger zweiter Klasse im vereinten Deutschland. An die Front, ihr sozialdemokratischen Ingenieure der Seele! Stärkt das in der Tat und nicht ohne Grund schwache Selbstbewusstsein der Ostdeutschen. Auf dass sie erhobenen Hauptes und als Staatsbürger erster Klasse zu Beziehern des Arbeitslosengeldes zwei werden."

Im Feuilleton: Susanne Messmer schmilzt über Nick Caves neuen Alben "Abattoir Blues" und "The Lyre of Orpheus", so schön habe der heimatlose Seemann noch nie über den Abgrund gesungen, der laut Messmer glücklicherweise nur bis zu den Knien reicht. Von Mark Terkessides ist ein Text zu lesen, der sich auf eine Fotoreportage über afrikanische Flüchtlinge an der Costa del Sol bezieht. Online sind die Bilder nicht zu sehen.

Besprochen werden die Ausstellung "Wolkenbilder" in der Alten Nationalgalerie in Berlin, die der Entdeckung des Himmels in der Kunst des 18. und 19. Jahrhunderts gewidmet ist.

Und natürlich Tom.


FR, 15.10.2004

Martina Meister stellt einen sehr französischen Überraschungsbestseller vor, das kleine Pamphlet der Psychoanalytikerin Corinne Maier "Bonjour Paresse" (Editions Michalon), ein Lob der Faulheit, das subversiv gemeint ist: "Es ist genau das Porträt des unglücksseligen Büroarbeiters, das Michel Houllebecq bereits vor zehn Jahren in seinem Roman 'Ausweitung der Kampfzone' gezeichnet hatte. Doch Maier rät ihren Lesern und Patienten (denn sie versteht ihr Buch durchaus als Therapie) nicht unbedingt zur sexuellen Ausschweifung, sondern zur stillen Revolte. Ihre Antwort lautet: Arbeitsverweigerung. Denn die falle, wenn man es geschickt anstellt, nicht weiter auf. Langfristig aber trage sie dazu bei, das marode System zu ruinieren."

Weitere Artikel: In Times mager überlegt Harry Nutt, wie Judenwitze im "Big Brother"-Format zu vermeiden wären, wo das Format doch jeden Dreck live zu senden verspricht. Besprochen werden eine Ausstellung des belgischen Malers Luc Tuymans in Düsseldorf, eine Ausstellung des Fotokünstlers Jörg Sasse in Frankfurt und ein Konzert von Giant Sand in Darmstadt.

Im Medienteil berichtet Ralf Siepman über Spardrohungen der öffentlich-rechtlichen Sender bei ihren Orchestern. (Man wolle sich aus "kulturellen Engagements" zurückziehen hatte ja auch schon der ARD-Intendant Fritz Pleitgen angekündigt, nachdem die Gebühren nicht wie gewünscht erhöht wurden.)

NZZ, 15.10.2004

Georg-Friedrich Kühn hat die Berliner Philharmoniker und Simon Rattle bei ihrem Education-Programm beobachtet, das spektakulär mit Strawinskys "Sacre du printemps" und eine Schar von fast zweihundertfünfzig Schülerinnen und Schülern begonnen hat. "Nun durften Sechstklässler dreier Berliner Grundschulen mit Hilfe von allerlei Geräuscherzeugern, Flöten, Harfen und Xylophonen sich ausdenken: Wie 'klingen' Wale und Tölpel, surfende Delphine und emsig schürfende Krabben, seltsam blinkende Tiefsee-Quallen und aufs Eis segelnde Pinguine. Je zwei Orchestermusiker assistierten den Kindern. Den Workshop leitete der Geiger Aleksandar Ivic. Größtes Problem immer wieder: die Kinder in ihrem Bienenschwarm-Treiben zu gelegentlichem Innehalten zu bewegen."

