Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.10.2006. Wir bitten um Pardon für den Ausfall unserer Seite - ein übler Absturz unseres Providers hat uns komplett aus dem Netz geworfen. Mit Verspätung also die Feuilletons vom Tage: Nach dem Mord an Anna Politkowskaja erklärt Anne Applebaum in der Welt die russische Tradition, mit wenigen Morden das ganze Land in Schrecken zu versetzen. Im Interview mit dem Tagesspiegel spricht Imre Kertesz über das tödliche Paradox, Freude beim Schreiben zu empfinden.Die taz beerdigt nach einem Besuch der Art Beijing den chinesischen Trend des zynischen Realismus.

Welt, 10.10.2006

Anne Applebaum kommentiert bitter die Ermordung der russischen Journalistin Anna Politkowskaja: "Wie die russische und osteuropäische Geschichte zeigt, ist es nicht immer nötig, Millionen zu töten, um den Rest in Angst und Schrecken zu versetzen. Üblicherweise reichen einige ausgesuchte Morde zur richtigen Zeit am richtigen Ort aus. Seit der Verhaftung des Ölmagnaten Michail Chodorkowski im Jahre 2003 hat kein russischer Oligarch versucht, auch nur politisch unabhängig zu klingen. Nach der Ermordung der Politkowskaja kann man sich auch kaum vorstellen, dass irgendein Journalist in ihre Fußstapfen in Grosny tritt."

Weiteres: Stefanie Bolzen berichtet von einem Treffen in Madrid, bei dem sich die letzten Internationalen Brigadisten aus dem Spanischen Bürgerkrieg zusammengefunden haben. "So wie Andrew Keith, 99 Jahre alt und aus Bristol angereist. 'Ich fühle mich sehr glücklich', sagt der alte Mann, 'dass das spanische Volk endlich befreit ist'." Nach dem großen Ansturm auf die Lottostellen warnt Hendrik Werner vor Überschuldung und unmäßiger Spielfreude. Thomas Lindemann schreibt zum Tod des DDR-Rockers Klaus Renft. Online sind Auszüge aus Hellmuth Karaseks Erinnerungen "Süßer Vogel Jugend". Manuel Brug stellt den venezolanischen Dirigenten Gustavo Dudamel vor. Besprochen wird die Ausstellung "Il etait une fois Walt Disney" im Pariser Pariser Grand Palais.

Tagesspiegel, 10.10.2006

Im Interview mit Jörg Plath spricht Imre Kertesz über Fiktion, Autofiktion und seinen autobiografischen Gesprächsband mit sich selbst "Dossier K." (Leseprobe): "Wenn ich im Konzentrationslager überleben will, muss ich seiner Logik folgen. Diese willentliche oder nicht willentliche Kollaboration ist die größte Schande des Überlebenden, er kann sie nicht eingestehen. Der Schriftsteller kann es. Denn die Literatur besitzt eine besondere Aufrichtigkeit. Das sind einfach gute Sätze, wissen Sie. Gute Sätze sind in diesem Fall viel wichtiger als meine eigene Schande. Der 'Roman eines Schicksallosen' ist kein heiterer Roman. Aber er hat mir beim Schreiben sehr viel Freude gemacht. Und man kann nur schreiben, wenn man frei ist, wenn man Freude hat. Das ist ein tödliches Paradoxon, aber ich liebe es."

FAZ, 10.10.2006

Kerstin Holm berichtet auf der Medienseite über den neuesten Stand der Ermittlungen zum Mord an Anna Politkowskaja und erinnert an die gründliche Arbeitsweise der Journalistin: "Am vergangenen Donnerstag, dem dreißigsten Geburtstag des Premiers und moskautreuen starken Mannes in Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, berichtete Anna Politkowskaja gegenüber Radio Liberty über Opfer von Kadyrows Sonderkommandos. Die Moderatorin fragte, ob man angesichts des Baubooms in Grosny und der politischen Stabilität der Kaukasusrepublik heute nicht lieber von gewissen Mängeln reden kännte. Woraufhin Frau Politkowskaja entgegnete, die Zahl der Menschenrechtsverletzungen hätte im Vergleich zum Vorjahr zugenommen. Die Journalistin legte Wert darauf, stets konkrete Fälle vorzutragen, sie hatte Fotos von Folteropfern gesammelt, die in der Nowaja Gaseta erscheinen sollten."

Weitere Artikel: Im Aufmacher nimmt Regina Mönch mit Aufmerksamkeit die Äußerungen Kurt Becks über das Fehlen von Aufstiegsidealen in großen Teilen der Bevölkerung zur Kenntnis. Heinrich Wefing interviewt den Juristen Reinhard Mußgnug zur Frage der mittelalterlichen Handschriften in Baden-Württemberg, die seiner wiederholten Auskunft nach dem Land und keineswegs dem ehemaligen Fürstenhaus gehören. In der Leitglosse verweist Jochen Hieber mit Begeisterung auf J.M. Coetzees großen Hölderlin-Essay in der New York Review of Books (der leider nicht online steht). Coetzee wird auch auf der letzten Seite nochmal gewürdigt: Er führt mit seinem Roman "Schande" eine vom Observer ermittelte Bestenliste englischsprachiger (außer amerikanischer) Romane an, wie Felicitas von Lovenberg berichtet. Patrick Bahners macht gelehrte Anmerkungen zur Ausstellung "Canossa 1077 - Erschütterung der Welt". Frank Pergande schreibt zum Tod des Rockmusikers Klaus Renft. Daniel Hildebrand resümiert eine Stuttgarter Tagung über den Begriff des "Vernunftrepublikanismus".

