Heute in den Feuilletons

Klare Nacht und drei Millionen Tote

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.09.2008. Die Feuilletons leiden mit den Übersetzern. Die SZ erfährt, wie naiv es ist, für David Foster Wallaces Opus Magnum vier Jahre Arbeit zu veranschlagen. Die FAZ lernt, dass Don Quijote nicht nur der Ritter der traurigen Gestalt, sondern auch des kläglichen Gesichts sein könnte. Der "Baader-Meinhof-Komplex" entzweit die taz: Ist der Film nun furchtbar niveaulos oder erfrischend ideologiefrei? Martin Amis erwartet in der NZZ vom globalen Terrorismus endlich mehr Pragmatismus.

NZZ, 20.09.2008

In einem aus dem Wallstreet Journal übernommenen Artikel rechnet der britische Autor Martin Amis in der Wochenenbeilage Literatur und Kunst damit, dass sich der globale Terrorismus bald von seinen religiösen Verankerungen lösen wird und gesetzloser, aber auch pragmatischer werden wird. "Es kann sich sehr wohl erweisen, dass die Religion lediglich ein Instrument zur Mobilisierung ist oder sein wird. Glaube ist fürs Fußvolk, nicht für die Masterminds. Irgendwann werden wir vielleicht realisieren müssen, dass die Religion das dialektische Instrumentarium für undifferenziertes Morden und Zerstören bereitstellte.... Motive wie Erpressung, politischer Druck oder Lösegeldforderungen sind halbwegs nachvollziehbar - aber nur ein eschatologischer Traum würde die klare, ruhige Nacht und drei Millionen Tote rechtfertigen."

Außerdem stellt Martin Meyer fest, dass sich Demokratien auf der einen und autoritäre Systeme auf der anderen Seite zu einer neuen Runde Geopolitik formieren. Navid Kermani berichtet, wie er bei betenden Mönchen und Nonnen in Rom den Eindruck hatte, hier knien Muslime nieder. Michael Mettler erkennt beim Abendspaziergang, dass er nie so richtig ein Schriftsteller sein wollte. Andreas Breitenstein besucht die finnlandschwedische Schriftstellerin Monika Fagerholm.

Im Feuilleton erzählt der experimentelle Schweizer Filmemacher Dieter Meier auf die Frage nach dem Schweizerischen unterhaltsam von seiner Enttarnung auf einer Party von Imelda Marcos.

Weiteres: Das gerade zu Ende gegangene Lucerne Festival ist schon so groß, dass es eigentlich nur noch besser werden kann, bilanziert Peter Hagmann. Ludger Lütkehaus ehrt Alexander Mitscherlich ("Die Unfahigkeit zu trauern"), der vor hundert Jahren geboren wurde.

Besprochen werden die Retrospektive des Designers George Nelson im Vitra-Design-Museum in Weil am Rhein, und bücher, darunter Michael Chabons Krimi "Die Vereinigung jiddischer Polizisten" sowie Adolf Muschgs "vielstimmiger" Roman "Kinderhochzeit".

Welt, 20.09.2008

Trotz mancher Parallelen will Ian Kershaw im Gespräch mit einem namenlosen Autor zum siebzigsten Jahrestag des Münchner Abkommens keine Appeasementpolitik im Verhalten der EU gegenüber Russland sehen: "2008 haben wir es mit der Frage regionaler Dominanz Russlands zu tun, in einer seiner eigenen Einflusssphären, wie Moskau es sieht, ohne weltweite Bedrohungslage, dafür mit der russischen Perzeption, dass der Westen seine, Russlands, Interessen bedroht und damit seine Kontrolle über dieses Stück 'nahes Ausland'. 1938 dagegen liegt eine greifbare Bedrohung Europas und des Weltfriedens vor, und die Mächte, die beschwichtigen wollen, tun dies aus einer Position offensichtlicher militärischer Schwäche heraus."

Außerdem geht's in der Literarischen Welt um Christian Krachts neuen Roman "Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten". Und Katharina Rutschky erinnert an Alexander Mitscherlich, der in diesen Tagen hundert Jahre alt geworden wäre.

