Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.08.2005. In der Welt stellt Rolf Schneider richtig: Die DDR war nicht proletarisch, sondern kleinbürgerlich. Die FAZ wirft einen Blick auf die kommende Theatersaison: Sie wird links und fromm. In der SZ fragt Alfred Grosser nach den Gründen für die soziale Unzufriedenheit in Europa.

Welt, 10.08.2005

"Die DDR war kein proletarisierter Staat, er war die vollkommene Kleinbürgerei", stellt der Schriftsteller Rolf Schneider in Hinblick auf Jörg Schönbohms Deutungsversuche des neunfachen Kindermords von Frankfurt an der Oder klar. Wenn es eine Verelendung gegeben habe, dann nach 1989: "Eine Abstumpfung und Verrohung unter der SED-Herrschaft hat es gewiss gegeben, doch ebenso gab es bei den Leuten eine ausgeprägte Solidarisierung und Mitmenschlichkeit: als Reaktion auf den obrigkeitlichen Druck. Den Fortfall solcher Haltungen nach der Wende von 1989 empfinden viele als schmerzlichen Verlust und sehen eben darin eine Ursache für die erwähnte Brutalisierung. Dass materielle zur seelischen Verelendung führen kann, scheint ebenso unabweisbar."

FAZ, 10.08.2005

Gerhard Stadelmaier wirft einen Blick auf die kommende Theatersaison in Deutschland und stellt fest: "Die Saison 2005/06 wird stark links und fromm." Einerseits, so Stadelmaier, gibt es einen theaterdemografischen Trend hin zu Messiasgestalten, wie dem von Christoph Schlingensief fürs Burgtheater angekündigten "Sadochrist Matthäus". Andererseits richtet die Globalisierung die vielfach beklagten Verwüstungen in den Seelen der Autoren und Regisseure an: "Die allgemeinen sozialen Verwerfungen, der Kapitalismus, die Arbeitslosigkeit, das Versagen der Politik und der Wirtschaft vor den Aufgaben der Zukunft, die Rat- und Hilflosigkeit der herrschenden Klassen: All das sucht sich offenbar nun auch sein theatralisches Ventil. Oder wenigstens Etikett."

Weitere Artikel: Patrick Bahners greift in der Leitglosse den gestrigen Auftritt Otto Schilys vorm Bundesverfassungsgericht auf. Hwang Chi-woo, der Leiter der koreanischen Delegation bei der kommenden Buchmesse, freut sich, die Anreise einiger nordkoreanischer Kollegen in Aussicht stellen zu können. Heinrich Wefing meditiert über eine zufällige Begegnung mit dem NRW-Ministerpräsidenten a.D. Peer Steinbrück auf der Friedrichstraße. Gemeldet wird, dass das abgebrannte Schloss Elmau wiederaufgebaut werden soll. Wolfgang Sandner gratuliert dem georgischen Komponisten Giya Kancheli zum Siebzigsten. Jürgen Tietz fürchtet Abrisse und Neubauten von Kongresszentren in Zürich. In der Reihe "Wir vom Politischen Archiv" stellt Gerhard Keiper ein Foto von den Bauarbeiten zu einem Monument vor, mit dem Wilhelm II. die Chinesen nach der Niederschlagung des Boxer-Aufstands demütigte.

Auf der Medienseite berichtet Norbert Kuls über Verwerfungen im Murdoch-Clan, welche Nachfolgefragen im zugehörigen News-Corp-Konzern aufwerfen. Regina Mönch kritisiert die Berliner Zeitung, die einem CDU-Politiker einen Besuch bei einer Prostituierten unterstellt. Christian Deutschmann berichtet über einen Streit beim RBB, wo ein Chefmoderator Goebbels-Äußerung zur Rundfunkpolitik zustimmend zitierte.

Für die letzte Seite besucht Dirk Schümer ein Don Camillo und Peppone gewidmetes Museum in Brescello. Günter Paul schreibt anlässlich der glücklich heimgekehrten "Discovery" über Risiken der Raumfahrt. Und Alexandra Kemmerer präsentiert den konservativ-libertären Juristen und Publizisten Richard A. Posner (mehr hier und hier), welcher sich freiheitliche Impulse von Bloggern erwartet, obwohl sie doch nur "parasitär vom professionellen Journalismus zehren".

Besprochen werden der Film "Sin City" (mehr hier), die Ausstellung "Les Grands Spectacles - 120 Jahre Kunst und Massenkultur" in Salzburg, eine Gustav-Metzger-Ausstellung in Wien, Konzerte der Ansbacher Bachwoche und Martin Kusejs Inszenierung von Grillparzers "König Ottokar" in Salzburg (die Erna Lackner etwas zu laut und politisch war: "Grillparzer war Wiener, und Kusej ist eben ein wilder Kärntner", seufzt sie am Ende.)

