Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.03.2006. Der Autor der Leipziger Buchmesse war Clemens Meyer, der bei den Lesungen aus seinem Roman "Als wir träumten" wie ein Rockstar bestaunt wurde, berichtet die FAZ. Die SZ hat unterdes Mitgefühl mit osteuropäischen Autoren, die nicht dauernd über Europa reden wollen. In der taz singt Klaus Theweleit eine Hymne auf Olli Kahn. Feridun Zaimoglus "Schwarze Jungfrauen" verstören die Kritik. 

FAZ, 20.03.2006

Der Autor der Leipziger Buchmesse war ganz eindeutig Clemens Meyer, der idealer Weise auch noch Leipziger ist und bei dessen Lesungen aus seinem Roman "Als wir träumten" es zuging wie bei einem Rockkonzert, berichtet Felicitas von Lovenberg: "Kein Wunder, denn ein solches kraftvolles, unbeirrtes Debüt hat die deutsche Literatur lange nicht mehr erlebt, ein Buch voller Wut, Trauer, Pathos und Aberwitz, ein Roman über eine verschworene Gang von Leipziger Kleinkriminellen, die nicht nur gegen Polizei, Eltern und gegnerische Banden randaliert, sondern gegen ihre ganze Existenz. Und dass der Autor gerade einmal 29 Jahre alt ist, in Leipzig lebt und sein Auftreten und Habitus erkennen lassen, dass die Erfahrung an seinem Buch mitgeschrieben hat, macht es auf mulmige Weise noch spannender."

Weitere Artikel: Regina Mönch beobachtete die große Berliner Demonstration von türkischen Chauvinisten, die ihres Helden Talaat Pascha, des Organisators des Völkermords an den Armeniern, gedachten. Christian Schwägerl verfolgte eine Diskussion über den dramatischen Bevölkerungsschwund in den östlichen Bundesländern ("die Menschen des nordostdeutschen Jahrgangs 1977, die jetzt 29 Jahre alt sind, werden bald zur Hälfte aus Mecklenburg-Vorpommern verschwunden sein"). "tens" beschreibt in der Leitglosse die Stimmung bei der Beerdigung Milosevics, zu deren Ehrengästen Peter Handke zählte. Alexandra Kemmerer hörte einer Diskussion über die deutsche Frage in der Katholischen Akademie Berlin zu. Diemut Klärner berichtet von einem Göttinger Kolloquium zur Lage des chinesischen Walds. Eleonore Büning wirft einen etwas skeptischen Blick auf die Fortsetzung der pädagogischen Bemühungen Sir Simons und der Phillis mit einer Aufführung von Gustav Holsts bombastischen "Planeten" ("Das Besondere an klassischer Musik ist jedenfalls nicht, dass nur allbekannte Muster kopiert und uns das Herz mit ein paar netten Halbherzigkeiten karessiert wird.") Jordan Mejias besucht die renovierte Getty-Villa in Malibu. Hubert Spiegel berichtet über die Geburtsfeier des nunmehr achtzigjährigen Siegfried Lenz. Dazu wird eine Rede von Amos Oz auf den Jubilar abgedruckt.

Auf der Medienseite meldet Michael Hanfeld, dass eine Gruppe dänischer Muslime wegen der Karikaturenaffäre nun die UNO anrufen will, während in Deutschland die Union Europäisch Türkischer Demokraten (UETD) die Welt wegen der Veröffentlichung der Karikaturen verklagte. Gemeldet wird außerdem, dass der SWR eine Dokumentation über islamistischen Terror gegenüber der christlichen Minderheit in Bethlehem absetzte. Ferner war Stefan Niggemeier mit der neuen Show von Anke Engelke nicht zufrieden.

Auf der letzten Seite stellt Julia Bähr einige literarische Blogs aus Deutschland vor. Catrin Lorch berichtet über die Besetzung eines Flügels des ehemaligen Bethanien-Krankenhauses in Kreuzberg. Und Jonathan Fischer schreibt aus nicht zu erschließendem Anlass ein Porträt des Songwriters Bobby Hebb.