Auf der Medienseite stellt Nina Rehfeld die neue TV-Serie "Brothers and Sisters" vor, in der die als Ally McBeal überlieferte Calista Flockhart als nicht ganz überzeugende politische Kolumnistin wieder aufersteht.

Auf der letzten Seite berichtet Kerstin Holm über Grabungen des Deutschen Archäologischen Instituts in Südrussland. Und Jordan Mejias porträtiert die für ihre furchtlosen Urteile berühmte Literaturkritien der New York Times Michiko Kakutani.

Besprochen werden ein Konzert Archie Shepps in Mannheim, Dimiter Gotscheffs Inszenierung der "Perser" des Aischylos am Deutschen Theater Berlin, eine CD des Berliner Popmusikers Namosh und Peter Brooks' Inszenierung von Beckett-Minidramen in Paris.

NZZ, 10.10.2006

In der Reihe "Was ist eine gute Religion?" zieht der indische Religionswissenschaftler Chakravarthi Ram-Prasad diese Frage selbst in Zweifel. Ihm schmeckt ihre westlich säkulare Tendenz nicht: "Noch die durchdachteste und nuancierteste Auffassung des 'Guten' geht letztlich an der Sache vorbei. Religion heißt nicht, das Gute behalten und das Böse außen vor lassen; Religion als gelebte Wirklichkeit ist ein Ganzes, und wenn wir auch über Religion räsonieren können, ist doch jeder Versuch, sie zu rationalisieren, nur das Phantasieprodukt des modernen Bestrebens, alles zu 'managen'. Doch Religion lässt sich nicht nach dem betriebswirtschaftlichen Kriterium der 'best practice' beurteilen". Jede Auffassung von "guter Religion" sei letztlich "hegemonistisch".

Weiteres: Ein "Las-Vegas-Feeling" überkommt Lutz Windhöfel angesichts der neuen Bauten von Sanaa und Peter Märkli, die in einer Basler Ausstellung vorgestellt werden. Aldo Keel hat in Kopenhagen gleich zwei Ausstellungen besucht, die sich anhand des Astronomen Tycho Brahe und des Monarchen Christian IV. der Renaissance in Dänemark widmen. Zu letzterem bleiben Fragen offen: "War er wirklich der kunstliebende Renaissancefürst, der fließend Latein parlierte? Oder war er bloß ein Trunkenbold und Hurenbock?"

Besprochen werden auch Bücher, darunter Christian Hallers Roman "Die besseren Zeiten" und Michael Roes' Roman "Weg nach Timimoun" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 10.10.2006

Nach einem Besuch der Kunstmesse Art Beijing fände es Susanne Messmer gar nicht schlecht, wenn sich der heißgelaufene chinesische Kunstmarkt etwas abkühlen würde: "Man sieht viel Establishment, das seinen 'Politischen Pop' und 'Zynischen Realismus' seit den Neunzigerjahren erfolgreich reproduziert: Bunte Bilder voller Coladosen und roter Sterne."

In der Reihe zur "Kritik der Kritik" weist Jürgen Busche darauf hin, dass es gelegentlich auch Aufgabe der Redaktion sein könnte, die gewagten Urteile ihrer Rezensenten auf ihre Haltbarkeit hin zu überprüfen. Im Übrigen zitiert er den englischen Kritiker Sidney Smith: "'Man darf Bücher nicht lesen, bevor man sie rezensiert, man wird sonst zu voreingenommen.'" Stefan Reinecke berichtet von der Berliner Tagung "Wege in die Bundesrepublik", die unter anderem mit Herfried Münkler und Heinz Bude besetzt war. Isolde Charim schreibt über die in die Jahre kommenden Institutionen der einstigen undogmatischen Linke. Dirk Knipphals stellt einen Spiegel-Bericht richtig, nach dem taz-Redakteure mit Hornbrillen auf Frankfurter Parties gedrängelt haben sollen: taz-Redakteure drängeln mitunter, tragen aber keine Hornbrillen. Besprochen wird Nicolas Stemanns Uraufführung von "Ende und Anfang" in Wien.

Und noch Tom.

