Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.09.2005. Die FR schlendert über das Art Forum in Berlin und empfiehlt Manga und Verwischtes als gewisses Etwas über dem Esstisch. In der taz meldet Ulf Poschardt: Das Projekt der Moderne ist noch nicht beendet, vor allem bei der CDU. Die NZZ deckt die Ursprünge des modernen arabischen Antiamerikanismus auf. Und in der SZ blickt Andrzej Stasiuk auf polnische Wahlplakate und zurück blicken mediale Zombies mit dem Lächeln einer Saftpresse.

FR, 30.09.2005

Berlin ist ja jetzt die Kunststadt schlechthin, und Elke Buhr begutachtet auf dem Art Forum und parallelen Off-Messen, was da so für den Sammlernachwuchs der 30- bis 45-Jährigen zu kaufen hängt. Klingt ein bisschen nach Kunsthandwerk: "Fotografie, wahlweise beiläufig-verwischt oder in scharfem Hochglanz, ästhetisierte Stillleben des Großstadtlebens, Malerei mit ähnlichen Sujets, die als Zugabe die Aura des Handgemachten bietet. Comics, Fernsehbilder, Modefotos sind die Vorlagen: Wer Mangas auf dem T-Shirt trägt, mag sie vielleicht auch in Öl an der Wand, und Gemäldeserien, die aussehen wie das private Fotoalbum, geben dem Wohnzimmer das gewisse Etwas."

Weitere Artikel: Michael Rutschky kritisiert nicht namhaft gemachte Renegaten aus dem solidesten 68-er Milieu, die sich erfrechten, Angela Merkel zu wählen. Hans-Jürgen Linke kommentiert in Times mager das anmutige Wechselspiel von Juroren und Preisträgern für den Börne-Preis der Börne-Stiftung, die sich gegenseitig mit 20.000 Euro dotierte Verdienste zusprechen. Und Klaus Siblewski bespricht, mit deutlich kritischen Untertönen, Uwe Timms Erinnerungsbuch über Benno Ohnesorg (Leseprobe hier).

TAZ, 30.09.2005

"Das Projekt der Moderne ist noch nicht vollendet", meldet der Magazinmacher Ulf Poschardt und singt eine kleine Hymne auf Angela Merkel und ihre neue CDU: "Die Kulturrevolte wird auch die Mentalität der Wirtschaftseliten durcheinander schütteln. Wenn die amerikanische Vanity Fair jedes Jahr das 'New Establishment' vorstellt, wird deutlich, dass das Establishment keine konservative, sondern eine permanent revolutionäre Konzeption geworden ist." Poschardt gibt auch Auskunft über eigene Beweggründe: "Wenn mir vorgeworfen wird, das Bürgerliche zu ästhetisieren, so ästhetisiere ich darin vor allem den Lebensstil von Verantwortungs- und Leistungseliten: jenen, die mit Mut und Risiken Dinge versuchen, mitunter scheitern, mitunter aber auch hunderten und tausenden Arbeitsplätze verschaffen." (Wir denken hier etwa an das Risiko fürs SZ-Magazin, das Poschardt einst mit einem gewissen Kummer plagte.)

Besprochen werden eine Ausstellung über die Beziehung des Schriftstellers Hubert Fichte und der Fotografin Leonore Mau in Hamburg und das neue Album der Band Franz Ferdinand.

Auf der Meinungsseite kritisiert der Kommunikationswissenschaftler Kai Hafez das Türkei-Bild Angela Merkels. Und der palästinensische Filmemacher Subhi al-Zobaidi spricht im Interview über seinen Hass auf Selbstmordattentäter, den Film "Paradise Now" und die Zukunft des palästinensischen Kinos.

Schließlich Tom.

Welt, 30.09.2005

Im Gespräch mit Michael Pilz erinnern sich Sven Regener und Richard Pappik von der (West-)Berliner Band Element of Crime an ihr erstes Konzert in Ost-Berlin im Jahr 1987: "Das war verrückt", sagt Pappik, "obwohl ich schon länger in West-Berlin lebte, war ich vor den Konzerten nie drüben gewesen. Dementsprechend fiel der Schock aus. Das war wirklich eine ganz andere Welt. Andererseits fanden wir uns auch in dieser unglaublich umtriebigen privaten Szene wieder." Und Regener ergänzt: "Wir waren ziemlich naiv. Ich meine, wir kamen aus dem Punk. Es war ein anderes Land. Andererseits: Die Häuser, die Hochbahn am Prenzlauer Berg, das war genau wie in Kreuzberg. Es war wie eine Zeitreise in ein Paralleluniversum."

