Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.02.2007. In der NZZ klagt der spanische Autor Antonio Orejudo über angeödete Mittelklassekinder, die einen Madrider Vorort auseinandergenommen haben. Die taz ruft den Deutsch-Türken zu: Werdet eine Diaspora-Gemeinschaft! Die FR erfährt im Theater, was Überwachungsstaat bedeutet: totale Langeweile. Die Welt schwärmt von der magischen Qualität der Bilder Sigmar Polkes. Die SZ hat kein Mitleid mit den Emanzipationsverlierern: den Jungs.

NZZ, 06.02.2007

Kürzlich kam es in dem Madrider Vorort Alcorcon zu heftigen Ausschreitungen zwischen Mittelklasse-Jugendlichen, Einwanderern und der Polizei. Der Autor Antonio Orejudo schreibt sich seinen Ärger von der Seele: "Ein bisschen Stunk machen, andere bedrohen, vielleicht sogar mit dem Messer, das ist die Art Kitzel, die uns für einige Stunden die Monotonie unserer Existenz vergessen lässt. Der maßlose, antihumanistische Urbanismus der letzten Jahre trägt zur Verrohung der Jugendlichen im ganzen Land das Seine bei. Den Lokalbehörden, die so leichthändig Bewilligungen für neue Überbauungen erteilen, scheint dabei kaum je einzufallen, wie wichtig für das Zusammenleben Gemeinschaftsräume wären, Lokale, Institutionen, Aktivitäten, die das Testosteron und die Lebenslust dieser von sich selbst angeödeten Mittelklassekinder kanalisieren würden."

Weiteres: Lutz Windhöfel berichtet von dem Diskussionsmarathon "Free Zone / Freizone", mit dem die neue Direktorin des Schweizerischen Architekturmuseums Basel Besucher anlocken möchte. Besprochen werden Per Pettersons Roman "Im Kielwasser", Stefan Maelcks Satire "Pop essen Mauer auf" und eine neue Edition von Heinrich Bullingers "Schriften" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 06.02.2007

Isolde Charim betrachtet Birand Bingüls Emanzipationsaufruf an die Deutschtürken in der Zeit als möglichen Kristallisationspunkt einer neuen Immigrationsidentität. "Was aber geschieht, wenn die Deutsch-Türken ihre hybride, dezentrierte Identität akzeptieren? Wenn sie aufhören, sich hinter imaginären Türkei-Idyllen zu verschanzen? Deren kulturelle Fülle denunziert das Manifest als Simulation, da diese längst durch die Erfahrungen in Deutschland gebrochen sind. Was ist, wenn die Migranten Bingüls Aufruf folgen und um ihre Integration kämpfen würden? Dann würden sie ihr potemkinsches Dorf verlassen - aber nicht, um sich im deutschen Mainstream einzureihen, um darin aufzugehen, sondern um das zu werden, was sie sind: eine Diaspora-Gemeinschaft."

Weiteres: Susanne Messmer resümiert das Filmfestival Rotterdam mit seinem asiatischen Schwerpunkt. Christian Semler fasst eine Tagung zur deutsch-polnisch-jüdischen Erinnerung in Potsdam zusammen. In der zweiten taz kommentieren Hannah Pilarczyk und Steffen Grimberg Anne Wills Nachfolge von Sabine Christiansen. Adrienne Woltersdorf muss anmerken, dass amerikanische Frauen weniger emanzipiert sind als man denkt. Im Medienteil klärt Peter Nowak über das Internetwerk Indymedia auf.

Besprechungen widmen sich Nicolas Stemanns Version des "Don Karlos" am Deutschen Theater Berlin und Nicolaus Sombarts neu aufgelegter Roman "Rumänische Reise. Ins Land meiner Mutter".

Und Tom.

FR, 06.02.2007

Petra Kohse betritt in Nicolas Stemanns "Don Karlos" einen modernen Überwachungsstaat im Deutschen Theater Berlin. "Ingo Hülsmanns Philipp fleht via Kamera ein kalt lächelndes Moderatorenduo an, ihm Absolution zu erteilen, aber erntet nur irritiertes Desinteresse. Ein Opfer will hier keiner, die Geschichte ist durch, schon weiß kein Mensch mehr, wovon die Rede ist: Die Moderatoren werden selbst zum Bildschirmbild in der Kantine, die Kantine wiederum zum Bildschirmbild irgendwoanders und so weiter. Immer neue Leute fragen auf der Leinwand mit gleichgültiger Stimme 'Wohin?', bis dieses Theaterspanien wirklich nicht mehr ist als ein Reclamheft in der Hand eines Kindes, das am Ende als Infantin auf der Bühne steht, die letzten Zeilen abliest und mit dem erleichterten Zusatz schließt: 'fertig'."

