Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.07.2006. Zidanes titanische Verweigerung der prästabilierten Finalharmonie kann von den Feuilletons aus Aktualitätsgründen noch nicht reflektiert werden. Begnügen wir uns mit dem Vorhandenen: In der SZ erklärt der Urbanist Mike Davis, warum es auf der Welt nicht zu viel sondern zu wenig Migration gibt. Die taz stellt den jüdischen Comiczeichner Joann Sfar vor, der in Frankreich riesige Erfolge feiert. Die FR will deutschen Fußballfans den Friedensnobelpreis verleihen. Die NZZ fragt anlässlich von Lauren Weisbergers Bestseller "The Devil Wears Prada" und seiner Verfilmung, wie ein Chef ohne Y-Chromosom sein muss.

NZZ, 10.07.2006

David Frankels Verfilmung von Lauren Weisbergers Bestseller "The Devil Wears Prada" hat in den USA die Diskussion über die Eignung von Frauen als Chefs und vor allem als nächste Präsidentin angeheizt, meint Andrea Köhler. "Ein Chef ohne Y-Chromosom - das ist die Hauptbotschaft aller Forschungen über weibliche Chancen fürs höchste Amt - muss makellos sein, die Verkörperung von Selbstbeherrschung und Perfektion. Wohl deshalb ist Meryl Streeps Teufel in Prada plötzlich zum Prototyp avanciert. Sie brüllt nicht, sie wispert, ihr Terror ist Haltung, ihr Sadismus hat Stil. Die perfekte Chefin ist allem voran die von keinem humanen Makel getrübte Darstellung ihrer Funktion."

Weitere Artikel: Der Buchmarkt in der deutschsprachigen Schweiz erfährt eine rasante Konzentration, die Deutschland nach einem Paradies der Pluralität aussehen lässt, wie Roman Bucheli berichtet. Christophe Büchi sucht nach Gründen, warum in der welschen Schweiz eine Buchhandlung nach der anderen schließt. Marc Zitzmann besucht die Domäne von Marie-Antoinette im Park von Versailles, die durch Sofia Coppolas Film in den Blickpunkt geraten ist.

Besprechungen widmen sich John Mayburys mystizistischem Streifen "The Jacket" sowie Aufführungen von Schostakowitschs zehnter und dreizehnter Sinfonie auf den Zürcher Festspielen.

Welt, 10.07.2006

Tilman Krause mag kaum glauben, dass sich Frankreichs Präsident Jacques Chirac weigert, die Überreste des Hauptmann Dreyfus im Pantheon aufzunehmen: "Dieser Überwinder des Pariatums durch Inanspruchnahme des Rechts, gehört selbstverständlich ins Pantheon."

Ulf Meyer begutachtet das Musee d'Art Moderne in Luxemburg, das Ieoh Ming Pei für das Herzogtum auf den Mauern des alten Forts Thüngen errichten ließ. Peter Dittmar kündigt an, dass Sotheby's die 1623 gedruckte First-Folio-Ausgabe von "Mr. William Shakespeares Comedies, Histories and Tragedies" versteigern will und etwa 3,5 Millionen Pfund dafür erwartet. Reinhard Wengierek meldet erschöpft, aber glücklich, dass die WM im Theatersport mit einem Unentschieden zwischen Belgien und Kanada ausgegangen ist.

Besprochen werden die Uraufführung von Theresia Walsers "toller" Groteske "Die Liste der letzten Dinge", Matthias Hartmanns Inszenierung von Eugen d'Alberts Oper "Tiefland" in Zürich und Roger Ciceros Swingalbum "Männersachen".

Im Magazin berichtet Detlef Gürtler aus Marbella, dessen halbes Stadtparlament wegen mafiöser Machenschaften ins Gefängnis muss.