TAZ, 10.08.2005

Christiane Kühl erzählt, wie das Theaterprojekt "Berlin - Bagdad 2005. Irakisch-deutsche Theatervisionen" vergeigt wird. Die Regisseure sind zerstritten, die Organisation chaotisch. Als Kühl "im fiesesten Sommergewitter den Weg bis zum Schrebergarten des irakischen Kulturvereins in Berlin-Lichtenberg fand, um einen Vortrag 'Zur Situation des irakischen Theaters' und eine Diskussion seiner Theaterschaffenden zu hören", stellte sie fest: "kein Dolmetscher. Wer nicht des Arabischen mächtig ist, konnte auf der Hacke kehrtmachen."

Sandra Frimmel beschreibt den Bauboom in Moskau: Auf der Moskwa-Insel Strelka werden derzeit alte Fabrikgebäude in Spielstätten für zeitgenössische Kunst umgewandelt - auf diese Weise entgehe die in der Hauptstadt stark gefährdete alte Baustruktur dem allzu schnellen Abriss. "Doch die Art Strelka stellt nur eine Interimslösung in der kurzen Übergangsphase von Postperestrojka zu bourgeoisem Glamour dar. Die Gebäude der Schokoladenfabrik Roter Oktober sollen laut Plänen der Stadtverwaltung bis 2006 abgerissen werden, um dem Bauprojekt 'Goldene Insel' zu weichen, das die Bebauung der Strelka mit Hotels, Vergnügungs- und Businesskomplexen vorsieht."

Besprochen wird der Film "Sin City" von Robert Rodriguez, der sich für Rezensent Andreas Busche leider allzu "sklavisch" an die Vorlage von Frank Miller gehalten hat.

Schließlich Tom.

FR, 10.08.2005

Rüdiger Suchsland resümiert begeistert das 19. Fantasy Filmfest, das zur Zeit in Frankfurt Station macht: Die Asiaten sind die Größten! Besonders angetan hat es ihm der neue Film von Derek Yee. "Mit 'One Nite in Mongkok' ist Derek Yee ein großer Wurf gelungen, ein Film, der von einem Leben ohne Zukunft erzählt, ganz im Jetzt und Hier und zugleich in der Tradition von Melville und John Woo ... er ist virtuos inszeniert und von klassischer Eleganz. Mit viel Witz zeigt 'One Nite in Mongkok' einen Landmenschen in der Großstadt, einen, der nicht Kantonesisch lesen und nicht mit Gabeln essen kann. Zugleich ist der Film ein Beispiel für die neue Härte im Hongkong-Kino: ein Trend zum unverklärten Blick auf das Leben der Gangster, der schon in Johnnie Tos 'Election' im diesjährigen Wettbewerb von Cannes zu beobachten war."

Weitere Artikel: Norbert Seitz wundert sich über die Einstimmigkeit, mit der alle Parteien sich neuerdings für die Schaffung eines Bundeskulturministeriums einsetzen. Elke Buhr kommentiert die Übernahme des Plattenlabels der HipHop-Gruppe Die Fantastischen Vier Four Music durch Sony/BMG. Und in Times mager staunt Christoph Schröder über die - erfolgreiche - Schadensersatzklage eines ungarischen Autors gegen seinen Verlag, weil dieser ihn in rauchender Pose auf dem Cover abgebildet hatte.

Auf der Medienseite zieht der Militärstratege Daniel Ellsberg, der 1971 die "Pentagon-Papers" an die New York Times übergeben hatte, die die Welt darüber aufklärte, was in Vietnam wirklich geschah, im Interview Parallelen zwischen Nixon und Bush: "Damals haben Millionen von Leuten demonstriert und auch gestreikt. Ich hoffe, dass sich Amerika auch heute gegen eine wildgewordene Regierung wehrt, die sich nicht um Verträge und internationales Recht schert. Es sollte ein Impeachment-Verfahren gegen Bush geben, bevor die Bomben auf Iran fallen. Wenn es einen neuen 11. September gibt, wird das Weiße Haus das Land unter Kriegsrecht stellen. Dann ist es zu spät."

Besprochen werden Bücher, darunter der Roman "Meines Helden Platz" von Lajos Parti Nagy (hier eine Leseprobe) und eine Biografie über Gregor Gysi von Jens König (mehr dazu unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 10.08.2005

Überzeugende Filme, großartige Schweizer Beiträge und prächtiges Wetter hat Andreas Maurer bisher beim Filmfestival in Locarno genossen - und eine bestens aufgelegte Susan Sarandon: "Smart, sexy, sozial engagiert (und ein wenig erkältet), hatte sie lauter druckreife Antworten in petto. 'Jeder Film ist politisch'; 'Theater- und Filmschauspielerei unterscheiden sich wie Liebemachen und Selbstbefriedigung'; und am schönsten: 'Ich bin so weit gekommen, weil meine Pläne scheiterten.'"