Weiteres: Oliver Fink schwärmt vom neuen Zeughaus in Mannheim und empfiehlt vor allem die Lichterinstallation an der Fassade. Elke Buhr realisiert auf der transmediale in Berlin die Normalität der Medienkunst. In Times mager lacht Christian Schlüter mit schlagfertigen Sportlern. Buchbesprechungen gibt es außerdem, etwa von Peter Peters Kulturgeschichte der italienischen Küche oder Ekkehard Eickhoffs Buch über Venedigs Untergang im achtzehnten Jahrhundert (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Welt, 06.02.2007

Drei Sammler präsentieren im Museum Frieder Burda in Baden-Baden die Werke Sigmar Polkes. "Höhere Mächte befahlen" ist alles, was der Maler zu Entstehung, Hintergrund und Deutung seiner Werke preisgibt. Stefan Tolksdorf stellt erfreut fest, dass die höheren Mächte, mit denen Polke im Bunde ist, viel Sinn für Ironie besitzen. Und es kommt Magie dazu: "Diese magische Qualität, die sich jedem Stilbegriff versagt, macht, im Verbund mit seiner formalen Experimentierlust, den Reiz dieses Vaganten der Kunstgeschichte aus."

Eckhard Fuhr lobt das Förderprojekt "Jedem Kind ein Instrument", in dessen Rahmen in den nächsten Jahren 200.000 Kindern im Ruhrgebiet das Musizieren nähergebracht werden soll. Uta Baier freut sich auf die Studentenausstellung an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst, die dank der Erfolge der Neuen Leipziger Schule vom Publikum überrannt werden dürfte. Simone Rafael porträtiert Englands "neuen Pop-Helden" Jamie T. Und ein kurzer Hinweis: Heute ist Safer Internet Day. Auf der Forums-Seite rekapituliert der Historiker Michael Stürmer zum Anlass jüngster Chirac-Äußerungen Frankreichs Verhältnis zur Atombombe.

Besprochen werden Thilo Reinhardts Inszenierung von "Hoffmanns Erzählungen" an der Komischen Oper Berlin, (nur dekorativ, aber vom Publikum "durchgejubelt") und Philipp Himmelmanns "Tannhäuser"-Inszenierung in Hannover. Eine Rezension gibt es zu David Thimmes Biografie des Mittelalter-Historikers Percy Ernst Schramm.

SZ, 06.02.2007

Britta Voss hält die Aufregung um Jungs als Emanzipationsverlierer für eine Phantomdebatte. "Die reaktionäre Rhetorik der unterwanderten Männlichkeit ist erstaunlich: Genau die Mädchen, so wird suggeriert, die bis vor zwanzig Jahren als Sorgenkinder gelten mussten, in ihrer wenig fordernden, wenig durchsetzungsfähigen 'Weiblichkeit', werden nun zur unliebsamen Konkurrentin. Ihre so natürliche Fühligkeit (emotionale Intelligenz), Unterordnung (Flexibilität) und Schwatzhaftigkeit (Kommunikativität) werden sprachlich aufgemotzt und als berufsbefähigende soft skills geadelt. Doch nur einige Jahre weiter sehen die Lebenswirklichkeiten von Frauen und Männern anders aus. Frauen verdienen für gleiche Arbeit immer noch durchschnittlich bis zu 30 Prozent weniger und in den Führungspositionen bleiben sie exotische Farbtupfer."

Weiteres: Für die Megalopolis-Reihe führt uns der Autor Dmitrij Prigow durch die drei Utopien von Moskau. Die deutschen Bischöfe sind mit der Aussicht, die Messe auch wieder auf Latein abhalten zu können, gar nicht so glücklich, kolportiert Alexander Kissler. Oliver G. Hamm besichtigt die Fortschritte der deutsch-polnischen Integration in Guben/Gubin. Dem Bonner Kunstmuseum droht wegen Differenzen mit den Kosmetikerben Ulrich und Sylvia Ströher ein Abzug der Sammlung Grothe, informiert Steffen Koldehoff. Claus Heinrich Meyer klagt in einer Zwischenzeit über die Formlosigkeit der E-Mail. Gerhard Matzig schreibt zum Tod des dänischen Designers Hans J. Wegner. Franziska Augstein weiß, dass das Fritz Bauer-Institut mit dem Jüdischen Museum in Frankfurt zusammengelegt wird. Anne Will wird Nachfolgerin von Sabine Christiansen. Claudia Tieschky führt auf der Online-Seite ein spontanes Kurzinterview mit einer sehr diplomatischen Moderatorin in spe. "Es wird unterscheidbar sein, da bin ich sicher. Es muss aber auch nicht die Neuerfindung des Rades werden."