TAZ, 10.07.2006

Martin Zeyn stellt den französischen Comiczeichner Joann Sfar vor, dessen Geschichte über eine Kabbala-kundige Katze sich in Frankreich schon mehr als 450.000 Mal verkauft hat. "Der hohe Ton ist Sfars Lieblingsangriffsziel. Er lässt in 'Die Katze eines Rabbiners' einen Kater über das jüdische Gebot dozieren, den Namen Gottes nicht leichtfertig im Munde zu führen, und ihn im Disput sogar über einen Schriftgelehrten siegen. Nun kennt die europäische Literatur den Picaro-Roman, in dem Narren die Wahrheit sagen - aber eine Katze? E.T.A. Hoffmann hat es mit seinem 'Kater Murr' vorbereitet, aber die Katze ist beim Romantiker zumindest keine Autorität in theologischen Fragen."

Weiteres: Sechs Redakteure ordnen ihre Erinnerungen an die Fußball-Weltmeisterschaft 2006. Burkhard Brunn analysiert die gesellschaftshistorische Bedeutung der Treppe. Im Medienteil erfährt Hannah Pilarczyk vom Fernsehchef des WDR, Ulrich Deppendorf, wie der Sender Zuschauer unter 49 Jahren akquirieren will.

Und Tom.

SZ, 10.07.2006

Zwei Seiten widmet das SZ-Feuilleton dem Thema Einwanderung. Anlass ist die heutige Konferenz von 57 afrikanischen und europäischen Staaten im marokkanischen Rabat, die über die Steuerung und Begrenzung der Migration beraten.

"Es gibt nicht zu viel Migration in der heutigen globalen Wirtschaft, sondern zu wenig", behauptet der amerikanische Urbanist Mike Davis ("City of Quartz") im Interview. "Europas epochales Problem besteht darin, dass es Menschen in rapider Geschwindigkeit verliert, nicht, dass es überschwemmt wird. Solange die Deutschen nicht bereit sind, Kondome zu verbieten und öffentliche Fruchtbarkeitsrituale zu veranstalten, sollten sie akzeptieren, dass Zuwanderung ihre einzige Hoffnung ist, den Transfer von Renten- und Sozialleistungen an eine alternde Bevölkerung zu sichern."

"Legalize it", meint auch Sonja Zekri und führt ein paar gute Gründe an: "Für einen Manager wäre das weltweite Flüchtlingsbusiness - den Tod, die Angst und die Entbehrungen mal beiseite gelassen - so etwas wie eine Win-Win-Situation: Alle Beteiligten profitieren. Die Flüchtlinge hoffen auf eine bessere Zukunft; die Schleuser - vom Bauern in den Karpaten, der Afghanen nach Tausenden Kilometern Reise mit dem Eselskarren ins Schengengebiet ruckelt, bis zum Schleuser-Boss in einer osteuropäischen Metropole - lassen sich ihre Dienste vergolden; in den Gastländern wären ganze Branchen ohne Migranten gar nicht lebensfähig; und die Herkunftsländer erhalten inzwischen von Auswanderern ein Vermögen an Rücküberweisungen. In Marokko liegen diese inzwischen höher als die Einnahmen aus dem Tourismus, in Sri Lanka höher als jene aus dem Tee-Export."

Außerdem: Jens-Christian Rabe stellt Romane über Flüchtlinge von Tahar ben Jelloun, Mahi Binebine und Norbert Zähringer vor. Ingo Petz lässt sich von einem Kurden erzählen, wie man als Illegaler in einem Land untertaucht. Bernd Graff informiert über Internetseiten für Migranten, die diese aber oft nicht lesen können. Alex Rühle schreibt über den Dokumentarfilm "Tarifa Traffic" des schwedischen Filmemachers Joakim Demmer, der die Bewohner an der Südspitze Spaniens beobachtet hat, die täglich Flüchtlingen begegnen. Nina von Hardenberg beschreibt die mobilen Migranten als Arbeitnehmer der Zukunft. Gerhard Matzig erzählt von jungen Architekten, die Notunterkünfte und Billigsthäuser entwerfen und dabei oft genug nur "zynische Theorien des 'Unbehaustseins'" bieten. Und Angela Köckritz erzählt, wie gescheiterte Einwanderer zu Hause Erfolg vorgaukeln.

Weitere Artikel: Clemens Pornschlegel interpretiert die Rückkehr der Religionen als Reaktion auf die Herrschaft des göttlichen Konsumobjekts. Der Computerspieldesigner American McGee ("Doom") erklärt im Interview, inwiefern sein neues Spiel "Bad Day L.A." eine Kritik an der amerikanischen Regierung darstellt.