FR, 10.10.2006

Einen bewegenden Eindruck hat David Pountneys Aufführung von Bernd Alois Zimmermanns Oper "Die Soldaten" bei Guido Fischer hinterlassen. Eine Hauptrolle spielt dabei die riesige Bochumer Jahrhunderthalle. "Mit den Bochumer Symphonikern unter Steven Sloane hat Pountney die gesamte Länge und Breite so weit ausgeschöpft, dass das Publikum im Wortsinne mitten ins Geschehen hineingezogen wird, während sich ständig die Perspektiven verändern - etwa wenn die um einen rund 100 Meter langen Laufsteg gruppierten Sitztribünen in Bewegung gesetzt werden und man wie in der Geisterbahn hautnah Zeuge einer brutalen Vergewaltigungsorgie wird. Oder man verliert nahezu jeden Bezugspunkt, wenn Szenen in eine kaum mehr identifizierbare Ferne rücken. Zwischen übergreller Schärfe und nebulöser Unschärfe schwankt so die Wahrnehmung, die zugleich von Zimmermanns Verschachtelungen aus Serialität, Bach-Chorälen, Marschmusik und Jazz verunsichert wird. Die Raum- und Zeitkoordinaten - hier sind sie aufwendig und doch kongenial ihrer vertrauten Gültigkeit beraubt."

Weiteres: Ina Hartwig hat wenig Verständnis für Günter Grass' Klagen über den Journalismus im Allgemeinen und die FAZ im Besonderen. Wolfgang Templin präsentiert herbstliche Beobachtungen aus den politischen und kulturellen Kreisen Kiews. In der Times mager schließt Hans-Jürgen Linke Bahnfahren und positive Berichterstattung über die Bahn kategorisch aus.

Besprechungen widmen sich Dimiter Gotscheffs "dunkler" wie "konzertanter" Variante von Aischylos' Tragödie "Die Perser" im Deutschen Theater Berlin sowie einer Ausstellung zur "Guggenheim Architecture" in der Bonner Kunst- und Ausstellungshalle.

SZ, 10.10.2006

Im Interview mit Renate Nimtz-Köster erklärt der Künstler Peter Jacobi sein rumänisches Holocaustdenkmal. "Kern meines Entwurfes ist ein begehbares, 16 Meter langes, 7 Meter hohes und 10 Meter breites raues objektartiges Betongebäude. Durch die Spalten des Daches fällt Licht herein und schafft ein Innenleben: Der Besucher wird von der Lichtschraffur gezeichnet und spürt physisch den Ablauf der Zeit, die nicht mehr da ist, die unterbrochen wurde. Ein Text berichtet, was geschehen ist, Grabsteine aus Odessa sind integriert, ferner die Skulptur eines Davidsterns, der sich mittels Licht auf dem Boden unterschiedlich abbildet sowie das Wagenrad als Zeichen für die ermordeten Roma. Und der Standort liegt im Herzen von Bukarest, vor dem Gebäude des Innenministeriums, von wo aus Antonescu den Holocaust plante."

Joachim Kaiser ist mit dem Einstand von Kent Nagano als neuer Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper recht zufrieden, mit dem Publikum dagegen weniger. "Zu Beginn des langsamen Satzes stand ein fülliger Herr auf und drängte sich keineswegs geräuschlos durch seine Reihe bis zum Ausgang. Absurderweise bot das für mehrere andere Leute auch Grund, vor dem Andante zu fliehen. Welch eine Brüskierung der Musik und der still lauschenden Hörer!"

Weiteres: Sonja Zekri berichtet, dass nun auch Boris Akunin und Surab Zereteli wegen ihrer georgischen Abstammung in Russland Probleme bekommen. Cornelius Wüllenkemper hat auf einer Historikertagung in Berlin erlebt, wie kontrovers der Aufstand von 1956 in Ungarn diskutiert wird. Als "alarmierend" bezeichnet Petra Steinberger eine Studie des Politikwissenschaftlers Robert Putnam, wonach Menschen recht schnell das Vertrauen in ihre Umgebung verlieren, wenn sie zu vielfältig und fremd ist. Susan Vahabzadeh kolportiert Gerüchte über Oscar-Chancen von Scorsese über Eastwood bis zu Soderbergh. Claus Heinrich Meyer gönnt sich eine Zwischenzeit mit Charles Darwin, dessen Tagebuch von der Fahrt mit der "Beagle" ihm jetzt durch den Marebuchverlag zugänglich wurde. Oliver Herwig beschwert sich über die verkaufsfördernde Geruchsbelästigung in Geschäften.

Auf der Medienseite preist Hans Hoff Wolf von Lojewski, der mit seiner heute abend gesendeten ZDF-Reportage aus dem oft gezeigten Namibia beweise, dass "auch in einem ausgelutschten Knochen noch viel Saft stecken kann".

Besprochen werden Roland Schimmelpfennigs "Ende und Anfang" (Das "Machwerk eines postdramatischen Modespießers", das auch Regisseur Nicolas Stemann nicht mehr retten konnte, schimpft Helmut Schödel), die Uraufführung von Sylvester Levays und Michael Kunzes Musical "Rebecca" im Wiener Raimundtheater, eine Ausstellung im Pariser Grand Palais zu Walt Disney, und Bücher, darunter Simon Kiesslings Studie über "Die antiautoritäre Revolte der 68er" und Alfred Döblins Dissertation über "Gedächtnisstörungen bei der Korsakoffschen Psychose" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).