Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.11.2004. In der FAZ warnen die Thrillerautoren Jens Johler und Christian Stahl : Unsere Hirne werden manipuliert werden. Die NZZ stöhnt: Provinznest Berlin! In der taz beklagt Zafer Senocak einen antimoslemischen Antisemitismus. In der SZ bedauert Robin Detje die armen Westberliner als eigentliche Verlierer der Wende.

NZZ, 22.11.2004

Provinznest Berlin, stöhnt Claudia Schwartz angesichts der jüngsten hauptstädtischen Kulturpossen, der unglücklichen Suche nach einem Chef für die Berliner Opernstiftung und der Streit um die unsäglich platte Kreuzinstallation samt fotogener Mauerattrappe am Checkpoint Charlie. Was hat die argwöhnisch beäugte Liaison zwischen PDS und der Kultur Berlins für die Stadt gebracht? "Ein ideologischer Rückfall ist nicht zu verzeichnen, aber unliebsame Themen werden verdrängt. Daraus folgt eine zunehmende Kluft zwischen einer symbolischen, vom Bund getragenen nationalen Hauptstadtkultur mit Jüdischem Museum, Holocaust-Mahnmal oder Filmfestspielen und den Inszenierungen berlinisch-nachbarschaftlicher Klientel-Politik, die oft die Züge eines westöstlichen Komödienstadels annimmt."

Weitere Artikel: Marc Zitzmann berichtet über den von Präsident Chirac angeordneten Bau eines Museums für Stammeskunst und die Schaffung einer Abteilung für islamische Kunst im Louvre. Sören Urbansky schreibt zum 200. Geburtstag der russischen Universität Kasan, die schon bessere Tage gesehen hat. Annonciert wird, dass Stuttgarts Kunstsammlung in einen sich "unaufdringlich gebenden" Glaskubus am Schlossplatz umziehen darf und dass das Europäische Zentrum der Künste Hellerau in Dresden die erste szenische Gesamtaufführung der Stockhausen-Oper "Licht" dem Schöpfer zum 80. Geburtstag im Jahre 2008 widmen will (mehr hier).

Besprechungen gelten einer Ausstellung zur Geschichte des künstlerischen Austauschs zwischen Italien und Russland, die in Rom und später in Moskau zu sehen sein wird, einer "Nussknacker"-Aufführung in Basel sowie Konzerten von Fazil Say und von Pierre-Laurent Aimard in Zürich.

FR, 22.11.2004

Sebastian Nübling inszeniert am Staatstheater Hannover William Shakespeares "Was ihr wollt" als Geschlechterwirrung, berichtet Florian Malzacher. Jedenfalls auf den ersten Blick. Inhaltlich konsequent sei der Regisseur nämlich nicht. "Denn gleich wieder vergisst Nübling die Gendertrouble, sie waren nichts als Wichtigtuerei; die Körper haben hier kein sonderliches Gewicht. Selbst dass der Hofnarr einen BH trägt, hat nicht wirklich was zu sagen. Gleich geht alles wieder seinen heterosexuellen Gang. Alles nur Probierhäppchen."

Weiteres: Christian Thomas erklärt in Times mager, dass eine Leitkultur in der Auseinandersetzung mit dem Islamismus wenig taugt. Stefan Schickhaus hat sich auf der Operngala amüsiert, mit deren Besuch die "Freunde der Oper Frankfurt" immerhin die Hälfte des saisonalen Bühnenetats bestritten haben. Karin Ceballos-Betancur fasst auf der Medienseite ein Symposion zusammen, das sich mit dem Einfluss der Medien auf laufende Strafverfahren beschäftigte.

Besprochen weren eine archäologische Designausstellung im Pariser Palais de la porte Doree, Dietrich Hilsdorfs unsentimentale Version der "Katze auf dem heißen Blechdach" am Staatstheater Wiesbaden und einige Frankfurter Kulturereignisse.