Im Feuilleton denkt Werner Sudendorf an Romy Schneider, die in diesen Tagen siebzig Jahre alt geworden wäre. Hendrik Werner berichtet in der Leitglosse über ein Übersetzertreffen, wo noch einmal über die Frage der "angemessenen Vergütung" diskutiert wird (mehr hier und hier). Manuel Brug besucht einige Expressionismus-Museen in Oberbayern (etwa hier). Und Hannes Stein untersucht die Folgen des Bankencrashs für die amerikanische Kulturszene.

Im Online-Debattenforum der Welt macht Wahied Wahdat-Hagh auf eine Verschärfung des iranischen Strafgesetzbuchs aufmerksam: "Für Abtrünnige ist die Todesstrafe vorgesehen. In Artikel 225-1 heißt es, wenn ein Muslim ausdrücklich bekannt gibt, aus dem Islam ausgetreten zu sein, ist er ein Abtrünniger. Ein 'geborener' Abtrünniger ist jemand, dessen Mutter oder Vater zum Zeitpunkt der Embryonalbildung Muslim war. Wenn diese Person nun als erwachsener Muslim aus dem Islam heraustritt, wird er nach Artikel 225-4 'geborener' Abtrünniger genannt. Nach 225-7 ist für den "geborenen" Abtrünnigen die Todesstrafe vorgesehen. Ein 'nationaler Abtrünniger' ist ein Mensch, dessen Eltern bei seiner Embryonalbildung keine Muslime waren, dieser als Erwachsener eine Zeitlang als Muslim auftritt, dann aber vom islamischen Glauben abschwört."

TAZ, 20.09.2008

Auf dem Titel die RAF. In der Zeitung zwei große Artikel zum "Baader-Meinhof-Komplex". Kulturchef Andreas Fanizadeh erklärt im vorderen Teil des Blattes, warum er den Film für ausgesprochen gelungen hält: "Die damalige Lust an der Revolte wird nicht verschämt weggedrückt, ohne sie wäre ja auch sonst wenig in der Bundesrepublik passiert, von dem wir heute alle profitieren." Im Kultur-Aufmacher beklagt die Filmredakteurin Cristina Nord dagegen das "frappierend niedrige Reflexionsniveau" des Films, denkt aber vor allem über das Trauma RAF und seine medialen Darstellungen nach.

Frieder Reininghaus schreibt außerdem zum Tod des Komponisten Mauricio Kagel. In der zweiten taz porträtiert Georg Etscheit zum Oktoberfestauftakt den "kochenden Macho" Alfons Schuhbeck (hier geht's in Schuhbecks Welt). Thomas Gesterkamp schildert den Kampf konservativer Männerrechtler gegen das, was sie für Diskriminierung halten. Jan Feddersen berichtet, dass Jürgen Rockstroh, Präsident der Deutschen Aids-Gesellschaft (DAIG), Gloria von Thurn und Taxis, die mit - freundlich gesagt - bizarren Thesen zu Aids und Verhütung auffällig geworden ist, als Gast zum Europäischen Aidskongress eingeladen hat. Kommen wird sie wohl nicht.

Besprochen werden die Ausstellung "Raub und Restitution" im Jüdischen Museum Berlin, und Bücher, darunter das neue Werk "Baustelle Deutschland" des langhaarigen Politologen Franz Walter und Christian Krachts Roman "Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten" - für Wiebke Porombka eine "Versammlung von rhetorischen Versatzstücken und Stilblüten" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Im Dossier des taz mag unterhält sich Jan Feddersen mit der Sexualhistorikerin Dagmar Herzog, die etwa feststellt: "Entgegen dem Klischee der prüden Konservativen haben die Evangelikalen viel aus der Sexuellen Revolution gelernt. Sie verdammen Schwule und Lesben, aber schon seit den Siebzigern preisen sie den ekstatischen ehelichen Sex und präsentieren sich als die besten Verfechter auch des weiblichen Orgasmus." Auf den Hintergrundseiten geht es in vier Texten um die innere und äußere Provinz.