Besprochen werden ein Konzert von Element of Crime in Offenbach, ein Konzert des Gitarristen David Gilmour in Frankfurt, eine Ausstellung mit österreichischer Fotokunst in Regensburg, eine populärwissenschaftliche Wanderausstellung über die "Welt der Dinos" und einige Sachbücher, darunter Hubert Wolfs Geschichte des "Index".

NZZ, 20.03.2006

Eine Re-Politisierung der Literatur konnte Joachim Güntner auf der Leipziger Buchmesse nicht ausmachen, dafür viel Beachtung für Kleinverlage wie die Friedenauer Presse. "Die Neugier verteilt sich meist erstaunlich gleichmäßig, und anders als an der Herbstmesse in Frankfurt, wo die winzigen Kojen neben den Riesenständen der Verlagskonzerne oft verloren wirken, sieht man hier keine Trübsal blasenden Kleinverleger einsam bei ihren Büchern sitzen."

Franz Haas berichtet, dass in den italienischen Feuilletons derzeit über die uneindeutige Haltung des Schriftstellers Carlo Emilio Gadda zum Faschismus diskutiert wird. Marc Zitzmann rekapituliert und kritisiert die andauernde Modernisierung des Louvre, die Francois Mitterand 1981 eingeleitet hatte. Der Kulturausschuss des Deutschen Bundestages hat den Theologen Hans Küng als nächsten Friedenspreiskandidaten des Deutschen Buchhandels vorgeschlagen, kolportiert "ujw".

FR, 20.03.2006

"Mögen in Köln Stars auftreten - in Leipzig werden sie entdeckt", meint Christoph Schröder mit Blick auf die jungen deutschsprachigen Autoren bei der Buchmesse. "Etabliert haben sich, und auch das war in diesem Ausmaß nicht unbedingt zu erwarten, die Stars des Vorjahres, die jungen, anspruchsvollen deutschsprachigen Kleinverlage wie Tisch 7, Luftschacht, Verbrecher Verlag oder auch kookbooks, die sich 2006 in einem gemeinsamen Lesebereich auf dem Messegelände präsentierten und sich ungebrochener Beliebtheit erfreuten. Es zeichnet sich ab, dass hier nicht nur eine kurze Modeerscheinung einen pompösen Auftritt hatte."

Weiteres Ursula März zeigt sich in Times Mager erschüttert über Angela Merkel, die in einem Interview mit der Bunten bekannt hatte, noch vor einigen Jahren ein Päckchen am Tag geraucht zu haben.

Besprochen werden Andre Previns Oper "Endstation Sehnsucht" nach Tennessee Williams im Landestheater Eisenach ("Recht harsch der Beginn, dirty-soundig, gar noise-music-artig. Eine Partitur, idiomatisch a jour - nämlich für eine Sache von vor fünfzig Jahren, aus einer Zeit, da Rock'n'Roll noch nicht erfunden war", schreibt Hans-Klaus Jungheinrich) und die Aufführung von Jewgeni Schwarz' "Der Drache" am Nationaltheater Weimar (Der 27-jährige Tilmann Köhler "inszeniert leichthändig, witzig, traumhaft sicher und dezent", lobt Nikolaus Merck).

TAZ, 20.03.2006

"Ein Aeroplan! 's ist Olli Kahn!" "Der TITAN", dichtet "Fußballphilosoph" Klaus Theweleit in der tazzwei zum Auftakt einer neuen Reihe zur mentalen Vorbereitung auf die WM. Gewohnt schaumig beschreibt Theweleit im Folgenden, warum man Oliver Kahn gar nicht nicht verehren kann: "Wie unsinnig die Superkonkurrenz der Superhüter! Zwar ist mir der Lehmann ('der seine Kinder morgens zur Schule bringt') persönlich etwas lieber als der Kahn-(Gorilla), aber das sind unangebrachte Präferenzen. Die notorischen Kahn-gegen-Lehmann- oder Lehmann-gegen-Kahn-Fans sind auf dem Holzweg. Überrestler des zwanghaften Zwei-Linien-Denkens, wovon eine die 'richtige' sein muss. Is' aber nich'. Auch nicht 'linkere' oder 'rechtere' Titanen. Seit Deutschlands erstem Fußballgott Toni Turek (der seine Schwächen hatte) sind alle deutschen Keeper Weltmeister, immer schon. Und also im Besitz des flügelverleihenden Druidentrunks. Wir könnten eine Mannschaft aus elf Torhütern bei einer WM ins Rennen schicken, in Blau mit rotem Umhang: Mit dreimal 0:0 (Butt & Co.) womöglich weiter. Absurd, aber war, titanisch!"

