Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.11.2004. Im Tagesspiegel fragt Khaled, warum eigentlich die ganze Welt wegen zweier Türme traurig ist. In der Welt erklärt Orhan Pamuk das Kopftuch für nicht antidemokratisch. In der SZ erzählt John LeCarre, wie Jassir Arafat roch. Die FAZ taumelt begeistert aus der Hamburger Inszenierung von Schönbergs "Moses und Aaron".

Tagesspiegel, 16.11.2004

"Ich bin ein Sänger, ein Künstler, der Grenzen überschreitet. Aber ich würde nicht sagen, dass ich ein arabischer Sänger bin, der ein Okzidentale geworden ist", sagt der algerische Rai-Sänger Khaled im Interview mit Oliver Hafke-Ahmad. "Früher wurde ich in Frankreich bei FNAC unter World Music einsortiert. Als ich dann mit 'Didi' erfolgreich wurde und in Frankreich als großer Künstler betrachtet wurde, galt ich plötzlich in den Plattenläden als 'französischer Sänger'. Ob mir das missfällt? Nein, ich bin doch unter französischer Fahne geboren worden."
Zur Weltlage erklärt er dann: "Warum ist eigentlich die ganze Welt wegen zweier Türme traurig? Zehntausende Frauen wurden in Bosnien vergewaltigt, in Zaire wurden Menschen mit Macheten massakriert, in Haiti in Reifen verbrannt, die Taliban ermordeten Frauen im Stadion. Aber wegen zweier Türme werden die Menschen wach, alles andere wird vergessen. Das erschüttert mich."

Welt, 16.11.2004

Der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk spricht im Interview mit Ayhan Bakirdögen über den Islam, das Kopftuch und Europa. Er findet es falsch, das Kopftuch mit einer antidemokratischen Haltung gleichzusetzen. "Leider betrachten auch viele Angehörige der westlich orientierten türkischen Eliten diese Menschen so. Deshalb konnte der politische Islam in der Türkei einen Aufschwung erleben. Die elitären Kreise kennen ihr eigenes Land nicht und sehen die religiösen Neigungen ihres Volkes als politische Aktivitäten an. In der westlichen Welt gibt es oft kaum Kenntnisse über den Islam. Deshalb werden Kopftuchträgerinnen und alles, was mit dem Islam zu tun hat, rassistisch gebrandmarkt. Viele Europäer kennen die Türkei nicht, wollen die Türken nicht unter sich haben und grenzen sie deshalb aus. Man kann mit ihnen oft nicht diskutieren, weil sie Vorurteile haben."

FR, 16.11.2004

Louise Brown berichtet über ein Kunstprojekt von Gregor Schneider, der - nachdem er sein Elternhaus in ein Venedig-Biennale-taugliches "Totes Haus Ur" verwandelt hatte - nun in London zwei eineiige Zwillingspaare zwei identische Häuser bewohnen lässt (mehr hier). "Das Einbeziehen von Menschen ist eine radikale Wendung in Schneiders Arbeit. Bisher kamen sie nur in Form einer gewissen Hannelore Reuen vor, seinem alter ego, die meist bewegungslos in einer Ecke lag."

Weitere Artikel: "Was folgt nach Multi-Kulti", fragt Harry Nutt in einem Kommentar der Ereignisse in den Niederlanden. Elke Buhr verabschiedet Ol'Dirty Bastard, der als Mitbegründer des Wu-Tang Clubs den HipHop der Neunziger geprägt hatte und nun knapp 36-jährig gestorben ist. Und in Times mager huldigt Thomas Medicus dem neuen Direktor des Marbacher Literaturarchivs, Ulrich Raulff: mit ihm sei ein Vertreter der "schwebenden Generation", der garantierte Ämter oder Posten eben gerade nicht sicher sein konnten, zu Würden gelangt.

