Heute in den Feuilletons

Selbstironischer Ich-Umkreiser

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.06.2008. Die taz hat herausgefunden: Judy Garland war im "Zauberer von Oz" auf Speed. Alle trauern um Peter Rühmkorf. Matthias Politycki nennt ihn auf spiegel.de "herrlich hallodrihaft". Die SZ sucht das Politische im Dichter. Für Reich-Ranicki war Rühmkorf ein Dichter der Gasse und der Masse. Die NZZ erinnert an den Zürcher Literaturstreit vor langer langer Zeit.

TAZ, 10.06.2008

Neues zur Droge Speed und dem Wizard of Oz gibt es von Hans-Christian Dany. Der Autor von "Speed - eine Gesellschaft auf Droge" erzählt Klaus Walter, was Amphetamine in dem berühmten Kinderfilm zu suchen haben. "Judy Garland war 15, als sie gecastet wurde für den Film 'Der Zauberer von Oz', also eigentlich zu alt für die Rolle des Kindmädchens Dorothy. Just zu Beginn der Dreharbeiten, 1939, fing sie an zu pubertieren. Daraufhin hat die Produktion ihr Amphetamin verschreiben lassen, um ihren Appetit zu zügeln und das Pubertieren zu bremsen. Wenn man den Film mit diesem Wissen anschaut, fällt ihr Blick noch mehr auf. Sie schaut einen so entrückt aus der Ferne an." Ob sich einer der Zwerge während der Dreharbeiten erhängt hat und seine baumelnden Füße im fertigen Film kurz zu sehen sind, ist allerdings noch umstritten.

Weiteres: In Berlin wurde vier Tage lang über "Prognosen über Bewegungen" diskutiert und getanzt, und Ekkehard Knörer hat freie Denkräume, aber auch unscharfe Definitionen erlebt. In den vergangenen Wochen zelteten geisteswissenschaftliche Studenten auf dem Gelände der Freien Universität, um gegen die Umstrukturierungen im Gefolgen von Bologna zu protestieren, berichtet Anna Panek.

In der zweiten taz besucht Sabine am Orde ein Schülerwohnheim des Verbands der Islamischen Kulturzentren, dem vorgeworfen wird, in den konservativ ausgerichteten Einrichtungen die Kinder zu indoktrinieren und die Integration zu hemmen. Im Medienteil prangert Sven Hansen das Gebaren der chinesischen Regierung an, von einreisenden Journalisten genaue Recherchepläne mit dem Namen von Ansprechpartnern zu verlangen.

Besprochen
wird das Album "Lookout Mountain, Lookout Sea" von den Silver Jews.

Schließlich Tom.

NZZ, 10.06.2008

Roman Bucheli berichtet vom Fund der folgenschweren Rede "Literatur und Öffentlichkeit" des Germanisten Emil Staiger, die 1966 den berühmten "Zürcher Literaturstreit" auslöste. In dem Tondokument hört man Staiger die moderne Literatur verunglimpfen: "'Wenn solche Dichter behaupten, die Kloake sei ein Bild der wahren Welt, Zuhälter, Dirnen und Verbrecher ['Säufer' in der gedruckten Fassung] Repräsentanten der wahren, ungeschminkten Menschheit, so frage ich: In welchen Kreisen verkehren sie?'" (Die Rede kann man sich hier als mp3 anhören und hier als pdf lesen.)

Weitere Artikel: Christian Saehrend berichtet von der Einweihung des Denkmals für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen in Berlin vor knapp zwei Wochen - für ihn offensichtlich das Produkt einer starken "schwulen Lobby". Daniel Ender empfindet das Musikprogramm der Wiener Festwochen als "klares Bekenntnis zur Moderne". Peter Hagmann sah hier Aufführungen von Hans Werner Henzes "Phaedra" und George Benjamins "Into the Little Hill". Paul Jandl hat auf einem Symposion über die "Unanschaulichkeit der Geschichte" des Wiener Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften (IFK) erkannt: "Man sieht, was man nicht sieht." Der serbischstämmige Schriftsteller David Albahari behauptet kurz und bündig: "Ich bin immer achtsam."

Besprochen werden Atle Naess' Roman "Die Riemannsche Vermutung", Edward St Aubyns Romane "Schlechte Neuigkeiten" und "Nette Aussichten" und Ludger Lütkehaus' Essayband "Vom Angang und vom Ende". Ingrid Galster erkennt in Peter Bürgers "Abrechnung" "Sartre. Eine Philosophie des Als-ob" eine Anpassung des Autors an den Zeitgeist (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FR, 10.06.2008

Ina Hartwig schreibt den Nachruf auf Peter Rühmkorf und muss sich als sehr früher Fan seiner Lyrik outen: "Wer als Grundschülerin das Glück hatte, die 1971 im Wagenbach Verlag erschienene Schallplatte 'Warum ist die Banane krumm?' zu besitzen, hat wahrscheinlich eine spezielle Beziehung zu Peter Rühmkorf."

