Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.07.2007. Für die taz hat der Schriftsteller Joachim Lottmann herausgefunden: Es gibt keine Prostitution auf Kuba. Nur Frauen, die sich über ein kleines Geschenk freuen. In der SZ legt der Kunsthistoriker Beat Wyss dar: Die Kunst braucht keine Theorie mehr. Sie hat ja jetzt den Markt. Die NZZ erlebte bei einer Lesung Robert Menasses in Leukerbad eine denkwürdige Szene. In der FAZ erklärt Florian Henckel von Donnersmarck, warum Scientology-Mitglied Tom Cruise den Hitler-Attentäter Stauffenberg spielen muss. Das Blog der Publizistikstudenten in Berlin kritisiert die Perlentaucher-Berichterstattung der FAZ.

NZZ, 03.07.2007

Eine denkwürdige Szene erlebte Roman Bucheli bei einem Literaturtreffen in Leukerbad: Robert Menasse las eine neue Erzählung "über eine jüdische Famile, die versteckt im Affenhaus des Amsterdamer Zoos, den Krieg und den Hungerwinter 1944/45" überlebte. "Nein, Menasse erzählt das nicht, aber er schildert, wie in der Familie die Geschichte immer wieder zum Besten gegeben und wie sie in der Wiederholung allmählich zur Karikatur ihrer selbst wird und nun, beim Tod des Großvaters, da sie abermals erzählt wird, zum parodistischen Irrläufer gerät und die zur Farce entstellte Tragödie ihren Tribut fordert. Lachend ging das Publikum mit und merkte kaum, wie sich hinter der komödiantischen Inszenierung des Textes ein Abgrund auftat - bis am Ende der Autor, überwältigt von der Wucht des Textes, in Tränen ausbrach."

Der Schriftsteller Tim Winton aus Perth, der "isoliertesten Millionenstadt der Welt" ("die nächstgelegene größere Stadt, Adelaide, ist 2708 Kilometer entfernt") erzählt in der Reihe "An der Klimafront" über die Folgen des Klimawandels in seiner Region. Der Schriftsteller Ferdinand Bordewijk legt eine Erzählung unter dem schlichten Titel "Nein" vor.

Weitere Artikel: Dietrich Heissenbüttel besucht eine Ausstellung zur Archäologie des Gazastreifens ("eine Region von höchstem archäologischem Interesse: Mehr als 500 Objekte illustrieren eine sechstausendjährige Geschichte, in der sich Ägypter und Perser, Ptolemäer und Seleukiden, Römer und Byzantiner sowie die verschiedenen Dynastien islamischer Zeit ablösten") in Genf.

Besprochen werden außerdem Peter Konwitschnys Inszenierung von Lehars "Land des Lächelns" an der Komischen Oper Berlin, eine Ausstellung über das Lebenswerk von Kurt Wolff in Bonn, eine Liedmatinee Thomas Quasthoffs im Opernhaus Zürich und Bücher, darunter Navid Kermanis Roman "Kurzmitteilung" und Jachym Topols Roman "Zirkuszone" über die Niederschlagung des Prager Frühlings (von Paul Jandl als grandios gefeiert).

TAZ, 03.07.2007

Der Schriftsteller Joachim Lottmann hat Kuba bereist, ein Land, in dem alles besser ist. Auch Prostitution gibt es hier gar nicht: "Niemals würde ein Mann so penetrant angemacht wie in der Oranienstraße in Berlin oder wie auf der Reeperbahn in Hamburg. Wer mit einer Kubanerin etwas anfängt, hat es mit 99-prozentiger Wahrscheinlichkeit nicht mit einer Nutte zu tun, sondern einem Menschen, der neugierig ist, viel Zeit hat und nie ins Ausland kann. Und sich über ein kleines Geschenk freut." Und das mit den Gefängnissen und den weggesperrten Dissidenten ist ebenfalls ein Märchen: "Ich halte die rattigen Folterkeller für eine dieser Infos, die sich Bush und Condi Rice am Handy ausdenken."

