Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.12.2006. Die Berliner Zeitung freut sich: Die deutsche Malerin Tomma Abts hat den Turner-Preis gewonnen. In der SZ erklärt der chinesische Filmemacher Lou Ye, was die Zensur für ihn bedeutet. Die taz-Russland konstatiert: Der Zeitgeist steht auf FSB. In der FR spekuliert der Strafrechtler Klaus Lüderssen nochmal über den Mannesmann-Prozess.

Berliner Zeitung, 05.12.2006

Die deutsche Malerin Tomma Abts hat gestern Abend in London den Turner-Preis gewonnen. Sebastian Preuss freut sich mit ihr: "Es ist eine gute Wahl, denn Tomma Abts gehört zu den wirklich relevanten Malern unserer Zeit, die lange zu Unrecht im Schatten der modischen neuen Figürlichkeit stand. Ihre kleinen, in endlosen Übermalungen entstandenen Kompositionen hauchen der geometrischen Moderne neues Leben ein. Es sind Wunderwerke an grafischer Eleganz, in denen sich klassische Formen und ein Hauch zeitgeistiges Retro-Design in so unnachahmlicher Weise durchdringen, dass man sich stundenlang in jedes einzelne dieser stereotyp 48 mal 38 Zentimeter großen Bilder versenken kann."

Volker Müller erinnert sich recht anschaulich an die Verhaftung Walter Jankas (mehr hier) vor fünfzig Jahren, die der sanften Revolte der DDR-Intelligenz ein Ende bereitete: "Wissend, was auf ihn zukommt, fährt der unbeugsame Mann am Morgen zu seinem letzten Arbeitstag. 'Ich halte es für ausgeschlossen, dass sie mit Dir so verfahren wie mit Harich', sagt ihm Anna Seghers bei einem letzten Treffen. Helene Weigel bittet ihn zu sich. Sie: 'Unser Dilemma ist die Hilflosigkeit der Arbeiter.' - Er: 'Nein, die Isolierung der Intellektuellen von den Arbeitern. Wenn wir hier nicht einen Wandel schaffen, wird sich nichts ändern.' Als der Tag sich neigt, erfolgt der erwartete Zugriff. In rüder Manier bringen die Stasi-Leute den furchtlosen Hausherrn wie einen Kriminellen durch das stumme Spalier seiner Mitarbeiter zu den schwarzen Limousinen. Die Seghers hatte sich geirrt. Ulbricht zeigte keine Skrupel, diesen integren Mann mit der Vita eines ehrlichen Kommunisten, dem ein Thomas Mann, Halldor Laxness oder Hermann Hesse auf Augenhöhe begegneten, den Prozess zu machen."

NZZ, 05.12.2006

Ulrich Ruh bilanziert theologisch-politisch fundiert die Reise von Papst Benedikt XVI. in die Türkei und stellt fest: "Das Zusammenleben von Christen und Muslimen ist eine schwierige, aber nicht hoffnungslose Gestaltungsaufgabe. Ein wirklicher theologischer Dialog mit dem Islam steckt noch in den Anfängen."

Besprochen werden die Retrospektive zu John M. Armleder im Genfer Museum für moderne und zeitgenössische Kunst (bei der Maguerite Menz sehr "elegante Neo-Geo-Bilder" gesehen hat), ein Konzert des amerikanischen Maria Schneider Orchestras im Stadtcasino Basel und Bücher, darunter David Mitchells Roman "Der Wolkenatlas", und Angelica Ammars Romandebüt "Tolmedo".

TAZ, 05.12.2006

Der bevorstehende Feiertag zu Ehren des FSB animiert Klaus Helge-Donath auf den vorderen Seiten zu der Feststellung, dass der Geheimdienst in Russland schon seit jeher fest in Gesellschaft und Politik integriert ist. Und "seit ein Exspion im Kreml regiert, ist aus dem Dienst ein Markenzeichen mit Kultstatus bei der Jugend geworden. Das Wappen der Geheimpolizei mit Schwert und Schild gilt als chic, und es prangt auf der Hülle des Ersatzrads von so manchem protzigen westlichen Geländewagen. Der Zeitgeist steht auf FSB. Wer es zu Geld und Ansehen bringen will, tritt in die 'Organe' ein. Denn spätestens seit Putin im Kreml ist, sitzen Tschekisten an vielen Schaltstellen und wickeln lukrative Geschäfte ab - im Namen eines heroischen Patriotismus."