Welt, 22.11.2004

Im Forum der Welt macht Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm die rot-grüne Koalition verantwortlich für die Integrationsunwilligkeit von Einwanderern in Deutschland: "Mit dem Anspruch, unsere Gesellschaft umzukrempeln, ist Rot-Grün angetreten - Beliebigkeit ist Trumpf. Damit verliert jede Gesellschaft die Integrationsfähigkeit. Es fehlt der nötige Kitt gemeinsamer Geschichte oder nationaler Kultur, der zum Beispiel Zuwanderern aus aller Welt in den USA die Integration erleichtert (...) Die zweite und dritte Einwanderergeneration lebt heute in Parallelgesellschaften, die wir nicht nur zuließen, sondern sogar förderten. 'Muttersprachlicher Unterricht' ist nur eine der Torheiten, die uns als Weg zum multikulturellen Glück verkauft wurden. Es muss ernst gemacht werden mit der Integration, gegebenenfalls mit den Mitteln des Anreizes oder des Zwangs." (Der gute Mann vergisst dabei, dass es die Regierung Kohl war, die den Einwanderern jahrzehntelang die Staatsbürgerschaft verweigerte!)

Im Kulturteil setzt Leon de Winter sein Tagebuch fort. Er macht das "linke Medienestablishment" verantwortlich für die Probleme mit den Einwanderern: Es habe "jahrzehntelang jeden Ansatz zu einer sachlichen Diskussion im Keim erstickt. Immigranten kamen aus unterdrückten Kulturen und wurden demzufolge in unserem Land zu unterdrückten Gruppen und Individuen - dass Ansprüche an sie gestellt werden müßten, ließ sich unmöglich vorbringen."

Der Germanist Joachim Dyck schließlich schreibt zur trostlosen Lage der Geisteswissenschaften.

FAZ, 22.11.2004

Die Thrillerautoren Jens Johler und Christian Stahl ("Das falsche Rot der Rose", Europa Verlag) nehmen Stellung zum Manifest von zwölf Hirnforschern in der Zeitschrift Gehirn und Geist und werfen der Hirnforschung vor, unsere Hirne (höchstwahrscheinlich im Auftrag von George W. Bush) manipulieren zu wollen: "'In diesem zukünftigen Moment'", heißt es im Manifest, 'schickt sich unser Gehirn ernsthaft an, sich selbst zu erkennen.' Verkenne dich selbst! In Wahrheit geht es durchaus nicht um 'wir' und 'unser' und darum, dass irgendein Gehirn sich selbst erkennt. Es geht darum, dass Forscher mit Computern, Elektroden, Chips und Drogen sich 'in diesem zukünftigen Moment' anschicken, zum Angriff auf unsere Gehirne überzugehen. Und wir, wir Alltagsgehirne, sollen die Forschungsgelder zahlen und im übrigen abwarten und zuschauen und Scheindebatten führen über Menschenbild und Humanwissenschaften und Reduktionismus und darüber, ob sie es wohl 'schaffen' oder nicht."