(Bei Lyrikline kann man einige Gedichte von Rühmkorf lesen und von ihm vorgetragen hören)

Peter Michalzik hält in der Times Mager einmal grundsätzlich fest, wie unangenehm es ihm ist, wenn sich die Politik mit Floskeln wie "mehr Netto vom Brutto" an ihn ranschmeißt: "'Mehr in der Tasche' haben, das war noch näher an uns dran, das menschelte noch ungenierter. 'Mehr in der Tasche', das war so, als würden sie einem eine schmierige Hand in die Hose schieben, die dann ein paar Euro zurücklässt. Ekelhaft."

Weiteres: Sebastian Moll besucht das Woodstock-Museum in Bethel Wodds. Besprochen werden Tatjana Gürbacas laut Jürgen Otten etwas holperige Inszenierung des "Fliegenden Holländers" an der Deutschen Oper Berlin, der Auftakt von Rene Polleschs Ruhrgebietstrilogie "Tal der fliegenden Messer" und das neue Album von Weezer mit gleichem Titel.

Welt, 10.06.2008

Dirk von Petersdorff, selbst Lyriker, schreibt zum Tod von Peter Rühmkorf: "Beim Lesen bemerkt man sofort: Das ist ein Sänger. Für Rühmkorf hat die alte Bindung der Lyrik an die Musik immer ihre Bedeutung behalten; Verse können intelligent, witzig oder tiefsinnig sein, aber erst einmal müssen sie klingen."

Weitere Artikel: Dankwart Guratzsch gratuliert dem Luxemburger Architekten Rob Krier zum Achtzigsten. (Einen großen Artikel über Leon Krier, den Bruder und ebenfalls antimodernistischer Architekt, veröffentlichte der Philosoph und Professor für psychologische Wissenschaften Roger Scruton gerade im City Journal.) Uwe Wittstock kommentiert Erwin Strittmatters gravierendes Schweigen zu seiner SS-Vergangenheit. Jan Opielska meditiert über die gebremsten Triumphgesten des aus Polen stammenden Lukas Podolski nach seinen Toren für Deutschland gegen Polen. Thomas Lindemann notiert, dass der einst in einem Hawks-Remake von Al Pacino vekörperte "Scarface" nach und nach zu einer Kultfigur des Pop wurde. Peter Ditmar gratuliert dem amerikanischen Kinderbuchautor Maurice Sendak zum Achtzigsten. Thomas Vitzthum berichtet über den Fund eines Liszt-Briefs, der ein interessantes Licht auf seine Weimarer Zeit wirft.

Besprochen werden Strauss' "Capriccio" in der Wiener Staatsoper (das nach Manuel Brug Renee Fleming zur Königin der Ringstraße machte) und eine Choreografie Philippe Decoufles bei den Ruhrfestspielen.

Auf der Magazinseite porträtiert Ulli Kulke (leider nicht online) den Biologen Ingo Potrykus, der eine Reissorte entwickelte, die Vitamen A enthält und viele Menschen in armen Ländern vor Mangelernährung schützen kann.

SZ, 10.06.2008

In ihrem Nachruf würdigt Franziska Augstein vor allem den auf recht komplexe Weise politischen Dichter Peter Rühmkorf: "Das Politische an Rühmkorfs Gedichten ergibt sich nicht daraus, dass er eine Botschaft an den Mann hätte bringen wollen und dafür das passende Reimkleid suchte. Er dachte politisch. In 'Tabu II' schrieb er, man habe ihn gefragt, woher er eigentlich immer noch seine Wut beziehe. Seine Antwort: Das sei 'ein festes Integral meiner Angst, seit den Nazis tief eingefleischt, und durch Diskussionen allein nicht mehr aus der Welt zu schaffen'."

Abgedruckt wird dazu das Rühmkorf-Gedicht "Rückblickend mein eigenes Leben...", in dem das Ich die Stellung hält "bis der letzte Biß und der letzte Schiß in einem Reim / zusammenfallen / und die Führung endgültig an die Kakerlaken übergeht...".

Weitere Artikel: Von ihrer virtuellen Begegnung mit einem sütterlinschreibenden Antiquar erzählt Evelyn Roll. Vasco Boenisch zieht eine gemischte Bilanz der ersten Saison von Karin Beiers Kölner Schauspiel-Intendanz - unter die sie mit einer Inszenierung von Grillparzers "Goldenem Vlies" allerdings einen "furiosen Schlusspunkt" gesetzt habe. Über die Autorentage am Hamburger Thalia-Theater schreibt Till Briegleb. Egbert Tholl berichtet vom Musik-Festival im norwegischen Bergen. Joachim Käppner erinnert an die "gemeinsame Geschichte Deutschlands und Italiens unter dem Faschismus". Jens Bisky meldet, dass die Stasi-Unterlagenbehörde vorderhand ohne genaues Ablaufdatum fortbesteht. Andrian Kreye gratuliert dem Kinderbuchautor Maurice Sendak zum Achtzigsten. Enver Robelli würdigt den im Alter von 72 Jahren verstorbenen Roma-Sänger Saban Bajramovic. Auf der Medienseite rätselt Cathrin Kahlweit über die "Selbstdemontage" der Alice Schwarzer.

