Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.11.2005. In der SZ klagt Ulrich Beck über eine Soziologie ohne Gesellschaft und eine Gesellschaft ohne Soziologie. Die FAZ unternimmt einen melancholischen Spaziergang durch eine Arbeiterstadt ohne Arbeit namens Berlin. Die Welt findet: Wir bräuchten einen klugen Dandy wie Harry Graf Kessler, verzweifelt dann aber am heutigen Personal. In der taz entlarvt der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich die Kanzlerin als Papst.

TAZ, 29.11.2005

Der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich entdeckt ernste Anzeichen dafür, dass das Amt des Bundeskanzlers für die Deutschen mythisch aufgeladen sei. "Der Kanzler ist für sie die demokratische Version eines Königs oder Papstes; sie kennen kein vergleichbares, schon gar keinen höheres Amt". Oder warum ist es in Deutschland nicht vorstellbar, dass ein ehemaliger Kanzler einen Job übernimmt, etwa als Minister oder VW-Händler? "In Deutschland wird nicht mehr, wie ehedem bei Hegel, von der Philosophie, sondern vielmehr vom Kanzler (wohlgemerkt nicht vom Bundespräsidenten!) verlangt, seine Zeit - die Mentalität einer ganzen Generation - auszudrücken. Zumindest einen Teil seiner Legitimation und seiner besonderen Ausstrahlung erhält das Kanzleramt erst dadurch, von so etwas wie dem Zeitgeist besetzt zu werden. Das dürfte auch ein Grund dafür sein, dass sich in Deutschland die meisten Kanzler, wiederum verglichen mit den Regierungschefs anderer Demokratien, ziemlich lange halten. Man scheut sich, sie zu schnell auszutauschen, da das ja so ausgelegt werden könnte, als wollte man sich dem Lauf der Zeit widersetzen."

Weiteres: Katrin Bettina Müller schwärmt von William Forsythes Tanztheaterstück "Clouds after Cranach" in Frankfurt: "Es gibt Momente, da glaubt man die Eiseskälte zu spüren, die diesen Figuren plötzlich in die Magengrube fährt, die Beschleunigung ihres Herzschlages, das Absacken des Kreislaufes." Christiane Kühl zeigt im Vorgriff auf den Berliner "Vietnam Day", wie sich mehr oder weniger geschickt Kulturfestivals und Handelsinteressen manchmal unter einen Hut bringen lassen. Sascha Josuweit eröffnet eine neue Serie, die sich dem Test von Gesellschaftsspielen verschrieben hat, mit "König Hartz IV.". Und Harald Peters berichtet vom Konzert der rätselhaften Truppe Antony and the Johnsons in der Berliner Volksbühne.

Und Tom.

Welt, 29.11.2005

Tilman Krause erinnert im Aufmacher an den deutschen Dandy Harry Graf Kessler (1868 bis 1937), dessen umfangreiche Tagebücher gerade neu ediert werden: "Der Feingeist Kessler geißelte vor allem das deutsche Unvermögen zum Geschmack - keiner hat das pompöse Stilvakuum im Wilhelminismus vernichtender beschrieben als er... Ein Mann wie Kessler täte uns not - in der Politik wie in der Kultur, am besten freilich, doch dies ist angesichts unseres Personals heute wohl ein Griff nach den Sternen, am besten in Personalunion."

Weitere Artikel: Reinhard Wengierek porträtiert den "Schauspieler des Jahres" Thomas Dannemann, der gerade für die Kammerspiele des Deutschen Theaters Ödön von Horvaths "Glaube Liebe Hoffnung" inszeniert hat. Sibylle Peine bestaunt in den Bildern des flämischen Malers David Teniers "die Heiterkeit, Gelassenheit, ja Wohlerzogenheit seiner Bauern, Soldaten und Wäscherinnen"; zu sehen sind sie in der Kunsthalle Karlsruhe. Manfred Quiring erzählt vom Galeristenpaar Preobraschenski, das in Petersburg offenbar einen schwunghaften Handel mit gefälschten Bildern betrieben haben soll. Eckhard Fuhr sinniert über den Schnee, den Westfälischen Frieden und den Willen zum Drama.

FR, 29.11.2005

Hans-Klaus Jungheinrich empfiehlt Peter Konwitschnys "spektakuläre" und scharfsichtige Version von Richard Strauss' "Elektra", die jetzt nach Kopenhagen an der Stuttgarter Staatsoper zu besichtigen war. "Eine in vielen Facetten grandios durchgeformte Aufführung, voller Details, die in ansonsten vielfach pauschal-berserkerhaften oder mehr oder weniger statuarischen Annäherungen an den hochdramatischen Einakter fehlen. Der zeitlos-moderne Zuschnitt einer Familientragödie in großem Hause (zeitweise bühnenbeherrschend eine veritable Polstersitzgruppe, in der Rage ebenso wie die weiter auf der Bühne zu sehende Wanne mit dem toten Agamemnon hin- und hergeschoben) entstaubt auch das Antikisch-Bizarre des archaisierenden Atridenstückes."