Weitere Artikel: Hanns-Georg Rodek schreibt zum fünfzigsten Todestag von James Dean. Sven Felix Kellerhoff berichtet vom 75. Deutschen Archivtag in Stuttgart, wo der Verband der bundesrepublikanischen Archivare sich doch tatsächlich zum ersten Mal "umfassend mit der traurigen Rolle der eigenen Zunft im Dritten Reich" befasste. Leni Höllerer resümiert einen großen Philosophen-Kongress in Berlin. Gerhard Midding berichtet über den Umzug der Pariser Kinemathek in das ehemalige amerikanische Kulturzentrum im 12. Arrondissement. Und Tilman Krause macht ein spitze Anmerkung zum großen Christa-Wolf-Interview in der Zeit.

Besprochen werden die Ausstellung "East Art Map" mit osteuropäischer Kunst in Hagen und die Uraufführung von Jon Fosses neuem Stück "Heiß" am Deutschen Theater Berlin.

Und auf der Magazinseite porträtiert Antje Joel den Regisseur Leander Haußmann, dessen Film "NVA" gerade angelaufen ist.

Tagesspiegel, 30.09.2005

Die Republik hat eine "neoliberale Schlagseite" bekommen, schreibt Alexander Gauland auf der Meinungsseite. Schuld daran sind seiner Ansicht nach die linken Intellektuellen. "Es scheint, als ob der ideologiewidrige Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus die Analyse- und Utopiekraft einer ganzen Generation erschöpft hat. Und das ist wohl auch der tiefere Grund der intellektuellen Misere. Wer sich in der Einschätzung des Ganges der Geschichte so verschätzt hat wie die antikapitalistische Linke der alten Bundesrepublik, hat seinen Anspruch auf die Deutungshoheit des Geschehens verwirkt. Wie die Konservativen sich nie von ihrer Nähe zum Nationalsozialismus in der Weimarer Republik erholt haben, so hat das Irren der falschen Revolutionäre dem Neoliberalismus einen billigen Sieg beschert."

NZZ, 30.09.2005

Der jordanische Literaturkritiker Fakhri Saleh schildert, wie sich in der arabischen Welt ein negatives Bild der USA festgeschrieben hat, seit sie Israel im Sechs-Tage-Krieg von 1967 unterstützten. Ihren Anteil daran trugen nicht zuletzt auch die Gedichte von Adonis und Mahmud Darwish: "Man betrachtete die neue Großmacht mit einer Mischung aus Furcht und Ressentiment, Zorn, Neugier und wohl auch Neid; doch der Zorn verschaffte sich Vorrang, als 1982 israelische Streitkräfte in Libanon einmarschierten, Beirut während dreier Monate belagerten und die PLO und die palästinensischen Guerillakämpfer aus dem Land vertrieben. Der palästinensische Dichter Mahmud Darwish klagte Amerika, dessen damaliger Präsident, Ronald Reagan, bedingungslos hinter Israel stand, in einem langen dramatischen Gedicht an: 'O Hiroshima des arabischen Liebenden / Die Pest ist Amerika, Amerika ist die Pest.'"

Weiteres: Aldo Keel erzählt von einem neuen, für Aufregung sorgenden Roman aus Schweden, der den umstrittenen König Karl XII als "Pol Pot des 17. Jahrhunderts" beschreibt. Besprochen werden eine Ausstellung zum Werk des Architekten Otto Haesler in Dessau, Ballettabend "Man - Woman" in Basel und Rossinis cantata scenica "Il viaggio a Reims" in Bern.

Olga Martynova erzählt auf der Filmseite, wie die Russen mit "Wächter der Nacht" Geschmack am Blockbuster fanden ("Wenn sich Russen etwas in den Kopf setzen, dann schaffen sie es auch. Peter der Große verwandelte das schläfrige Moskowien im 18. Jahrhundert in eine europäische Großmacht."). Christoph Egger bespricht den Film "Koktebel" von Boris Chlebnikow.

Auf der Medienseite kondoliert S.B. Microsoft zum 30-jährigen Bestehen: "Gemäß gängigen betriebswirtschaftlichen Maßstäben geht es Microsoft sehr gut, verglichen mit den eigenen Vorgaben aus früheren Jahren, steckt die Firma in einer Krise. Die Wachstumskurven sind abgeflacht, der Aktienkurs entwickelt sich seitwärts. Der Vorstoß in neue Märkte - Mobiltelefonie, Heimelektronik, Computerspiele, Online-Dienste - kommt trotz Milliardeninvestitionen kaum voran."