Weiteres: "Mehr Schüler, hübschere Frauen, aber immer weniger Kinder in Deutschland" bilanziert Gerrit Bartels die Leipziger Buchmesse. Andreas Becker hat beim 26-Jahre-Fehlfarben-Konzert bemerkt, dass sich die weiblichen Anhänger der Band deutlich besser gehalten haben als die männlichen. Dirk Knipphals fragt sich, warum Einbürgerungswillige eigentlich nur Caspar David Friedrich kennen sollen, der schließlich nicht als einziger in das "deutsche Überlegenheitsdenken und Innigkeitsgefühligkeit hineinfantasierte".

Besprochen wird eine Retrospektive des Künstlers John Mawurndjul im Sprengel Museum in Hannover.

Und Tom.

Welt, 20.03.2006

In einem langen Gespräch mit Roger Köppel versucht der Historiker Joachim Radkau die wilhelminische Gesellschaft zu relativieren, die zu Unrecht als kriegslüstern und durchmilitarisiert beschrieben werde. "Am meisten frappierte mich, wie soft, wie wenig kriegerisch, wie sentimental das geistige Klima in weiten Regionen des wilhelminischen Deutschlands war. Es war friedlicher, als man sich das rückwirkend vorstellt, und vor allem viel hypochondrischer. Es gab eine weitverbreitete Krankheitsängstlichkeit. Man grübelte sorgenvoll, ob es das eigene Nervensystem ertrüge, wenn man mehr als ein paar Minuten in der Brandung bade. Lächerliche Fragen, die sich heute kein normaler Mensch mehr stellen würde. Es passt überhaupt nicht zum Bild dieser angeblich harten, militanten Zeit."

Weiteres: Gabriela Walde annonciert die vierte Berliner Kunstbiennale und hofft, dass die drei Kuratoren Maurizio Cattelan, Ali Subotnick und Massimiliano Gioni mit dem kreativen Mythos der Stadt spielen, ohne ihn zu kopieren. Von einer Istanbuler Konferenz über den armenischen Völkermord berichtet Boris Kalnoky beeindruckt über die dort vorgetragenen Thesen türkischer Historiker, die die Genozid-These anzweifeln. Elmar Krekeler weiß nicht recht, was der schnell wachsende "Messelesefestwechselbalg" namens Leipziger Buchmesse eigentlich sein will. Uwe Schmitt erzählt vom Ärger am Ground Zero, wo immer noch eine Grube gähnt.

Besprochen wird die von Herbert Lachmayer besorgte interdisziplinäre Mozart-Ausstellung in der Wiener Albertina, die Ulrich Weinzierl als "kulturphilosophische Epochenanalyse" preist.

Berliner Zeitung, 20.03.2006

Nicht ganz unbeeindruckt ist Doris Meierhenrich von den Monologen der "Schwarzen Jungfrauen", die Feridun Zaimoglu aufgezeichnet und Neco Celik im HAU 3 inszeniert hat. "Unanständig wollen sie sein. Alles, nur keine 'Bürgerlichen' wie die 'westlichen Pornoschlampen'. Gegen einen richtigen Kerl hat dennoch keine etwas, nur gegen gottlose 'Pilzmaden'. Die Fronten sind klar: 'lieber 'n richtigen Feind als 'n öden Arschficker". Über den Islam erfährt man hier wenig, aber einiges über die rhetorischen Metamorphosen von Erniedrigung und Beleidigung."

Peter Uehling hat schon jetzt die Nase voll von der MaerzMusik, wo am dritten Abend die japanische Pianistin Aki Takahashi eine Partitur in Form von Kreisen des bildenden Künstlers Rolf Julius zur Uraufführung brachte: "Gäbe doch nur ein Mensch nachvollziehbar Nachricht davon, dass ihm die Wahrnehmung aufgebrochen sei - man wäre ja bereit, mehr in der MaerzMusik zu sehen als ein Programm, das sich nur deswegen so hartnäckig am Leben hält, weil man auf seine Realisierung so vergebens wartet wie auf die Wiederkunft Christi. Doch nichts anderes hört man als das Lallen begriffsloser Faszination, ein Pawlow-Sabbern nach den immer gleichen Schlüsselworten."