Das Berliner Poesiefestival verhilft Andreas Resch zu folgender Doppelerkenntnis. "Lyrik als literarische Gattung ist weiterhin im Begriff, zur Marginalie zu werden. Einer Marginalie allerdings, die durchaus massentauglich ist, sobald sie zur Performance wird. Zweitens: Wie kaum einer anderen Kunstform ist es der Poesie gelungen, in der Digitalität eine neue Identität zu finden."

Weiteres: Dirk von Lotzow, Sänger der Band Tocotronic, betont gegenüber Kirsten Riesselmann und Thomas Winkler die Wichtigkeit des Nichtstuns, die auf dem neuen Album "Kapitulation" betont wird.Christian Semler annonciert eine Historikertagung in der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen, in der es um die Rolle der Gewerkschaften im Nationalsozialismus geht. Robert Misik entdeckt mit Hilfe des Soziologen Benedict Anderson die guten Seiten des Patriotismus und analysiert Barack Obama.

Und Tom.

FR, 03.07.2007

"Furios" und konsequent düster findet Jürgen Otten Peter Konwitschnys Aufführung von Franz Lehars Operette "Land des Lächelns" an der Komischen Oper Berlin. Alles beginnt recht gemütlich. "Ein Fest in der Wiener Gesellschaft, mit Monokeln und Mätressen, mit Champagner und Anzüglichkeiten. Auf der Bühne von Jörg Kossdorf stehen, wie in einem Architekturbüro oder im Museum, die Insignien des schönen Wien, Stephansdom, Staatsoper, das Riesenrad vom Prater, einige Büsten und Putti, so was eben. Die Röcke rauschen, die Plauderei plätschert, die Dekolletees sind delikat, wie es sich gehört. Doch es dauert nicht lange, da saust der Kronleuchter zu Boden und scheppert dissonant das Blech im Orchestergraben."

Weiteres: Der Historiker Arno Nolzen stellt fest, dass zumindest in der Theorie ein unterschriebener Antrag vonnöten war, um wie Hildebrandt, Walser und Lenz in die NSDAP aufgenommen zu werden. Das Gedenkwesen in Russland steckt voller Widersprüche, stellt Karl Grobe fest: Würdigungen Stalins wechseln sich mit Erinnerungen an den letzten Zar ab, und in Jekaterinburg wird überraschenderweise an des Kriegs in Afghanistan gedacht. Arno Widmann kehrt von einer Tagung zum jüdisch-muslimischen Verhältnis auf Schloss Elmau nicht gerade hoffnungsvoll zurück. Christian Schlüter erklärt Paris Hilton zur langweiligen sozialen Skulptur und hofft, dass sie nicht so alt wie ein Monet wird. In einer Times mager informiert Harry Nutt über den Willen Dieter Lehmanns, als Nachfolger von Jutta Limbach ab März 2008 das Goethe-Institut zu leiten.

Besprochen wird Hofesh Shechters "unbefangen eklektizistische" Choreografie "deGeneration" in Frankfurt.

Welt, 03.07.2007

Torsten Kraul erzählt, wie in den USA Michael Moores Film über das amerikanische Gesundheitssystem "Sicko" diskutiert wird. Offenbar kontrovers, aber sehr ernsthaft: "Die Los Angeles Times brachte eine positive Rezension. 'Moore spitzt zwar manchmal zu, aber sein Fazit - es gibt eine andere Seite dessen, was wir normalerweise zu hören bekommen - ist kaum zu ignorieren.' Der Rezensent erinnert sich daran, dass ihm sein Professor gesagt habe, das erste nationale Gesundheitssystem habe 'dieser grausliche Sozialist Otto von Bismarck erfunden', und schließt: 'Wir Amerikaner glauben ja gern, am besten zu wissen, was zu tun sei; die Leistung 'Sickos' ist es, dass man sich dessen nach diesem listig-konfrontativen Film nicht mehr so sicher ist.'"

