Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.09.2005. Im Tagesspiegel beklagt Regisseur Michael Thalheimer die provinzielle Aggressivität in Berlin und zwischen seinen Theatern. In der Welt sieht die Autorin Esmahan Aykol die Ankläger von Orhan Pamuk in der Defensive. In der taz erinnert sich Helga Hirsch, wie ihr die Polen alle kommunistischen Flausen ausgetrieben haben. In der SZ erklärt der Urbanist Mike Davis, warum Hurrikan Katrina keine natürliche Naturkatastrophe war. Und die FAZ lernt vom Rapper Kanye West den feinen Unterschied zwischen Plünderern und Menschen, die nach Nahrung suchen.

Tagesspiegel, 05.09.2005

Mit dieser Saison rückt der Regisseur Michael Thalheimer ins Leitungsteam des Deutschen Theaters auf. Im Interview spricht er über die Arbeit an seiner Faust-2-Inszenierung, aber auch über die Theaterverhältnisse in Berlin allgemein: "Mich stören die Aggressivität in der Stadt und die Gereiztheiten zwischen den Theatern. Ich finde das provinziell. Ich werde auf der Bühne nicht besser, indem ich andere schlecht rede. Ich wünsche Armin Petras, wenn er in der übernächsten Spielzeit das Gorki-Theater übernimmt, allen Erfolg der Welt. Ich glaube, ein erfolgreiches Gorki bringt auch mehr Zuschauer ins DT, ins BE, in die Volksbühne, die Schaubühne. Ich mag diese Spiele nicht, dass man sich selbst auf ein Podest hebt und denkt, jetzt muss ich es allen zeigen."

Welt, 05.09.2005

Trotz der Anklage gegen den Schriftsteller Orhan Pamuk schätzt die in Berlin lebende Krimiautorin und Juristin Esmahan Aykol die Situation in der Türkei gar nicht so negativ ein. Vor allem die intellektuellenfeindliche Stimmung, die noch in den neunziger Jahren den Mob marodieren ließ, gebe es nicht mehr, meint Aykol. "Heute lädt der türkische Ministerpräsident Intellektuelle, gegen die einst vor Gerichten prozessiert wurde, ein, um mit ihnen über die kurdische Frage zu debattieren. Die Situation von Orhan Pamuk im Jahr 2005 ist unvergleichbar der Situation von Aziz Nesin und Yasar Kemal in den neunziger Jahren. Über Orhan Pamuks Einlassung zur Kurden- und Armenierfrage ist breit in den türkischen Medien berichtet worden. Unzählige politische Tabus werden heute öffentlich gebrochen. Die jüngste Anklageerhebung gegen Pamuk ist das Werk derjenigen, die den Demokratisierungsprozess umkehren wollen. Doch ihre einstige totalitäre Macht ist ihnen abhanden gekommen. Sie sind in der Defensive."

FAZ, 05.09.2005

Jordan Mejias berichtet, wie in den USA eine Fernsehsendung zum Spendensammeln für Katrina-Opfer nicht nach Plan verlief. Der Rapper Kanye West sagte nämlich, was Sache ist: "Er trägt weiße Hosen, ein Rugbyhemd, macht so einen geradezu adretten Eindruck und wirkt nervös. Dann der Akt medialen Ungehorsams. West sagt seinen eigenen Text auf: 'Ich hasse es, wie sie uns in den Medien porträtieren. Du siehst eine schwarze Familie, und es heißt: Sie plündern. Du siehst eine weiße Familie, und es heißt: Sie suchen nach Nahrungsmitteln.'"

Weitere Artikel: Gary Smith, der Leiter der American Academy, erinnert sich an seine Geburtsstadt New Orleans. Beim Filmfestival in Venedig zeigt sich Michael Althen von Matthew Barneys "Drawing Restraint 9" beeindruckt, der deutsche Beitrag "Die große Stille" von Philip Gröning hat ihn dagegen nicht ganz überzeugt. Kurz vorgestellt wird außerdem Festivalleiter Marco Müller. Wolfgang Gerhardt hatte einen Wahlkampfauftritt in Kassel, Eberhard Rathgeb war dabei. Knapp kommentiert wird eine neue Kinderwunschstudie. Patrick Bahners kommentiert den Tod des obersten US-Bundesrichters William Rehnquist.