Richard Wagner sichtet deutschsprachige Zeitungen aus Ostmitteleuropa: "Die beiden großen etablierten Publikumszeitungen sind die wöchentlich erscheinenden Prager Zeitung und Pester Lloyd, zu ihnen aufgeschlossen haben in den letzten Jahren die Budapester Zeitung und die Monatsschrift Baltische Rundschau aus Vilnius (Litauen)." Weitere Artikel widmen sich dem Product Placement, das in den USA offenbar hohe Gewinne einbringt und nun auch von der EU-Kommission erlaubt werden soll.

FAZ, 30.09.2005

Auf der Sachbuchseite stellt Susanne Klingenstein eine Studie von Laurel Leff vor, die untersucht hat, wie die New York Times zwischen 1938 und 1945 über den Holocaust berichtete. Es ist kein sehr rühmliches Kapitel für die Zeitung. "Dieses Drama wurde zwar in 1186 Meldungen dokumentiert, gelangte aber nie auf die erste Seite, mit der Folge, dass die amerikanische Öffentlichkeit trotz einer Fülle von Informationen aus zuverlässigen Quellen Hitlers Krieg gegen die Juden nicht in seiner ganzen Tragweite erkennen konnte." Grund war unter anderem, dass der Herausgeber Arthur Hays Sulzberger, selbst Jude, die Juden "als reine Religionsgemeinschaft, nicht als ein Volk betrachtete" und deshalb in der Berichterstattung möglichst unparteiisch erscheinen wollte. Mit unguten Folgen. "Das dreitägige Massaker im Krakauer Getto im März 1943 dagegen wurde auf Seite fünf gemeldet, der Aufstand im Warschauer Getto auf Seite 43. Die Verhaftung eines Mitarbeiters des Büros des Erzbischofs von Frankreich stand auf Seite eins, die geplante 'Liquidierung' der Juden Frankreichs dagegen am 27. Januar 1943 auf Seite zehn. Die Nachricht, dass bereits drei Millionen Juden ermordet worden waren, erschien am 27. August 1943 auf Seite sieben."

Weitere Artikel: Kerstin Holm meldet den Vollzug der Informationsdoktrin Putins: Alle Medien berichten jetzt "objektiv" über seine Regierungspolitik. Karol Sauerland stellt die sieben Titel vor, die für den von der Gazeta Wyborcza verliehenen Literaturpreis Nike nominiert wurden (mehr hier). Jordan Mejias berichtet über das Manifest von Ben Marcus, der in der Zeitschrift Harper's eine Attacke gegen die "Realisten" und besonders gegen Jonathan Franzen reitet (hier ein Auszug). Michael Jeismann informiert uns über eine Tagung der Körber-Stiftung in Hamburg, die die Ergebnisse einer Studie über "Lebenslagen von Mädchen und jungen Frauen mit griechischem, italienischem, jugoslawischem, türkischem und Aussiedlerhintergrund" diskutierte. (Die Studie kann im Internet heruntergeladen werden.) Gina Thomas meldet, dass die Saatchi Gallery nach zweieinhalb Jahren wegen Querelen mit dem Vermieter wieder umzieht. Edo Reents gratuliert dem Schlagerkomponisten Ralph Siegel zum Siebzigsten.

Auf der letzten Seite schreibt Peter Richter über den Wahlkampf der CDU in Dresden, wo es bereits "aufschlussreiche tektonische Verschiebungen in genau jenem bürgerlichen Milieu" gibt, "von dem Brandenburgs CDU-Chef Schönbohm vor ein paar Monaten behauptet hatte, dass es das im Osten gar nicht gibt. Da wo Milbradt Wahlkampf für Lämmel macht, am Schillerplatz in Blasewitz, geht es vielmehr bereits derart bürgerlich zu, dass die CDU hier seit einigen Jahren massiv Stimmen an die Grünen verliert." Dietmar Dath porträtiert den amerikanischen Sozialisten Bernie Sanders, der es als Parteiloser siebenmal geschafft hat, in den Kongress gewählt zu werden. Und Michael Maar erinnert an das Erscheinen von Nabokovs "Lolita" vor fünfzig Jahren.