Besprochen werden eine Inszenierung von Arnold Schönbergs "Moses und Aron" an der Hamburgischen Staatsoper, die Werkschau des japanischen Architekten Kazunari Sakamoto im Münchner Architekturmuseum und Alice Schmids "Tagebuch aus dem Jahr 1954" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 16.11.2004

In den USA werde politische Macht nur durch "Androhung von Gewalt auf fundamentalistische Weise ernst genommen" behauptet der Soziologe Dirk Baecker in seiner Kolumne. "Die Amerikaner haben anlässlich der Produktion einer radikalen Differenz durch den Terror von al-Qaida wiederentdecken müssen, dass politische Ordnung nur dort möglich ist, wo die Androhung von Gewalt dazu eingesetzt werden kann, Angreifer von innen oder außen abzuschrecken. Allerdings mussten sie gleich im Anschluss auch das zweite Grundgesetz der Politik wieder am eigenen Leibe erleben, nämlich die Tatsache, dass die Macht dort schon wieder verloren ist, wo die Gewalt nicht nur angedroht wird, sondern tatsächlich eingesetzt werden muss. Macht hat der, der sich darauf beschränken kann, den Knüppel zu zeigen. Wer mit ihm zuschlägt, verliert nur bei denen nicht seine Macht, die sich davon wiederum beeindrucken lassen."

Auf den Kulturseiten liefert Dirk Knipphals eine Liebeserklärung an die Fernsehserie "Six Feet Under" ab: "Familie, das ist vielmehr der Ort, bei dem man unwillkürlich landet, wenn es um die letzten Dinge geht: Tod, Geburt, Liebe, Anerkennung." Jan Hendrik Wulf stellt die erste Nummer von WestEnd vor, der neuen Zeitschrift des Frankfurter Instituts für Sozialforschung (mehr).

Besprochen werden schließlich das neue Album "Encore" von Eminem sowie Brad Andersons Kino-Thriller "The Machinist". Und in tazzwei rezensiert Max Dax den ersten Band der Autobiografie von Bob Dylan (siehe dazu unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

Schließlich Tom.

NZZ, 16.11.2004

In der NZZ heute nur Besprechungen: Paul Jandl stellt eine Ausstellung im Wiener Architekturzentrum vor, die die Stadtutopie "Sociopolis" des spanischen Architekten Vicente Guallart präsentiert. Dieser hat den Hortulus, den mittelalterlichen Klostergarten wiederentdeckt und zur Grundlage seines Entwurfes gemacht. Peter Hagmann musste "ein schwer auszuhaltendes Brüllen" und viel zu wenig "Souplesse" bei der Zürcher Inszenierung von "Pelleas et Melisande" erdulden. Außerdem wird auf eine Kurzfilmausstellung ("Zehn Filme a 3 Minuten macht 30 Minuten Ausstellung") in der Frankfurter Schirn verwiesen und die am Freitag zuende gegangenen Tage für Neue Musik in Zürich resümiert.

Schließlich Bücher: Andreas Breitenstein geht vor Imre Kertesz und seiner neuen "Detektivgeschichte" auf die Knie: "So universal ist seine Literatur, so undogmatisch und unaufgeregt, dass sie die Würde des Nobelpreises mittlerweile weit übersteigt". Außerdem besprochen werden Prosastücken von Adelheid Duvanel, ein Schelmenroman von Xu Xing, Philippe Claudels Roman "Die grauen Seelen" sowie Neuere Publikationen zu Franz Rosenzweigs Hauptwerk (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 16.11.2004

In einem kurzen Text erzählt John Le Carre, wie er Jassir Arafat im Jahr 1982 traf. "Seine Bartstoppeln fühlten sich seidig an. Es roch nach Johnson's Babypuder. Ich hatte davon gehört, dass die Henker im Mittelalter diejenigen umarmten, die sie hinrichten sollten, aber niemand hatte mir erzählt, dass sie dafür Babypuder auflegen."

Weitere Artikel: Im Aufmacher denkt Burkhard Müller unter der Überschrift "Ich werd verrückt!" über George Bushs Sieg, Arafats Tod und die Epoche nach. Seine Lehre: Die Windstille signalisiert nicht das Ende der Geschichte, sondern den nahenden Sturm." In der Serie über Kunstsammler porträtiert Johannes Willms den Duisburger Sammler Hans Grothe, der ganze Werkensembles etwa von Kiefer, Polke und Baselitz zusammengetragen hat (mehr hier). Alexander Kissler fasst ein Streitgespräch zur Re-Nationalisierung durch Globalisierung zusammen, zu dem sich unter anderem Klaus von Dohnanyi, Frank Bsirske, Heiner Flassbeck und Wolfgang Clement in Tutzing zusammenfanden. Ralf Berhorst resümiert eine Berliner Tagung über "Heilige Kriege - Zur politischen Theologie der Feindschaft". Und in der "Zwischenzeit" erinnert Harald Eggebrecht an den kürzlich im Alter von 96 Jahren gestorbenen Violinvirtuosen Ricardo Odnoposoff, dessen "Lebenspointe" darin bestand, bei einem Wettbewerb 1937 David Oistrach "fast" geschlagen zu haben.