Weitere Artikel: Eberhard Rathgeb erzählt, wie er wöchentlich mit dem Zug von Hamburg, wo er wohnt, nach Frankfurt, wo er arbeitet, fährt, und was ihm dabei so für Gedanken kommen. Gerhard Stadelmaier freut sich in der Leitglosse, dass Tennessee Williams' "Katze auf dem heißen Blechdach" nach fünfzigjähriger Absenz auf deutschen Bühnen plötzlich wieder überall gespielt wird. Jordan Mejias besucht das gerade eingeweihte, vom Büro Polshek Partnership entworfene William J. Clinton Presidential Center in Little Rock, Arkansas, für das der Ex-Präsident bei privaten Spendern immerhin 165 Millionen Dollar locker machte. Gina Thomas besucht die Schottische Nationalgalerie, die ihre Erweiterung mit einer Ausstellung über das Zeitalter Tizians feiert. Andreas Rossmann meldet, dass die Zeche Zollverein vom "International Council on Monuments" and Sites (Icomos) wegen allzu kecker architektonischer Präparierung auf die Rote Liste des Weltkulturerbes gesetzt wird. Andreas Rosenfelder stellt die Internetplattform Campact vor, die politisches Engagement (zum Beispiel für eine deutsche Volksabstimmung zur EU-Verfassung) ins Netz tragen will. Gerhard R. Koch reiste nach Korea, um ein mit traditionellen Mitteln in Szene gesetztes Musiktheaterstück zu bewundern, das die Versöhnung mit Japan zum Thema hat ("Erlebt man nun 'Jebi' als erste Changgeuk-Aufführung, so ist man überwältigt von der sinnlichen Fülle, Strenge wie Wildheit dieses Musiktheaters").

Auf der Medienseite meldet Kerstin Holm, dass ein Tschetschene als Mörder des Journalisten Paul Klebnikow festgenommen wurde. Und Nina Rehfeld berichtet über Anstandsregeln des amerikanischen Fernsehens, die inzwischen sogar dazu führen, dass Filme wie "Saving Private Ryan" abgesetzt werden (aber nicht wegen der Gewalt, sondern wegen "strong language").

Auf der letzten Seite plädiert Wolfgang Sandner dafür, nun auch Kinderuniversitäten für Erwachsene einzuführen. Und Heinrich Wefing stellt den Autor Kevin Starr vor, der sich als Historiker Kaliforniens verdient machte.

Bsprochen werden ein Konzert der Sängerin K. D. Lang in Berlin, eine Hitler-Revue von Jürgen Kuttner an der Vokslbühne (und ganz nebenbei dann doch noch Christoph Schlingensiefs Spektakel "Kunst und Gemüse"), John Duigans Kinomelodram "Head in the Clouds", ein Konzert des Rocksängers Chuck Prophet in Hamburg und Sachbücher, darunter "Multitude", der neue Theorieklassiker von Toni Negri und Michael Hardt.

TAZ, 22.11.2004

Zafer Senocak befürchtet in einem Debattenbeitrag eine Ausgrenzung des Islams aus dem europäischen Denken: "Längst vergessen ist die empathische Annäherung aus der Epoche der Aufklärung. Nicht selten werden die Muster des antisemitischen Diskurses heute nicht mehr auf die Juden, sondern auf die Muslime angewandt. Dunkelhäutige Menschen aus einer fernen, finsteren Zeit bedrohen das weiße, aufgeklärte Europa. Der Rassismus braucht heute keine pseudowissenschaftliche Grundlage wie in der Vergangenheit, er ist eine Gefühlsregung, ein instinktiver Akt der Ausgrenzung."

"Ich bestehe nur darauf, dass sich Künstler, Kritiker und Institutionen Rechenschaft darüber ablegen, warum sie ein größeres Publikum anstreben. Wenn die einzige Antwort darauf ist, um eine größere Nachfrage nach Produkten und Dienstleistungen zu erzeugen, dann haben wir alle verloren." Im Interview mit Sebastian Moll sorgt sich die New Yorker Künstlerin Andrea Fraser über den populistischen Kurs des MoMA.

Weiteres: Michael Tschernek spricht mit der Soulsängerin Anita Baker über ihr Comeback, den Glamour vor und die Ekstase während der Show. In der zweiten taz hat Helmut Höge aus einem Interview der Münchner Zeitschrift Gazette mit dem Sozialforscher Alexander Nikulin erfahren, wie sehr Russlands Gesellschaft auf Diebstahl basiert. Clemens Niedenthal reflektiert 25 Jahre der tragbaren Musik und erkundet, warum niemand mehr die handgefertigten Eisenbahnen von Märklin kaufen will. Niklaus Hablützel stellt das neubenannte altgediente Projekt des Napster-Gründers vor.