Weiteres: Sebastian Preuss stellt die Kuratoren der 4. Berlin Biennale vor: Ali Subotnick, Maurizio Cattelan und Massimiliano Gioni. Besprochen wird Thomas Heises Dokumentarfilm "Im Glück (Neger)".

SZ, 20.03.2006

"Ist es eigentlich auf Dauer ein wenig nervend, wenn man als osteuropäischer Schriftsteller immer über Europa reden muss?" fragt sich Ijoma Mangold nach Abschluss der Leipziger Buchmesse, auf der traditionell die Osteuropäer ihren großen Auftritt haben: "Aus der Slowakei war der blitzgescheite, sehr ironische Michal Hvorecky (mehr hier) angereist, der im Berliner Tropen Verlag gerade sein Buch 'City: Der unwahrscheinlichste aller Orte' herausgebracht hat. 1976 geboren, gehört er der jungen Generation an. 'Diese osteuropäischen Autoren' sagt er, 'die ständig an Konferenzen über Europa teilnehmen, das finde ich unerträglich'. Sein Roman, eine antiutopische Groteske über den neuen Kapitalismus, ist selbst hochpolitisch. Weil Hvorecky ausgezeichnet Deutsch spricht, ist ihm die Literatur seiner deutschen Kollegen vertraut. 'Ich hatte mir mehr davon versprochen. Mir ist das zu realistisch und zuviel Ego in allem. Für mich hat Literatur mehr mit Imagination zu tun. Ich will etwas Wilderes.'"

Peter Laudenbach berichtet von der Berliner Aufführung "Schwarze Jungfrauen", die auf Interviews basiert, die Feridun Zaimoglu zusammen mit Günther Senkel mit "gläubigen Neo-Musliminnen" in Deutschland geführt hat: "Neben der hedonistischen Fundamentalistin, deren Hass auf die westliche Moderne ein Produkt eben dieser Moderne ist, begegnen wir einer Bosnierin, die gleichermaßen vom Dschihad und von der großen Liebe träumt, einer zum Islam konvertierten, verstört wirkenden Deutschen und einer Querschnittsgelähmten, die sich selbst verachtet, weil sie kein 'Vollkraftmensch' ist. Mit Allah hadert sie, weil sie ab und zu Oralsex mit ihrem Pfleger hat. Am beunruhigendsten für die Multi-Kulti-Fraktion wie für den deutschnationalen Stammtisch dürfte die Intellektuelle sein, die Osama bin Laden als 'Jahrhunderthelden' verehrt. Sie studiert Jura, um mit ihrem Wissen dem heiligen Krieg in Europa zu dienen."

Weiteres: "Die Gefängnismauern werden höher", stellt Heribert Prantl fest und warnt vor einer schleichenden Rückwärts-Reform im Strafvollzug. Lothar Müller ärgert sich, dass Peter Handke in seiner Grabrede für Slobodan Milosevic - einer "Geste der Loyalität" - auf eine verschwiemelte "höhere Wahrheit" Bezug genommen hat, ohne dies zu begründen. Und Andrian Kreye warnt, dass in den USA gerade die "gesündeste und wohlhabendste Seniorengeneration aller Zeiten" ihren Ruhestand antritt. Wolfgang Schreiber hat beim MaerzMusik-Festival in Berlin unter anderem die Computeroper "Welt im Quecksilberlicht" des chinesischen Komponisten Cong Su gehört.

Besprochen werden Monique Wagemakers Inszenierung von Puccinis "Madame Butterfly" an der Stuttgarter Oper, eine Ausstellung von Adam Elsheimers Werk im Frankfurter Städel, ein Gastauftritt des britisch-indischen Tänzers Akram Khan in der Kölner Philharmonie, Jürgen Rolands Wirtschaftswunderkrimis auf DVD, Davide Ferrarios Film "Die zweite Hälfte der Nacht" und Bücher, darunter Hans Günter Zekls Übersetzung von Martianus Capellas "Die Hochzeit der Philologia mit Merkur" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).