Abgedruckt wird die Rede des Kunsthistorikers Werner Spies zur Eröffnung des Max-Ernst-Museums (Website) in Brühl. Wulf Segebrecht fragt, woher Heinrich von Kleist Goethes noch unveröffentlichtes Gedicht "Wanderers Nachtlied" kannte. Den Nachruf auf den Brecht-Schauspieler Ekkehard Schall hat Gerhard Stadelmaier verfasst. Im Medienteil erklärt Bunte-Chefin Patricia Riekel die Macht der bunten Blätter: "Das ist die Möglichkeit, die ein People-Mgazin hat: jemanden totzuschweigen."

Besprochen
werden Riccardo Chaillys Antrittskonzert als Gewandhaus-Chef in Leipzig, Sven-Eric Bechtolfs "Steine und Herzen"-Inszenierung in Duisburg, Johannes Brunners Film "Oktoberfest" und eine live von den Pet Shop Boys untermalte Vorführung von Eisensteins "Panzerkreuzer Potemkin".

Und Bücher, darunter David Foenkinos' Roman "Das erotische Potential meiner Frau" und Justine Levys Roman "Nicht so tragisch" sowie Sachbücher, unter anderen Manfred Veldens Studie "Biologismus - Folgen einer Illusion". (Mehr in der Bücherschau des Tages.)

NZZ, 05.09.2005

"Nach dem Schock kommt in Amerika nun die Scham", bemerkt Andrea Köhler angesichts des Untergangs von New Orleans: "Ist es möglich, dass in den USA Hautfarbe, Krankheit und Armut darüber entscheiden, wer gerettet wird und wer nicht? Hätte die Regierung so zögerlich reagiert, wenn das Desaster eine Stadt wie New York oder San Francisco getroffen hätte? Wo waren die nationalen Sicherheitskräfte, um marodierende Banden, die Brandstifter, Vergewaltiger und Mörder in den Notunterkünften in Schach zu halten?" Zu Tage getreten ist für Köhler aber noch mehr: "Der frivole Charme von "Big Easy", der jetzt allerorten beschworen wird, hatte in Wahrheit stets eine bittere Note, die laszive Leichtlebigkeit war jenseits der einschlägigen Vergnügungszentren und lauten Nachtbars nur ein Gerücht. Es war ein von Armut und von Rassismus beschädigter Charme."

Weiteres: Zehntausend Wohnhäuser stehen in Leipzig unter Denkmalschutz. Vier Fünftel davon sind bereits restauriert, mit dem Rest tut die Stadt sich schwer. Immer häufiger droht der Abriss, schreibt die Kunsthistorikerin Ursula Seibold-Bultmann: "Das Perforationsproblem wird dadurch verschärft, dass man in Ostdeutschland mit Hausabrissen zu Fördergeld kommen kann - genauer gesagt, zu 60 (bis Ende 2004 waren es noch 70) Euro pro Quadratmeter abgerissene Wohnfläche." Thomas Leuchtenmüller erinnert zum hundertsten Geburtstag an den Schriftsteller Arthur Koestler. Besprochen werden ein "hervorragendes" Boulez-Konzert mit den Berliner Philharmonikern und Simon Rattle beim Lucerne Festival und Ballette von Uwe Scholz und Heinz Spoerli am Zürcher Opernhaus.

FR, 05.09.2005

Im Medienteil findet sich ein Interview mit Dieter Hallervorden zu dessen 70. Geburtstag. Es ist nicht frei von Altersresignation: "Es gibt viele begabte Leute, aber oft steh ich kopfschüttelnd da und denke, wenn man jeden, der zehn Witze kennt und komische Grimassen macht, vor die Kamera lässt, ist das keine Comedy."

Weitere Artikel: In times mager schreibt Elke Buhr über einen Elternabend und das fliegende Spaghetti-Monster. Guido Fischer stellt Jürgen Flimms Musiktheaterprogramm für die RuhrTriennale vor. Den Nachruf auf den Brecht-Schauspieler Ekkehard Schall hat Hartmut Krug verfasst. Besprochen wird eine Aufführung von Sergej Eisensteins "Panzerkreuzer Potemkin" mit Live-Untermalung durch die Pet Shop Boys.

TAZ, 05.09.2005

Die Publizistin und ehemalige Polen-Korrespondentin Helga Hirsch erinnert sich anlässlich 25 Jahre Solidarnosc, wie ihr ein polnischer Intellektueller in einer Sommernacht 1978 jedwede kommunistische Überzeugung austrieb. Cristina Nord befasst sich in ihrem Telegramm aus Venedig mit Michael Glawoggers Dokumentarfilm "Workingman's Death", für den der Österreicher ukrainische Minen und nigerianische Schlachthöfe besuchte. Katrin Bettina Müller besichtigt die vier Arbeiten, die im Hamburger Bahnhof um den Preis der Berliner Nationalgalerie für Junge Kunst konkurrieren, und entdeckt einen gemeinsamen Hang zur Dramatik.