Und Tom.

Berliner Zeitung, 20.09.2008

Das legendäre schäbig-sympathische Berliner Cafe Adler direkt am Checkpoint Charlie, in dem die tazler den Mauerfall live miterlebten, ist nicht mehr. Jörg Sundermeier schreibt den Nachruf: "Es passte nicht mehr an diesen Platz, in diese neue Mitte von Berlin. Wahrscheinlich eröffnet an seiner Stelle bald eine Starbucks- oder eine Balzac-Filiale."

Für das Magazin besucht Frank Nordhausen das "jüngste Land Europas", den Kosovo.

Superlustig auch das klickgenerierende Quiz zu RAF - Frage 1: "Beginnen wir doch ganz einfach: Was bedeutet das Akronym RAF?

- Revolutionäre Anti-Faschisten.
- Rote Armee Fraktion.
- Repressionen und Aktionen für Freiheit.
- Radikale Aktions-Front."

SZ, 20.09.2008

In der Reihe "Bei der Arbeit" hat Axel Rühle den literarischen Übersetzer Ulrich Blumenbach besucht, der seit einigen Jahren am im Original tausendseitigen (in der Übersetzung werden es 1600) Hauptwerk "Infinite Jest" des gerade durch Suizid ums Leben gekommenen US-Autors David Foster Wallace sitzt. Rühle berichtet: "Er erinnert sich noch lebhaft daran, wie geplättet und euphorisch er nach dem ersten Lesen von 'Infinite Jest' war. Euphorisch, weil er dieses große Buch, als Arbeit vor sich hatte, geplättet wegen der enormen Sinndichte, des Vokabulars, der vielen wild mäandernden Nebenarme und Lebenswelten, aus denen Wallace das abseitigste Vokabular in sein Buch zog. Als Blumenbach im November 2003 bei Kiepenheuer unterschrieb, dachte er noch, das sei in vier Jahren zu machen und er könne nebenher andere Autoren weiterbetreuen. 'Völlig naiv war das', Wallace zehrte innerhalb kurzer Zeit alles andere auf. "

Weitere Artikel: Mona Naggar staunt, wie der Fastenmonat Ramadan im arabischen Raum immer mehr zu einer "Zeit des Fernseh-, Nasch- und Kaufrauschs" wird. Im vierten Teil seiner "Nackt in Nowosibirsk"-Kolumne tanzt Georg Klein zu "Moskau" von Dschingis Khan - ein Song, der, erfährt er, in sibirischen Diskotheken ein Riesenhit ist. Überzeugend findet Jens Bisky eine SPD-geschichtspolitische Rede von Frank-Walter Steinmeier, bei der auch die "Agenda 2010" flugs historisiert wurde. Jürgen Berger freut sich, dass der Versuch zur Abschaffung der Künstlersozialkasse grandios gescheitert ist. Dem Dichter und Theoretiker des Kreolischen Edouard Glissant gratuliert Florian Kessler zum Achtzigsten. Jonathan Fischer schreibt zum Tod des Motown-Produzenten Norman Whitfield.

Besprochen werden Sebastian Hartmanns - laut Peter Laudenbach gescheiterte - Inszenierung einer aus Versatzstücken zusammengestellten "Matthäuspassion" zur Eröffnung seiner Leipziger Intendanz, die Ausstellung "Walt Disneys wunderbare Welt und ihre Wurzeln in der europäischen Kunst" in der Hypo-Kunsthalle München (Fritz Göttler hat dazu auch ein Interview mit dem Disney-Produzenten Don Hahn geführt), die Ausstellung "Peter Raacke: einfach modern" im Berliner Bauhaus-Archiv, und Bücher, darunter Christian Krachts Roman "Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten", dem Gustav Seibt bescheinigt, sprachlich hoch elegant, gedanklich jedoch sehr durcheinander zu sein (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Im Aufmacher der SZ am Wochenende klagt Stefan Gabanyi über die Imageprobleme des deutschen Biers. Jan Brandt berichtet, wie er sich als Stipendiat in der amerikanischen Künstlerkolonie Yaddo auf den Spuren Truman Capotes bewegte. Alexander Menden hat sich in Edinburgh mit dem Kriminalschriftsteller Ian Rankin getroffen. Anne Siemens degustiert die chemische Kochkunst des Küchenstars Ferran Adria. Auf der Historienseite geht es in der Serie zur "Propaganda" um den Kriegseintritt der USA im Ersten Weltkrieg. Vorabgedruckt werden Erinnerungen des langjährigen DDR-Korrespondenten Peter Pragal an den untergegangenen Staat. Im Interview spricht die Musikerin Natalie Cole über "Väter".