Besprochen werden ein ganzer Reigen von Kunstausstellungen in Berlin - Biennale, Art Forum sowie eine Flick- und eine Picasso-Schau -, die Uraufführung von Jon Fosses "Heiß" am Deutschen Theater in Berlin, Jan Müller-Wielands Musiktheaterstück "Die Irre oder Nächtlicher Fischfang" beim Bonner Beethoven-Fest, ein Konzert von John Cale in Frankfurt, der Dokumentarfilm "Monte Grande" über den chilenischen Theoretiker Francisco Varela und Bücher, darunter Jeffrey D. Sachs' "Das Ende der Armut" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Berliner Zeitung, 30.09.2005

Harald Jähner kommentiert die unheimliche Optimismuskampagne "Du bist Deutschland": "Es ist schrecklich, wie die Deutschen mit sich hadern. Noch schrecklicher aber wird es, wenn sie damit plötzlich aufhören." Und weiter: "Es ist die Antwort der geballten Medienmacht auf die deutsche Misere, den Mangel an Zuversicht. Es ist leider aber auch eine Verhöhnung des Publikums." (Beim Verlinken stellen wir fest, dass "Du bist Deutschland" unter Firefox nicht funktioniert. Du bist halt nicht Linus Torvalds.)
Stichwörter: Firefox

SZ, 30.09.2005

"Es gibt keinen Kompromiss, der das primitive Bild des nackten Menschentums veredeln und zugleich die tote, arrogante, dumme Fratze der nackten Macht vermenschlichen würde", schreibt der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk mit Blick auf die Wahlplakate, die ihm im andauernden polnischen Wahlkampf einiges über den "Verfall des Ethos des Politikers" deutlich machten. "Wir wählen keine Menschen mehr, die wir bewundern, denen wir vertrauen und denen wir folgen möchten, um sie im Kleinen, in unserem Maßstab, nachzuahmen. Im Grunde genommen haben wir nur die Wahl zwischen solchen wie wir selbst und den medialen Zombies mit dem Lächeln einer Saftpresse. Letztere werden sicher bald durch Automaten ersetzt, durch Roboter, die mit einem Computerprogramm unter dem Namen 'Präsident aller Menschen' konstruiert werden. Wer dann jedoch uns ersetzen wird, kann ich mir nicht so recht vorstellen."

Weiteres: Johan Schloemann stöhnt über die Erweckungsrhetorik der unter Federführung des "früheren Gebetbuchherstellers" Bertelsmann organisierten Du-bist-Deutschland-Kampagne: Dabei sei diese Mischung aus Kirchenlied ("Wach auf, wach auf, du deutsches Land") und jugendspezifischer Anbiederei ("Hol dir den Klingelton") eigentlich nur die Übersetzung der Formel "Eigenverantwortung nutzt der Volkswirtschaft". Zum Auftakt des Berliner Kunstherbsts erklärt Holger Liebs, was das Berliner Art Forum von Messen wie der Art Basel unterscheidet: "Der Mangel an Experimenten. Was sich schnell und teuer verkauft, wird ausgestellt." Fritz Göttler kann fünfzig Jahre nach dem Tod von James Dean kaum fassen, was der Kritiker David Thomson festgestellt haben will, nämlich dass die "Jugend von heute" Dean nur noch als verzogenen Fratzen sieht: "Sie ergreifen Partei der Eltern!" Sonja Zekri empört sich über eine Internetseite, auf der US-Soldaten Zugang zu Pornomaterial im Austausch gegen Horrorbilder aus dem Irak-Krieg bekommen.

Im Interview mit Andrian Kreye erzählt der amerikanische Komponist John Adams, warum er allen anderslautenden Ankündigungen zum Trotz mit "Doctor Atomic" doch wieder eine Oper komponiert hat: "Ich mag im Allgemeinen keinen Operngesang, ich halte ihn für überzogen und altmodisch. Weswegen ich auch immer versuche, mit Sängern zu arbeiten, die besonders klare Stimmen haben und die gute Schauspieler sind. Aber prinzipiell ist Oper eine hyperreale Erfahrung, die sich über Logik und Erzählstrukturen hinwegsetzen kann."

Besprochen werden Jan Bosses Inszenierung von Jon Fosses Stück "Heiß" am Deutschen Theater Berlin und die Picasso-Ausstellung "Pablo" in der Neuen Nationalgalerie Berlin und Bücher, darunter J.M. Coetzees neuer Roman "Zeitlupe" und Peter Biskinds Kinobuch "Sex, Lies and Pulp Fiction" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).