"Ich würde Angela Merkel und ihr Kompetenzteam auch gern beim Arschhinhalten scheitern sehen." Nichtsdestotrotz unterstützt der Autor Joseph von Westphalen die SPD und erklärt in der Reihe über den geistigen Zustand der Republik in der zweiten taz, warum er lieber "knirschend weiter mit Rot-Grün" leben möchte. Clemens Niedenthal hält den Spot der NPD für einen Ausbund an Geschmacklosigkeit. "Es stellt sich die Frage, ob eine Gesellschaft solch bierernst gemeinte Provokationen weiterhin ignorieren darf." Jony Eisenberg kommentiert den Mord an einem Siebenjährigen in Berlin.

Und Tom.

SZ, 05.09.2005

"Dies war eine der am wenigsten natürlichen Naturkatastrophen in der Geschichte Amerikas", sagt der Soziologe Mike Davis im Interview über das versunkene New Orleans. Die späte Reaktion der Hilfskräfte sei kein Zufall. "Es ist wie bei einer russischen Puppe. An erster Stelle steht die Vernachlässigung der Städte durch die Bundesregierung. Bush wurde in den Vorstädten und den edge cities, den Randstädten, gewählt, die großen Städte sind in der amerikanischen Politik zum Tabuthema geworden. Seit einer Generation wird nicht mehr in deren soziale und physische Infrastruktur investiert. Zweitens hat New Orleans mit den höchsten Anteil schwarzer Bevölkerung unter den amerikanischen Großstädten - und sie ist eine der ärmsten. Drittens weigert sich die Bush-Regierung, für dringend notwendige öffentliche Einrichtungen zu zahlen, während sie Milliarden in den so genannten Heimatschutz steckt."

Susan Vahabzadeh findet das asiatische Kino auf der Biennale in Venedig ebenso spektakulär wie sinnleer - es "erzählt einem dann gar nichts von der Welt". Bernd Graff meldet von der Ars Electronica in Linz, dass die Computerkunst erwachsen wird: das neue Medium ist nicht länger die einzige Botschaft. Das ebenso respektlose wie erfolgreiche Musical "Jerry Springer - The Opera" wird nicht öffentlich gefördert und deshalb auch nicht durch England touren, weiß Alexander Kissler. Ob erzchristliche Lobbyisten dahinter stecken, kann er allerdings nur vermuten. Alexander Kissler erfährt auf dem Symposium "Ambivalenzen des Religiösen" in Augsburg, wie sich im "vor-apokalytptischen" Russland sowohl der Islam als auch die orthodoxe Kirche als Kämpfer gegen die Verwestlichung profilieren wollen. Wolfgang Schreiber macht auf das zweiwöchige Musikfest Berlin aufmerksam, das als Nachfolger der Berliner Festwochen mit der Uraufführung von György Kurtags Violinsolo "Hipartita" aufwartete. Arnd Wesemann erlebt das Multimedia-Spektakel "Teilung am Fluss", das zur 50-Jahr-Feier Österreichs nun in Linz gezeigt wurde, als pyrochtechnisch versiertes Volkstheater. Thomas Thieringer schreibt zum Tod des Brecht-Schauspielers Ekkehard Schall, der am Berliner Ensemble gut sechzig Rollen verkörperte.

Joseph Hanimann weilt auf dem Weltkongress der Germanisten in Paris und hat auf der Literaturseite den Eindruck von einer Wissenschaft, deren Zukunft in mehr Parxisrelevanz liegt. Auch wenn Stephan Lamby mit seinem Film über den Selbstdarsteller Joschka Fischer gescheitert ist, Claudia Tieschky empfiehlt ihn auf der Medienseite wegen der eindrucksvollen Bilder der Macht trotzdem (Phoenix, 14. September, 20.15 Uhr).

Besprochen werden die Uraufführung von Sven-Eric Bechtolfs Singspiel "Steine und Herzen" im Rahmen der Ruhr-Triennale in Duisburg, Luc Bessons Actionstreifen "Transporter 2", der "euphorische" Auftritt des neuen Gewandhauskapellmeisters Riccardo Chailly mit Werken von Felix Mendelssohn-Bartholdy und Wolfgang Rihm in Leipzig, vier neu aufgelegte Bücher von Arthur Koestler, der heute hundert Jahre alt geworden wäre, Andreas Merkts Überlegungen zum "Fegefeuer", das bereits in der Antike bekannt gewesen sein soll sowie eine "eigenwillige" Studie über Besatzungskinder in Frankreich (mehr in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).