Weiteres: Marcus Bauer besucht in einem "Schauplatz Rumänien" den jüdischen Friedhof des galizischen Sireth. Besprochen werden eine Retrospektive der Arbeiten des Basler Architekten Diener & Diener ("Inbegriff der Deutschschweizer Einfachheit") in der Pinakothek der Moderne in München, die Schau "Phototrophy" mit Arbeiten von Thomas Demand im Kunsthaus Bregenz und schließlich die Installation "Protect me from what I want" in der Basler Kaserne.

Besprechungen auf der Filmseite widmen sich unter anderem Claude Nuridsany und Marie Perennous Film "Genesis", Irwin Winklers Hommage an Cole Porter "De-Lovely" und Dieter Fahrers Film "Que sera"

Auf der Medienseite berichtet "ras" von den Medien-Taktiken der amerikanischen Regierung. So bietet sie Fernsehsendern Berichte im Stile der Nachrichtenagenturen an, die für die Bush-Politk trommeln.

Am vergangenen Sonntag lief zum ersten Mal "Xiang Tiaozhan ma?", die chinesische Version von "Wetten, dass?" mit Thomas Gottschalk als Ehrengast. Anton Piech erzählt die nette Anekdote: "Der chinesische Moderator fragte den deutschen Star, was an 'Wetten, dass?' denn so grossartig sei. Thomas Gottschalk erklärte, dass er in Europa mit 50 Prozent Marktanteil 15 Millionen Zuschauer vor den Bildschirm bekommen könne. Darauf sein chinesisches Pendant: 'Bei so niedrigen Zuschauerzahlen würden wir sofort gefeuert.'"

SZ, 15.10.2004

Der Direktor der Anna-Amalia-Bibliothek, der heldenhafte Michael Knoche, liefert seine derzeitige Schadensbilanz: "55.000 Bände sind als Totalverlust zu verbuchen, 62.000 Bände zum Teil stark durch Wasser und Brand beschädigt..."

Weiteres: Joachim Kaiser preist zum Start seiner "Klassik-Edition" den Pianisten Arthur Rubinstein: Trotz Horowitz und Arrau, waren "Rubinsteins Feuer, seine Poesie, sein polnischer Stolz und sein herrlicher Ton das Beglückendste, was mit in meinem Klavier-Leben begegnete"). Tobias Timm stellt Tino Sehgal vor, der mit seiner immateriellen Kunst Deutschland auf der nächsten Biennale in Venedig vertreten wird. Eines seiner Hauptwerke besteht wohl darin, Frauen vor Museumsbesucher in Ohnmacht fallen zu lassen. Julia Encke porträtiert in der Reihe "Bewegungsmelder" den in Stanford lehrenden Literaturwissenschaftler Hans-Ulrich Gumbrecht, der trotz einschlägiger Golfkriegskommentare ein absoluter Bush-Gegner sein will.

Jeanne Rubner und Thomas Steinfeld streiten darüber, ob uns der "Rat für Rechtschreibung" aus dem ortografischen Schlamassel führen wird oder eher noch tiefer hinein. Oliver Fuchs hat Licht im angeblich düsteren Berlin gesehen: Nancy Sinatra, die ihm auf Promotion-Tour für ihr neues Album "Nancy Sinatra" ein Stündchen geschenkt hat. Lisa Spitz räumt hübsch polemisch mit einigen Irrwitzen des Gesundheitswahns auf. Jörg Häntzschel berichtet von einem Gala-Abend in Erinnerung an Ray Charles.

Besprochen werden Jan Fabres Stück "Crying Body" in Antwerpen, Schnitzlers "Weites Land" am Zürcher Schauspielhaus, Ben Sombogaarts Melodram "Die Zwillinge", die Ausstellung "Schanghai Modern" in der Villa Stuck in München und Bücher, darunter Truman Capotes "Kaltblütig" als Hörspiel und der Briefwechsel zwischen Hans Fallada und seinem Sohn (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).