Fürs Feuilleton spaziert Dirk Knipphals durchs Regierungsviertel und sinniert beim ersten Glühwein über die Integration von Politikern und Immigranten. Kirsten Riesselmann stellt den ambitionierten Techno-DJ Onur Özer vor, der in Deutschland bekannter ist als in seiner Heimatstadt Istanbul. Isolde Charim hält die Beschimpfung "Du Opfer!" für bedenklich, vor allem in Hinsicht auf identitätstechnische Fragen. Ira Mazzoni besichtigt die Werkschau des Lichtkünstlers Dan Flavin in der Münchener Pinakothek der Moderne. In der zweiten taz überrascht es Adrienne Woltersdorf, dass ausgerechnet die taffe ehemalige Hewlett-Packard-Chefin Carly Fiorina in ihrer Autobiografie über Probleme als Frau in der Chefetage klagt.

Und Tom.

Welt, 05.12.2006

Wolf Lepenies plädiert für die Gründung eines Berliner "Forums für transregionale Studien", das die vielen verschiedenen Wissenschaftsinstitute unter einem Dach verbinden soll. Uwe Schmitt kündigt mit leichtem Grusel an, dass nächste Woche der Jesus-Schinken "Es begab sich aber zu der Zeit" in die Kinos kommt. Eckhard Fuhr möchte generell mehr Zukunftszugewandtheit. Gerhard Charles Rump hat sich im Münchner Haus der Kunst die Ausstellung "Black Paintings" angesehen, die exquisite Werke der modernen Schwarzmalerei präsentiert. Wieland Freund meldet, dass Thomas Harris einen Hannibal-Lecter-Roman aufgelegt hat. Und Kai Luehrs-Kaiser hat sich bei Michael Frayns Komödie "Verdammt lange her" nicht sonderlich amüsiert.

FAZ, 05.12.2006

Auf der Medienseite berichtet Siegfried Thielbeer von einem Prozess gegen Journalisten der dänischen Zeitung Berlingske Tidende, der mit einem Freispruch für die Angeklagten endete. Die Zeitung hatte 2004 "über interne Bedrohungsanalysen" des dänischen Geheimdienstes berichtet, die bezweifelten, dass der Irak Massenvernichtungswaffen besitze. "Demgegenüber hatte die Regierung von Ministerpräsident Anders Fogh Rasmussen vor dem Beschluß des dänischen Parlaments über eine Kriegsteilnahme immer wieder behauptet, man vermute nicht nur, dass der Irak Massenvernichtungswaffen besitze: 'Das wissen wir.' Durch die Artikel der Berlingske Tidende, die heute noch für die Kriegsbeteiligung eintritt, war zu erfahren, dass die dänische Regierung ihre Behauptungen gegen die Wertungen ihres eigenen Geheimdienstes aufgestellt hatte." Sehr peinlich für die Regierung, für die Richter jedoch ging das "Interesse des Allgemeinwohls" vor.

Weitere Artikel: Oliver Jungen berichtet mit hämischem Unterton von einer Konferenz zur Vorbereitung einer Ausstellung über Friedrich II., in der Experten den Stauferkönig keineswegs als "Krone des Multikulturalismus" sehen mochten. Jürgen Kaube hat sich auf der gerade freigeschalteten Website des "Deutschen Informationszentrums Kulturförderung" umgesehen, aber offenbar keine relevanten Informationen gefunden. Eberhard Straub beobachtete, wie der Förderverein Berliner Schloss in einer Münchner Einkaufsstraße Spenden einzutreiben versuchte. Jürgen Kesting schreibt zum sechzigsten Geburtstag des Tenors Jose Carreras, troe. einen kurzen Nachruf auf die Publizistin Kyra Stromberg.

Auf der letzten Seite porträtiert Andreas Platthaus Philipp Hubbe, der Comics über Behinderte zeichnet. Joachim Müller-Jung sucht nach Beweisen, dass die chinesische Regierung tatsächlich erfolgreich Ökoautos entwickelt, stößt aber nur auf Propaganda. Regina Mönch berichtet über die erfolgreiche Klage eines ehemaligen Politoffiziers im Grenzregiment 33 der DDR gegen ein Buch, das ihn in Zusammenhang mit dem Mord an Chris Gueffroy erwähnt.

Besprochen werden Thomas Harris' neuer Roman "Hannibal Rising" über die Jugend des Kannibalen, Martin Suters neues Stück "Mumien" am Zürcher Neumarkt-Theater, ein Konzert von The Kooks im Kölner E-Werk und eine Ausstellung der Fotografien von Sibylle Bergemann in der Berliner Akademie der Künste.