Auf der Medienseite erzählt Tobias von Heymann, wie wenig mitfühlend Redakteure der "Neuen Revue" aus dem Haus getrieben werden sollten - erfolglos. Besprochen wird nur das Berliner Konzert der Gruppe "The Kings Of Leon".

Schließlich Tom.

SZ, 22.11.2004

Robin Detje ist beeindruckt, wie geschickt der Berliner Kultursenator Thomas Flierl (Ost) seine Kritiker (West) durch machtbewusste Gelassenheit vorführt: "In der Politik verliert oft der Aggressor, der sich als Aggressor zu erkennen gibt. Wer aber die Opferrolle erobert, darf Märtyrerpunkte sammeln und liegt sofort vorn. Da haben es die Wessis schwer, mit den Negern mitzuhalten. Nicht zufällig kam aus dem Publikum das Wort Schiller-Theater ins Spiel. Die Schließung der Charlottenburger Frontstadt-Bühne am 22. Juni 1993, das ist die Dolchstoßlegende des alten Westberlin. Nun soll auch noch das Ost-Pendant Deutsches Theater in Ossihand gegeben werden, obwohl man es doch bis zur Wiedereröffnung des Schiller-Theaters lieber als Geisel des Westens behalten hätte. Wenn Neger Hein erst einmal im DT sitzt, wird eine 'Bewegung 22. Juni' Brandfackeln schleudern und die sofortige Freilassung des Geistes von Boleslaw Barlog fordern. Sind die Westberliner nicht die eigentlichen Verlierer der Wende?"

Weiteres: Gustav Seibt genießt in einer Ausstellung mit Himmelsbildern in der Alten Nationalgalerie in Berlin den "Reiz weit gespannter Himmel mit schönen Grauwerten über dem bräunlichen Grün des Landes; oder die Sturmwolken der See über scheiternden Schiffen." Günter Verheugen, der neue EU-Industriekommissar, beklagt sich bei Franziska Augstein über die Lieblosigkeit, mit der die EU behandelt wird. "Ich kann nicht erkennen, dass es in Deutschland in der politischen Klasse noch viele gibt, für die Europa eine Herzensangelegenheit ist." Zum Auftakt einer Reihe über die Veränderungen in der europäischen Universitätslandschaft kritisiert Clemens Pornschlegel die hiesigen Reformen und Einsparungen. Denn "politisch bedeutet es die Selbstaufgabe Europas." Alexander Kissler sieht in der UN-Einigung auf eine unverbindliche Klondeklaration den Anfang vom Ende des Normativen.

Johannes Willms ehrt die Autorin Soazig Aaron, die heute den Geschwister-Scholl-Preis der bayerischen Verleger und Buchhändler erhält. Fritz Göttler hat auf dem 24. Studentenfilmfestival in München eine Reihe "denkwürdiger" Deja-vus erlebt. Auf der Medienseite resümiert Marcus Jauer Geschichte und Rolle des Sandmanns in der DDR. Und Cornelia Bolesch macht darauf aufmerksam, wie wenig die Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Europa geklärt ist.

Besprochen werden Anselm Webers Inszenierung des "Rosenkavaliers" in Essen, die Uraufführung von Anja Hillings "Mein junges idiotisches Herz" in den Münchner Kammerspielen, die "gut eine Stunde fast unbeschwertes Schauspielvergnügen" bot, eine Ausstellung über Japans vorkaiserliche Frühgeschichte im Berliner Martin-Gropius-Bau, Terry Zwigoffs von den Coen-Brüdern produzierter Film "Bad Santa" mit Billy Bob Thornton, und Bücher, darunter eine Auswahl der Briefe von Jurek Becker, Heribert Tenscherts Katalog mit "hinreißenden" Bibeldrucken sowie Nelly Glimms meisterhaftes Melodram "Das Wasserjahr" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).