Weiteres: Markus Brauck kommentiert ein Dokument des Vatikans, das Homosexuelle als Priester zulässig sind, wenn sie drei Jahre lang enthaltsam waren und ihre Neigungen damit als überwunden gelten. Elke Buhr räsoniert in Times mager über das Ende des Hedonismus und die Couchkartoffel in der Apple-Werbung. Im Medienteil wirft Eckhard Stengel den Moderatoren von Radio Bremen konsequente Schleichwerbung vor.

Besprochen werden Sebastian Baumgartens "heißgelaufene" Inszenierung von Shakespeares "Richard III." in Hannover, die Ausstellung "The Art of Tomorrow revisited" in München und Murnau über die Künstlerin, Kunstmanagerin und Guggenheim-Beraterin Hilla von Rebay, Friedhelm Dechers Geschichte und Phänomenologie des Neids "Das gelbe Monster" sowie Regina und Harald Gaspers Buch "Herrlich hässlich" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

NZZ, 29.11.2005

Hubertus Adam stellt Peter Märklis Erweiterung des Schulzentrums Wörgl vor. Sieglinde Geisel wirft einen Blick in die Neue Rundschau.

Besprochen werden die Schau "Künstlerbrüder" im Münchner Haus der Kunst, ein slowakischer Blaubart, aufgeführt vom Obdachlosentheater in Bratislava und Bücher, darunter neue (französische) Editionen von Texten Jacques Lacans, Martin Mosebachs Roman "Das Beben" und Peter Henischs Roman "Die schwangere Madonna" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Tagesspiegel, 29.11.2005

Für Bernhard Schulz bietet das nach fünfeinhalb Jahren fertig sanierte Bode-Museum (mehr) auf der Berliner Museumsinsel auch im leeren Zustand schon neuartige kulturhistorische Einblicke. "Die starre Frontstellung zwischen beharrendem Wilhelminismus und vorwärts drängender Moderne, wie sie jahrzehntelang und nicht zuletzt zur Legitimation aller Avantgarden nacherzählt wurde, ist hinfällig. Davon kündet das renovierte Bode-Museum. Denn die eigentümliche, später geschmähte Durchmischung der Gattungen Malerei, Skulptur und Kunsthandwerk, dargeboten in stimmungsvoll arrangierten Epochenräumen, ersteht mit der denkmalpflegerisch sorgsamen Wiedergewinnung der Räume neu. Mit ihnen soll das Präsentationskonzept wieder zu Ehren kommen. Überall beeindrucken die Renaissance-Portale und -Kamine, die Bode fest ins Gebäude hatte einbauen lassen, schweben hölzerne Decken, wo sie aus den Depots geborgen wurden. Sogar das zauberhafte Tiepolo-Kabinett, das Bode in Venetien ausfindig machen konnte, wurde mustergültig erneuert."

FAZ, 29.11.2005

Nicht nur die Bahn verlässt Berlin, auch Samsung schließt sein letztes Werk im Industriebezirk Oberschöneweide und veranlasst Christian Schwägerl zu einem tief melancholischen Streifzug durch die "Arbeiterstadt ohne Arbeit": "Vierhunderttausend Industriearbeitsplätze gab es zur Zeit der Wende in Berlin. Hunderttausend sind in unproduktiven Betrieben des Ostens verschwunden, zweihunderttausend im Westen, wegen entfallener Subventionen, der isolierten Lage, einer erstickenden Bürokratie und hohen Arbeitskosten. Das ist ein radikaler Eingriff in die Identität der Metropole, die einst zu den größten Industriestädten der Welt zählte und sich nur langsam als Globalisierungssubjekt zu begreifen beginnt. Samsung steht nicht allein, mehrere Tausend Arbeitsplätze sind derzeit bedroht. Ginge die Entwicklung weiter wie bisher, hätte Berlin in fünf Jahren keinen einzigen Industriearbeitsplatz mehr."

Weitere Artikel: Im Aufmacher macht sich Florentine Fritzen anlässlich des Selbstmords eines Adoptivkinds in einer prominenten Familie Gedanken über die ewigen Fragen nach dem Einfluss von Umwelt und Genen. Mark Siemons berichtet aus China über einen Streit um den bis heute sehr beliebten Roman "Traum der roten Kammer" des Klassikers Cao Xueqin (1715-1764), der von dem heutigen Schriftstller Liu Xinwu als Schlüsselroman gedeutet wird. Rolf-Günter Dienst schreibt zum Tod des Künstlers Dieter Krieg. Patrick Bahners hat in Berlin einem Berliner Vortrag des kanadischen Philosophen Charles Taylor zugehört, der sich für die Duldung des islamischen Kopftuchs bei Frauen aussprach. Jordan Mejias liest amerikanische Zeitschriften, die sich mit den Jugendrevolten in Frankreich auseinandersetzen (zum Beispiel hier Paul Berman in der New Repbublic). Andreas Platthaus zeigt sich nicht ganz überzeugt von der Anziehungskraft der renovierten Museen im nach und nach renovierten Leipziger Grassi-Komplex.