Besprochen werden Peter Konwitschnys Inszenierung von Schönbergs "Moses und Aron" an der Hamburgischen Staatsoper, die Uraufführung des dritten Dramas von Peter Stamm "Die Töchter von Taubenheim" in Luzern, Keith Jarretts Solokonzert im Wiener Musikverein, das neue und angeblich letzte Album von Eminem, "Encore", eine DVD mit Francois Ozons "Unter dem Sand" und drei ganz frühen Filmen, die Ozon auf Super-8 mit Mitgliedern seiner Familie gedreht hatte. Außerdem Bücher, darunter einer Studie über den Physiker Wolfgang Pauli, der dritte Romanband von Eckhard Henscheids gesammelten Werken, die frühen Erzählungen aus dem Nachlass von Rainer Maria Rilke und ein Hörbuch mit Gogols "Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen" (mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 16.11.2004

Eine "bezwingende" Inszenierung von Schönbergs "Moses und Aaron" in der Inszenierung von Peter Konwitschny und Ingo Metzmacher hat Jürgen Kesting in Hamburg gesehen: "Bestechend die szenische Umsetzung des Interludiums. Die Altistinnen des Chors skandieren flüsternd, aber messerscharf deutlich den ersten Takt: 'Wo ist Moses?' Die Baritone: 'Wo ist der Führer?' Danach wird die Musik unterbrochen. Moses sitzt auf dem Berg und hämmert auf die Tasten einer Schreibmaschine. Reißt ein Blatt heraus, liest es und wirft es auf einen Berg zerknüllter Blätter verworfener Gedanken. Spannt das nächste Blatt ein und wieder ein Blatt und wieder und wieder. Nach der zwei Minuten kurzen Doppelfuge, als grelle Cabaret-Nummer vorgeführt, bestürmen die siebzig Ältesten, nun wieder in der Kantine, den ratlosen Aron." Großes Lob auch für die Sänger Frode Olsen (Moses) "mächtig von Statur, gewaltig von Stimme", Reiner Goldberg (Aaron) "singt die Partie noch immer glorios" und den "nicht nur brillant singenden, sondern auch glänzend agierenden Chor".

Weitere Artikel: Hubert Spiegel annonciert den Vorabdruck von Gabriel Garcia Marquez' neuem Roman in der FAZ. Christian Geyer macht aus dem neuen "Medikamenten-TÜV" eine Kulturrevolution: Damit "ist die Pharmakritik nun nicht länger das exklusive Geschäft einzelner Enthüllungsbücher, sondern ein gleichsam institutionell beglaubigter Vorgang." Martin Lhotzky unternimmt einen Gang durch das Portal zur Geschichte in Gandersheim, das zur Zeit nur im Internet zu besichtigen ist. Gina Thomas meldet, dass der Chefredakteur des Spectator und Sprecher für Kulturfragen der britischen Konservativen, Mr. Boris de Pfeffel Johnson, über eine außereheliche Affäre gestolpert sei. Zhou Derong schreibt zum Tod der amerikanischen Historikern Iris Chang.

Auf der letzten Seite porträtiert Andreas Platthaus den Comiczeichner Stefano Ricci. Verena Lueken erzählt eine Geschichte aus Neuseeland über eine Afghanin, die als Zeugin vor Gericht ihre Burka nicht ablegen wollte, weil das ihr und ihrer Familie Schande mache. Die Neuseeländer waren darüber ziemlich erbost, fanden sie doch, der Vorwurf gegen ihren Ehemann, in einen Betrugsfall verwickelt zu sein, mache der Familie weit mehr Schande. Wiebke Hüster freut sich über den ersten Ballettabend von William Forsythe.

Besprochen werden eine Ausstellung über Kunst und Kultur Jordaniens im Alten Museum Berlin, eine Fotoausstellung über die Diktatur in Argentinien von Marcelo Brodsky im Jüdischen Museum Berlin, die Aufführung von Martin McDonaghs "Kissenmann" im Münchner Residenztheater und ein Konzert des Dave Brubeck Quartetts in Frankfurt.