Besprochen werden Martin Kusejs Inszenierung von Grillparzers Historiendrama "König Ottokars Glück und Ende" bei den Salzburger Festspielen (die Barbara Villiger Heilig als Fiasko erlebt hat) und Bücher, darunter Nicholas Ostlers Sprachgeschichte "Empires of the Word", Julian Nida-Rümelins Essays "Über menschliche Freiheit" und Zbigniew Kruszynskis Erzählungen "Zu Lande und zur See" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Gestern berichtete die NZZ über einen Kunstskandal in Bern: Ist der Kopf eines Fötus auf dem Körper eine Möwe des chinesischen Künstlers Xiao Yu echt?, war die Frage, die anlässlich der Ausstellung "Mahjong" in Bern zu stellen war. Heute erfahren wir aus dem Bieler Tagblatt, das ein Dossier und ein Interview mit dem Berner Kunstphilosophen Gerhard Seel dazu bringt: Ja.

SZ, 10.08.2005

Angeregt, wenn auch nicht restlos glücklich kam Joachim Kaiser aus Martin Kusejs Grillparzer-Inszenierung "König Ottokars Glück und Ende" bei den Salzburger Festspielen: "Es war eine so forcierte, grelle, freche, überlaute und assoziationsvernarrte Aufführung, dass sie eigentlich keinem konservativen Grillparzer-Bewunderer hätte gefallen dürfen. Aber in der Theaterkunst ist glücklicherweise nichts unmöglich. Trotz mannigfacher Geschmacklosigkeiten, 'Fehler', ja sogar einer Fehlbesetzung (der Titelrolle) erlebte man zumindest bis zur Pause fabelhaft fesselnde, mitreißende Schauspiel-Vergegenwärtigung auf der gewiss nicht leicht bespielbaren Salzburger Pernerinsel-Bühne in Hallein. Der Regisseur Martin Kusej beherrscht sein Handwerk."

In einem Essay denkt der deutsch-französische Publizist und Politikwissenschaftler Alfred Grosser (mehr) über die Krise Europas und das französische Nein zum Referendum nach. "Trotz alledem hat die soziale Unzufriedenheit in Großbritannien wie in Frankreich und in der Bundesrepublik eine gemeinsame Wurzel. Die britischen Medien verurteilen die fat cats manchmal noch heftiger als die deutschen Medien, die am Redestil eines Ackermann Anstoß nehmen. Die Bosse sollen, so höhnt man in allen drei Ländern, so viel verdienen wie ihre amerikanischen Kollegen, die Belegschaft aber soll sich mit den ungarischen oder koreanischen Lohnempfängern vergleichen. In Marseille wurde in einem Supermarkt gestreikt, um einen Euro Lohnerhöhung in der Woche zu erreichen. Der Generaldirektor der Kette war gerade mit einer über 20 Millionen Euro hohen Abfindung wegen schlechter Geschäftsführung entlassen worden. Man kann natürlich einwenden, die Arroganz der Wirtschaftsmächtigen sei nicht die Schuld Europas. Aber der Vertrag enthält auch keine Mittel, diese Macht zu begrenzen."

Thomas Steinfeld setzt sich anlässlich eines Essays von Walter Laqueur (mehr) im neuen Merkur mit den Protagonisten der "demographischen Apokalypse" auseinander. Er warnt vor den "Taschenpropheten", deren Wortmeldungen sich formal "bis ins Detail" glichen und deren Visionen einen "erheblichen Mangel an Phantasie, eine biedere Furcht vor einem noch fernen Ende" geltend machten.

Weitere Artikel: Henning Klüver erklärt, wie Italien versucht, den Nutzen von Kultur, Landschaft und Tradition für die Wirtschaft zu nutzen. Und Andrian Kreye berichtet über den Siegeszug des Reggaton, die harte Latino-Variante des Hip-Hop.

Besprochen werden der Dokumentarfilm "Inside Deep Throat", das Toller-Käfer-Revival "Herbie: Fully Loaded" und Bücher, darunter eine Studie über die Naturwissenschaft im Werk Thomas Manns, einen Gedichtband von Wiglaf Droste und eine Neuausgabe von Moses Mendelsohns "Jerusalem oder über die religiöse Macht des Judentums" (mehr dazu in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Auf der Plattenseite wird die Neuaufnahme von Beethovens Sonaten für Violoncello und Klavier durch den Cellisten Pieter Wispelwey vorgestellt, ergänzt durch ein Interview mit dem Künstler. Besprochen werden außerdem eine Re-Edition alter Platten des Labels Jazz Music Today und ein Album, das Strawinskys "Feuervogel"-Suite mit einem fast unbekannten Werk von Rodion Schtschedrin konfrontiert.