Auf der DVD-Seite bespricht Gerhard Stadelmaier den neu herausgebrachten Dokumentarfilm Hans-Jürgen Syberbergs über Fritz Kortner. Außerdem betrachten die FAZ-Redakteure eine DVD-Box mit Bardot-Filmen, Fellinis "Casanova" und eine Dokumentation über den Schauspieler Rene Deltgen.

Auf der Medienseite berichtet Gina Thomas über ein Verbot der britischen Regierung, aus einer brisanten Aufzeichnung eines Gesprächs zwischen Toni Blair und George W. Bush zu zitieren, in dem der amerikanische Präsident eine Bombardierung des arabischen Senders Al Dschasira erwogen haben soll (siehe auch unsere Magazinrundschau). Und Michael Hanfeld meldet, dass der neue Wirtschaftminister Michael Glos eine Ministererlaubnis für die Fusion von Springer und Pro 7 Sat 1 nicht ausschließt.

Auf der letzten Seite fragt sich Katja Gelinsky, wie der designierte oberste Richter der USA Samuel Alito in Fragen der Abtreibung entscheiden wird. Und Andreas Rossmann porträtiert den designierten Direktor des Von-Der-Heydt-Museums Gerhard Finckh.

Besprochen werden Brittens Vertonung des "Sommernachtstraums" in London, eine Ausstellung über Friedensreich Hundertwasser in Frankfurt, ein Konzert der britischen Popband Maximo Park ebendort und eine Einspielung von Ravels "Gaspard de la nuit" durch Pierre-Laurent Aimard.

SZ, 29.11.2005

Der Soziologe Ulrich Beck nutzt den Geburtstagsgruß zum Achtzigsten des Kollegen Martin Bolte, um für sein Fach, das hierzulande "irgendwann in den Neunzigern" verstarb, eine zünftige Totenmesse zu zelebrieren. "Eines ist die deutsche Soziologie gewiss nicht: neugierig auf die hinter den Fassaden der Stabilität sich grundstürzend wandelnde, unbekannte Gesellschaft, in der wir leben. Sie hat sich genau im Gegenteil mit dem guten Gewissen höherer Professionalität in eine Soziologie ohne Gesellschaft verwandelt. Dem entspricht eine Gesellschaft ohne Soziologie, die von derselben nichts erwartet, aber auch sich selbst fremd wird. Das Tollste aber ist: Beide Seiten scheinen sich nicht zu vermissen."

Dirk Peitz treibt sich in Sozialbauten des Londoner East End herum und besucht die Jungs von Roll Deep (Homepage), die den Grime (mehr) miterfunden haben, die düstere Schwester des Garage-Sounds (oder 2Step). "Um drei Uhr beginnt Targets wöchentliche Radioshow bei Rinse FM. Das Studio liegt in einem heruntergekommenen Industriegebäude irgendwo im East End. Ein heillos zugemüllter Raum, auf dem verrotteten Teppichboden steht ein laut vor sich hin plärrendes Radio, ein BBC-Kanal ist eingestellt. Das ist zur Ablenkung, sagt Target. Wer draußen vorbei geht, soll denken: Hinter der Tür haust irgendein Durchgeknallter, der rund um die Uhr öffentlichrechtliches Radio hört. Was keiner wissen darf: Hinter einer zweiten Tür liegt das illegale Sendestudio von Rinse FM, dem besten Piratensender Londons, ein fensterloser, schallgedämmter, vielleicht vier Quadratmeter großer Raum. Target zelebriert seine Zweistundensendung wie einen hyperaktiven Gottesdienst."

Weiteres: Ralf Wiegand berichtet von den Plänen, das Göttinger Seminar für Politikwissenschaften (zugunsten der Soziologie, Herr Beck!) deutlich zu beschneiden und will einen politischen Racheakt der niedersächsischen CDU-Regierung gegen die rot-grün-freundlichen Parteienforscher nicht ausschließen. Stefan Koldehoff meldet Streitigkeiten zwischen Ulrich und Sylvia Ströher und der Stadt Bonn um die Verfügungsgewalt über die ehemalige Kunstsammlung von Hans Grothe. Harald Eggebrecht eirnnert sich an einen alten Freund. Alexander Kissler wohnt einer Tagung über Testamente der Schwabenakademie im ehemaligen Benediktinerkloster Irsee bei. Gottfried Knapp schreibt zum Tod des Malers Dieter Krieg. Steffen Kraft beobachtet pragmatische Aldi-Kunden bei der dritten Kunstdruckaktion des Discounters.

Besprechungen widmen sich Peter Konwitschnys für Kopenhagen produzierter und nun in Stuttgart aufgeführter "blutrünstiger" Version der "Elektra" von Richard Strauss, einer 17 Jahre alten "Tristan"-Aufführung unter der "verbindlichen" Generalmusikdirektorin Simone Young in Hamburg, dem Tanzabend "Imagine" des Ballett-Theaters München, Scott Derricksons Film "Der Exorzismus von Emily Rose", und Büchern, darunter Nurrudin Farahs Somalia-Roman "Links", der Aufsatzband "Bilderlust und Lesefrüchte" über die Beziehung von darstellender Kunst und Literatur sowie das von Kurt Neumann herausgegebene Arbeitsjournal "Die Welt, an der ich schreibe" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).