Auf der Literaturseite kommentiert Jörg Magenau kommentiert den Casus Erwin Strittmatter, den der Germanist Werner Liersch als Bataillonsschreiber für ein in die SS eingegliedertes Polizei-Gebirgsjäger-Regiment geoutet hat. Das Bataillon war in Griechenland, Oberkrain und Untersteiermark in der Partisanenbekämpfung im Einsatz war und hat Erschießungen, Massaker und Zerstörungen von Dörfern zu verantworten. "Nicht zuletzt der Verweis auf die lähmende Scham erinnert an den Fall Günter Grass und dessen spätes Bekenntnis, als 17-Jähriger 1945 zur Waffen-SS eingezogen worden zu sein. Doch Strittmatter, Jahrgang 1912, war entscheidende Jahre älter. Sein Schweigen wiegt schwerer, weil er in viel stärkerem Maße in den verbrecherischen Krieg verwickelt war. Er, der 1994 gestorben ist, hat es versäumt, selbst für Klarheit zu sorgen und seine Biografie ehrlich zu machen."

Hans Peter Kunisch berichtet von einer Berliner Tagung mit dem schönen Thema "Autoren übersetzen sich selbst".
Rezensionen gibt es zu Gustav Adolf Lehmanns "Perikles"-Biografie und zu Ulrich Noethens 43stündiger Komplett-Lesung von Margaret Mitchells "Vom Winde verweht" als Hörbuch (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Besprochen wird Tatjana Gürbacas Inszenierung des "Fliegenden Holländer" an der Deutschen Oper Berlin.

FAZ, 10.06.2008

Dreistimmig nimmt die FAZ Abschied von Peter Rühmkorf. Wie Poetik und Politik für Rühmkorf im Gedicht zusammenhängen, erklärt Patrick Bahners: "Vergemeinschaftung ist das Zauberwort seiner Theorie der Dichtung: Wie die Einfälle sich gewaltlos zum Werk fügen, so sollen sich auch die Bürger in schöner Ungezwungenheit miteinander arrangieren." Marcel Reich-Ranicki schreibt über die Widersprüchlichkeit des Autors: "Er war ein feinsinniger Ästhet, ein raffinierter Schöngeist, ein exquisiter Ironiker. Nur war er zugleich ein plebejischer Poet, ein handfester Spaßmacher, ein Verwalter des literarischen Untergrunds, ein Dichter der Gasse und der Masse, einer, der die Lyrik auf den Markt gebracht hat." Und der Kollege Michael Lentz: "Peter Rühmkorf war ein Virtuose der Form, des poetischen Bildes und des Gedankens, ein kongenialer Traditionsverwerter und Erinnerer, ein selbstironischer Ich-Umkreiser und politischer Sänger, der stets um den vermeintlich letzten Rest Utopie gerungen hat."

Weitere Artikel: In der Glosse schreibt Franziska Seng über Leseempfehlungen für die amerikanischen Präsidentschaftskandidaten. Regina Mönch informiert über den noch immer nicht beendeten Streit um die Rekonstruktion der Dessauer Meisterhaus-Siedlung. Außerdem porträtiert sie den Provenienzforscher Uwe Hartmann. Mark Siemons glaubt, dass manch chinesischem Gegenwartskünstler die große Gerhard Richter-Ausstellung in Peking eher unangenehm sein dürfte: Viele Besucher werden jetzt nämlich begreifen, wo die Künstler, die sich so als Epigonen erweisen, die seit einiger Zeit angesagte Unschärfe herhaben. Über die Globalisierung des indischen Cricket informiert Martin Kämpchen. Wolfgang Schneider war beim 68er-"Klassentreffen" in Berlin. Alessandro Topa hat die Dreharbeiten zum ersten iranischen Spielfilm über den Revolutionsführer Chomeini besucht. Der Archäologie Salvatore Settis sieht "dunkle Wolken über der Zukunft des Deutschen Archäologischen Instituts" in Rom aufziehen. Tilman Spreckelsen gratuliert dem Kinderbuchautor Maurice Sendak zum Achtzigsten. Auf der Medienseite berichtet Gisa Funck vom Medienforum in Köln, auf dem wieder einige Klarheiten zum "zwölften Rundfunkänderungsstaatsvertrag" beseitigt wurden, der die Internet-Auftritte der Öffentlich-Rechtlichen regeln soll.

Besprochen werden Tatjana Gürbacas Inszenierung des "Fliegenden Holländer" an der Deutschen Oper Berlin, eine Ausstellung zum Comic-Künstler Loustal in Cherbourg, das neue "Tindersticks"-Album "The Hungry Saw", und der von Stefan Neuhaus und Johann Holzner herausgegebene Sammelband "Literatur als Skandal" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).