Mit Begeisterung hat sich Manuel Brug Peter Konwitschnys Lehar-Inszenierung "Land des Lächelns" angesehen: "Es wird professionell geschossen und treffsicher im Schwarzen gelandet." Hendrik Werner wundert sich über das Projekt der britischen Nationalbibliothek, Millionen von E-Mails zu archivieren - "ohne Rückfragen wegen etwaiger Nullsemantik". Uwe Wittstock bezeichnet die Ernennung Klaus-Dieter Lehmann zum neuen Direktor des Goethe-Instituts als eine "glückliche Wahl". Michael Pilz berichtet vom Londoner Gedenkkonzert für Prinzessin Diana. Peter Dittmar sieht sich die Tierschau im Kölner Wallraf-Richartz-Museum an. Und Sven Felix Kellerhoff bestreitet, dass Siegfried Lenz, Martin Walser und Dieter Hildebrandt in die NSDAP eingezogen werden konnten, ohne ihre Unterschrift gegeben zu haben.

FAZ, 03.07.2007

In einem langen Text erklärt Florian Henckel von Donnersmarck ("Das Leben der Anderen"), warum Scientology-Mitglied Tom Cruise den Hitler-Attentäter Claus Schenk Graf von Stauffenberg spielen muss. "Vielleicht müssen wir einfach erkennen, dass wir alle keine Götter sind, weder Stauffenberg noch Tom Cruise, noch L. Ron Hubbard, noch wir anderen. Am deutschen Wesen wird niemand genesen, und auch nicht am amerikanischen. In Wahrheit kann doch jeder nur für sich und an sich selber genesen, und das Leben bleibt eine Suche nach der inneren Wahrheit. Und genau für diese Suche steht Stauffenberg. Einen sicheren Rahmen für diese Suche zu bieten, das wünsche ich mir vom Staat. In Sachen Tom Cruise und Stauffenberg hat sich der deutsche Staat aber wieder einmal so präsentiert, als hätte er die Antworten." (Online steht nur eine Zusammenfassung)

Weiteres: Edo Reents berichtet über die Krise beim Aufbau-Verlag und mögliche Verkaufsabsichten des Verlegers Bernd Lunkewitz. Lisa Nienhaus schreibt über den Moscheebau im Kölner Stadtteil Ehrenfeld, der den sozialen Frieden im Viertel auf die Probe stellt. Gina Thomas gratuliert dem Dramatiker Tom Stoppard zum Siebzigsten. kho informiert über den 13. internationalen Tschaikowsky-Wettbewerb. Mark Siemons berichtet über den Zyklus "Brief an Peking" von Günter Uecker, der mit zwölfjähriger Verspätung für eine Woche im Pekinger Nationalmuseum zu sehen war. Alexandra Kemmerer berichtet von einer Priesterweihe im Mainzer Dom, bei der Kardinal Lehmann den Spielraum der Liturgie auslotete. Theodor Geus würdigt den verstorbenen Reisejournalisten Friedrich A. Wagner.

Auf der letzten Seite widmet sich die Autorin Ulla Lenze der schönen Frage, ob eigentlich auch der Orient vom Orient träumt. Martin Kämpchen beschreibt Folgen des Klimawandels in Indien. Und Dieter Bartetzko porträtiert Frankfurts oberste Denkmalschützerin Andrea Hampel.

Besprochen werden Simon Rattles Dirigat der "Walküre" im neuen Festivalpalast von Aix, dem Grand Theatre de Provence, eine CD von Wolfgang Dimetrik, der darauf unter anderem Bachs "Goldbergvariationen" auf Akkordeon eingespielt hat, eine Ausstellung mit Grafiken von Sister Corita im Kölner Museum Ludwig, ein Berliner Konzert des Sängers Robin Thicke und Bücher, darunter der Roman "Wenn die gelbe Sonne brennt" von Geir Pollen (siehe dazu unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