Besprochen werden Theresia Walsers Theaterstück "Die Liste der letzten Dinge" im Münchner Haus der Kunst, das Konzert mit Placido Domingo, Anna Netrebko und Rolando Villazon in der Berliner Waldbühne, die Ausstellung "Kunst lebt" am Stuttgarter Schlossplatz, DVDs mit deutschen Filmen aus den Siebzigern und Bücher, darunter Fernando Savaters "Die zehn Gebote im 21. Jahrhundert" und Nicholas Shakespeares deutsch-britischer Wenderoman "In dieser einen Nacht" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 10.07.2006

Mark Obert schlägt vor, die deutschen Fußballfans mit dem Friedensnobelpreis auszuzeichnen, oder auch gleich alle Deutschen: " Fünf Wochen lang haben sie niemanden nachhaltig verletzt, Schlimmeres zugefügt oder auch nur erniedrigt." In Times mager glossiert Christian Thomas die Bewerbung Regensburgs, "unter Deutschlands Schönen eine der Schönsten", um den Status des Weltkulturerbes: Dreitausend Seiten brauchte man dazu.

Besprochen werden die Ausstellung "Malerinnen in Ahrenshoop" in Kronberg mit Arbeiten der Künstlerinnen-Kolonie und Chris Ofilis Ausstellung "the blue rider - extended remix" in der Kestnergesellschaft Hannover (die zugleich dem Videokünstler Isaac Julien eine Schau widmet).

FAZ, 10.07.2006

Hannes Hintermeier begeht im Aufmacher den bayerischen Ort Schliersee, um nochmal auf das Ende des verfrühten Sommerlochbären Bruno und die Auswirkungen auf die Lokalpolitik einzugehen. In der Leitglosse kommentiert Jürgen Kaube den Fall eines Lehrers, der in Hessen wegen Berufsunfähigkeit in Pension geschickt wurde und in der Schweiz weiter unterrichtete. Enrico Santifaller stellt ein Mahnmal - einen immateriell leuchtenden Kubus - für die aus Mannheim verschleppten Juden des Bildhauers Jochen Kitzbihler vor. Joseph Hanimann wirft nach den Skandalen des letzten Jahres einen optimistischen Blick auf das Theaterfestival von Avignon. Ingeborg Harms macht sich noch einmal Gedanken über das Halbfinale Deutschland-Italien. Abgedruckt wird die Dankrede des Islamwissenschaftlers Stefan Weidner ("Mohammedanische Versuchungen") für den Clemens-Brentano-Preis der Stadt Heidelberg. Der Philosoph Reinhard Mehring erzählt in einem ganzseitigen Hintergrundartikel, warum bis heute keine Ausgabe der Gesammelten Schriften Carl Schmitts vorliegt.

Auf der Medienseite unterhält sich Michael Hanfeld mit Andre Heller, dessen WM-Motto "Die Welt zu Gast bei Freunden" so wundersam wahr geworden sei. Für die letzte Seite besucht Andreas Rossmann das Schloss Birlinghoven, wo ein Fraunhofer-Institut zusammen mit Sony neuartige Spiele entwickelt, die Computer, Handy und GPS einbeziehen. Patrick Bahners interpetiert ein Gedicht von Gottfried Benn. Und Dirk Schümer berichtet, dass die italienische Zeitschrift Micromega neues Material zur Verstrickung des großen Theaterschauspielers Giorgio Albertazzi in den italienischen Faschismus zusammengetragen hat - demnach war er an der Erschießung von Partisanen und Kriegsgefangenen beteiligt.

Besprochen werden die Uraufführung von Theresia Walsers "Die Liste der letzten Dinge" in München, Aufführungen der beginnenden Tiroler Festspiele in Erl, eine Jean-Etienne-Liotard-Ausstellung in New York, eine Ausstellung über Patricia Highsmith in Bern und Sachbücher, darunter die "Italienbriefe" Karl Jaspers'.

In der Sonntags-FAZ durchblättert Volker Weidermann den neuen Suhrkamp-Prospekt.