Beim Spiegel bewerben sich fünf Kandidaten um zwei Geschäftsführersitze in der Beteiligungsgesellschaft, auf der Medienseite beschreibt Christopher Keil das Rennen. "Es treten an: Steingart, 44, Günstling Austs, Autor zweier beachteter Wirtschaftsbücher, eine Art Intellektueller der ökonomischen Agenda und kühler Stratege. Marianne Wellershoff, 43, Tochter des Schriftstellers Dieter Wellershoff ("Der Liebeswunsch"), Chefin des Kultur-Spiegel. Außerdem Manfred Ertel, 56, fast 30 Jahre Spiegel-Mann, ehemaliger Betriebsrat, derzeit verortet in der Außenpolitik, verbandelt mit Krista Sager, der stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der Grünen im Bundestag. Auch die zwei bisherigen KG-Geschäftsführer bewerben sich: Armin Mahler, 52, Leiter des Wirtschaftsressorts, ein als integer und besonnen geltender Konsensvertreter, und Thomas Darnstädt, 57, promovierter Jurist, noch Sprecher der Mitarbeiter-KG, ein verlässlicher Kritiker Austs und vielleicht auch deshalb zuweilen Urheber unbedachter Äußerungen".

Besprochen werden Nicolas Stemanns "intelligent-bösartige" Inszenierung des "Don Karlos" am Deutschen Theater Berlin, die Ausstellung "Graftworld" mit Entwürfen des Architekturbüros Graft in der Galerie Aedes am Pfefferberg in Berlin, ein Konzertabend mit Kent Nagano an der Bayerischen Staatsoper in München, die vierte Folge von Joachim Masanneks Film "Die Wilden Kerle", und Bücher, darunter Richard P. Heitzenraters Studie "John Wesley und der frühe Methodismus" sowie Thomas Langs Roman (Leseprobe hier) "Unter Paaren" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 06.02.2007

Auf einer Tagung zum Thema "Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz" hat Richard Kämmerlings sich vor allem von Kritik an Bernhard Schlinks "Der Vorleser" überzeugen lassen. Heinrich Wefing hält Klaus Wowereit als selbsternannten Berliner Kultursenator nach den ersten Monaten für eine glatte Fehlbesetzung: Jedenfalls gebe es bisher "keinen Plan, keinen Gedanken, keine konzeptionelle Rede". Anselm Kiefer hat bedeutungsschwere Türme gebaut im Innenhof der Londoner Royal Academy - Gina Thomas stand davor und berichtet ehrfürchtig. Außerdem meldet sie, dass sich in Großbritannien eine Gruppe linker Juden - dabei sind neben vielen anderen Eric Hobsbawm, Stephen Fry und Literatur-Nobelpreisträger Harold Pinter - in Zukunft unter dem Namen "Independent Jewish Voices" als israelkritische Gegenöffentlichkeit zu Wort melden will. Timo John staunt über die nach der Restaurierung in neuem Glanz erstrahlenden Konzilsfresken in der Konstanzer Dreifaltigkeitskirche. Gerhard Stadelmeier glossiert die Gründung eines Richard-Wagner-Vereins im fernen Abu Dhabi.

Zwei Interviews dominieren die Medien-Seite. Christiansen-Nachfolgerin Anne Will kündigt wenig überraschend an: "Ich habe mir vorgenommen, eine aktuelle gesellschaftspolitische Gesprächsrunde anzubieten. Eine Runde, die Themen aufgreift und die Themen setzt. Eine Talkshow, die relevant ist." Und Bernd Runge, der deutsche Conde-Nast-Chef beschreibt die Zielgruppe der am Donnerstag startenden deutschen Vanity-Fair-Ausgabe: "Wir schreiben für eine Elite, die sich als die verantwortungsbewusste, gestaltende Elite des Landes versteht." FAZ-Leser also, quasi. Auf der letzten Seite stellt Joseph Hanimann den neuen Direktor des Pariser "Institut du monde arabe" Dominique Baudis vor. Jürg Altwegg porträtiert den Schweizer Bertrand Piccard, der ein großes und superleichtes Flugzeug konstruieren lassen will, das einzig von Sonnenenergie angetrieben wird.

Auf der DVD-Seite schreibt der Regisseur Dominik Graf über zwei Ross-Mc-Donald-Verfilmungen mit Paul Newman. Außerdem werden Russ Meyers "Blumen ohne Duft" und der Film "Zidane. Un portrait du XXIeme siecle" empfohlen.

Besprochen werden eine CD des Oud-Spielers Marcel Khalife, Hans Neuenfels' Inszenierung von Federico Garica Lorcas "Bernarda Albas Haus" am Schauspiel Köln, eine Inszenierung von Marin Marais' Oper "Semele" in Montpellier, ein Konzert von Snow Patrol in Offenbach, eine Kammerfassung von Sergej Prokofjews "Romeo und Julia" in Greifswald und ein Buch, nämlich Jan Süselbecks Arno Schmidt und Thomas Bernhard ins Gespräch bringende Studie "Das Gelächter der Atheisten" (mehr in der Bücherschau ab 14 Uhr).