FR, 05.12.2006

Die komplexen wirtschaftlichen Vorgänge der Gegenwart sind mit dem üblichen Rechtssystem vielleicht nicht mehr zu fassen, meint der Strafrechtler Klaus Lüderssen zum Mannesmann-Urteil. Die Einstellung des Verfahrens gegen Geld ist weder ein Schuld- noch ein Freispruch. "Warum keine normale Einstellung, ohne Auflagen? Offenbar weil substanziell eine Art Schuldspruch (die aufhebende Entscheidung des Bundesgerichtshofs) eben doch in der Welt ist und in die Diskussionsmasse eingeht. Alles hängt also davon ab, ob die Verlautbarung des Bundesgerichtshofes für sich genommen eine rechtliche Wirkung hat. Wenn gesagt wird, dass in Zukunft mit Zahlungen von der Art, wie sie Gegenstand dieses Strafverfahrens gewesen sind, vorsichtig umgegangen wird und insofern ein wichtiges Prozessziel erreicht sei, so ist klarzustellen, dass das Strafprozessrecht primär nicht auf Wirkungen dieser Art zielt. So bleibt nur die Frage, ob man weiter gehen und wegen der unbestreitbaren außerprozessualen Wirkung eine zusätzliche, auch jenseits des Gesetzes sich entfaltende Rechtsgeltung annehmen darf. Die etablierte tägliche Praxis der 'Verständigung' im Strafverfahren experimentiert längst auf diesem Felde, ohne es zu wollen, ja ohne es zu wissen."

Weiteres: Harry Nutt stapft durch die "Architektursteppe" des Berliner Dürerplatzes. Albrecht Lüter gratuliert den finanziell wieder genesenen "Blättern für deutsche und internationale Politik" (Homepage) zum fünfzigsten Geburtstag. Besprochen werden Rene Polleschs "heftigst und zu Recht umjubeltes" Stück "Das purpurne Muttermal" am Wiener Akademietheater, die Orff-Bearbeitungen von "Oedipus" und der "Antigonae" in der Inszenierung von John Dew am Darmstädter Staatstheater sowie Ferruccio Busonis Oper "Doktor Faust" an der Berliner Staatsoper, in einer Inszenierung für die Salzburger Festspiele von 1999.

SZ, 05.12.2006

Lou Ye ist Regisseur des Films "Summer Palace", der vor dem Hintergrund der Ereignisse am Platz des Himmlischen Friedens spielt und in China verboten wurde. Der Film wird auf einem kleinen Berliner Festival für Independent Films gezeigt. Im Interview mit Anke Sterneborg erklärt Lou, was die Zensur für ihn bedeutet: "Man darf nicht drehen, und man darf auch nicht als Produzent oder Agent für einen anderen Regisseur arbeiten. Aber ich kann doch ein Drehbuch schreiben, denke ich, in meiner Wohnung. Und natürlich ist auch den Zensurbehörden klar, dass dieses Verbot nur in China gilt. Der verantwortliche Funktionär hat tatsächlich zu Journalisten gesagt: 'Wenn dieser Mann versucht, einen Film in einem anderen Land zu machen, dann geht mich das nichts an.' Das gab es früher nicht, da ging man davon aus, dass ihr Urteil weltweit gilt. Ich denke, es geht um eine Machtprobe - im Grunde ist dieses Verbot im Jahr 2006 ein Witz."

Weitere Artikel: Jörg Königsdorf beobachtete einen offensichtlich recht maulfaulen Kultursenator Wowereit bei einer Sitzung des Berliner Kulturausschusses über die Drei-Opern-Frage. Dirk Meyhöfer begutachtet das von den Architekten Diller & Scofidio entworfene Institute of Contemporary Art (Bilder) in Boston. Ingo Peitz verfolgte ein sogenanntes Powerpoint-Karaoke in Berlin. Olaf Arndt nimmt Guardian-Recherchen über verordneten und spontanen Drogengebrauch amerikanischer Soldaten im Irak auf. Anke Hilbrenner verfolgte die Tagung "Wie europäisch ist die Osteuropäische Geschichte?" in Berlin. Olga Grimm-Weißert berichtet, dass der Regisseur Nicolas Joel, seit 1990 Intendant der Toulouser Oper, als Nachfolger von Gerard Mortier zum künftigen Chef der Pariser Oper gekürt wurde.

Besprochen werden David Hares Stück "Vertical Hour" mit Julianne Moore am Broadway, die Ausstellung "Into Me / Out of Me" über die künstlerische Verarbeitung jeglicher Art von Körpersekreten in Berlin und Bücher, darunter ein großes Porträt über den Philosophen Ernst Cassirer.