Weitere Medien, 03.07.2007

Alexander Koenitz kritisiert im Blog der Berliner Publizistikstudenten die jüngsten "Recherchen" der FAZ über den Perlentaucher und spricht auch die Tatsache an, dass die FAZ nur über den Prozess berichtete, den sie gegen Perlentaucher gewonnen hatte, aber nicht über den, den sie verlor: "Pünktlich zum zweiten Gerichtstermin beginnt die FAZ wieder in ihrem - eigenen - Sinne zu berichten, nicht ohne auch ein bisschen Dreck zu schmeißen. Manche würden das 'meinungsstark' nennen, für mich handelt es sich eher um einen Beleg für die Kampagnenfreudigkeit einer etablierten Tageszeitung gegen einen unliebsamen Konkurrenten. Dabei ist es mehr als bezeichnend für die Hybris von einigen Journalisten, dass sie es nicht für nötig halten, ihre Leser transparent und vollständig von der eigenen Involviertheit in dieser Angelegenheit in Kenntnis zu setzen." Der Perlentaucher wird auf die Berichterstattung der FAZ zurückkommen.

SZ, 03.07.2007

Fröhlich begräbt der Kunsttheoretiker Beat Wyss seine Profession und erklärt rechtzeitig zur documenta das Ende der Theorie in der Kunst. "Der Betrieb strotzt wie nie, obwohl - oder besser: gerade weil er nicht mehr auf theoretische Begründung angewiesen ist. Die Kunst hat Laufen gelernt wie Zarathustra, jetzt will sie nicht mehr gestoßen werden - von der schreibenden Zunft am wenigsten. Das alleinige Regulativ der Formschöpfung ist der Markt, der dem Werk die Stichworte und die Maßstäbe setzt. Es geht weder um Stilfragen noch um politische Theorie. Es ist jetzt wie bei Media Markt: Hier spricht der Preis. Und die Partys. Und wer eingeladen war: exakt jene Nachrichten also, die in Kunstzeitschriften fehlen, wo bei einem Abonnentenstamm von 6000 treuen, fachlich geschulten Lesern ums Überleben gekämpft wird. Die Kunstzeitschrift neuen Typs ist Vanity Fair, Gala, die Bunte."

Weitere Artikel: An der Hamburger Kunsthochschule haben 70 Prozent der Studenten aus Protest gegen die neuen Studiengebühren noch nicht gezahlt, informiert Till Briegleb. Harald Eggebrecht nimmt sich eine Zwischenzeit, um von seinem Besuch in James Madisons Landhaus in Virginia zu erzählen. Christian Kortmann rät den Urhebern viraler Marketingkamapgnen zur Qualität. Alexander Menden schreibt zum 70. Geburtstag des britischen Dramatikers Tom Stoppard. Rebiya Kadeer, die Anführerin der chinesischen Uiguren im Exil (mehr hier), spricht mit Edeltraud Rattenhuber über die Unterdrückung ihres Volkes. Die 300 Künstler, die für das "Europäische Jugendtreffen" nach Berlin kamen, wurden laut Nico Daniel Schlösser von der Politik leider nicht ernst genommen.

Auf der Literaturseite resümiert Hans-Peter Kunisch ein durchwachsenenes Poesiefestival in Berlin, das überraschenderweise immer nur so gut wie die auftretenden Lyriker war. Lothar Müller stellt den diesjährigen Bachmann-Preisträger Lutz Seiler vor. Ins Panorama verbannt ist ein Interview, in dem Kabarettist Dieter Hildebrandt gegenüber Martin Zips die Recherchen des Focus bezüglich seiner NS-Mitgliedschaft als "Rufmord" bezeichnet und sich höchstens vorstellen kann, dass seine Mutter den Antrag unterschrieben hat.

Besprochen werden Peter Konwitschnys "hellsichtige" Inszenierung von Franz Lehars Operette "Land des Lächelns" an der Komischen Oper Berlin, ein gemeinsames Konzert des Henschel-Quartetts und Quatuor Ebene und in München ("schlicht Weltklasse", seufzt Joachim Kaiser über letztere), eine Ausstellung mit Plakatkunst und Typografie von Jan Tschichold in der Münchner Villa Stuck, Curtis Hansons "charmanter" Pokerfilm "Glück im Spiel", und als Bücher Klaus Bringmanns Biografie von Kaiser "Augustus" sowie Karlheinz Lüdekings Essays über "Die Grenzen des Sichtbaren".