FR, 20.09.2008

Zum hundertsten Geburtstag des 1982 verstorbenen Psychoanalytikers Alexander Mitscherlich erinnert Micha Brumlik an dessen klassisches Werk über "Die Unfähigkeit zu trauern" und beschreibt, wie sich trotz scheinbar gleicher Zielrichtung rasch tiefgreifende Differenzen zwischen Mitscherlich und der Studentenbewegung offenbarten: "Das lag im Kern daran, dass Mitscherlich und die protestierende Studentengeneration das, was sie als Kritik von Autoritarismus und (falscher) Väterlichkeit ansahen, grundsätzlich verschieden verstanden: Während Mitscherlich das Fehlen einer wahren Väterlichkeit beklagte, richtete sich der studentische Protest überhaupt gegen jedwede väterliche Autorität."

Weitere Artikel: Der Theologe Gerd Lüdemann plädiert für die Ersetzung theologischer Fakultäten durch kirchenunabhängige "Departments of Religion". In ihrer US-Kolumne erklärt Marcia Pally, warum Sarah Palin mit ihrem finanzpolitischen Populismus auch die eigene Klientel ins ökonomische Desaster stürzen würde. Hans-Jürgen Linke stellt das Frankfurter "Spuren"-Festival des Labels ECM vor, bei dem die Musik und der Film zusammenspielen. Einem illuminierten Jesus auf Weltrekordniveau, der nun doch nicht bis Bad Reichenhall kommt, widmet Judith von Sternburg eine Times Mager.

Besprochen werden die Ausstellung "Raub und Restitution" im Jüdischen Museum Berlin, Helmut Polixas Gießener "Rigoletto"-Inszenierung und ein Buch, nämlich Marion Poschmanns "Hundenovelle" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 20.09.2008

Auf der letzten Seite des Feuilletons stattet Paul Ingendaay der Übersetzerin Susanne Lange einen Besuch ab, die die vergangenen fünf Jahre damit zugebracht hat, den "Don Quijote" für Hanser zu übertragen. Da kommen eine Menge Fragen auf. "Es versteht sich durchaus nicht von selbst, was 'triste figura' genau bedeutet. Traurige Gestalt,, würde ich sagen. Aber nicht alle haben es so übersetzt. 'Figura' kann nämlich auch 'Gesicht' bedeuten. Und es wäre nicht falsch, 'triste' mit 'jämmerlich' oder 'kläglich' zu übersetzen. Der Begriff 'traurig' scheint mir aber repräsentativ für die doppelte Sichtweise des ganzen Romans zu sein, denn die Außenwelt sieht Don Quijote auf die eine, er selbst sich auf eine ganz andere Weise. Vor sich selbst ist der Ritter der traurigen Gestalt ein nobler Melancholiker."

Weiteres: Bei uns könnte der chinesische Babymilchskandal nicht passieren, beruhigt Christina Hucklenbroich FAZ-lesende Eltern. Jürg Altwegg gratuliert dem Schriftsteller Edouard Glissant, der vor achtzig Jahren auf Martinique geboren wurde.

In der Wochenendbeilage Bilder und Zeiten interviewt Bert Rebhandl Johanna Wokalek, die im "Baader-Meinhof-Komplex" die Gudrun Ensslin gibt. Wolfgang Sandner schreibt den Nachruf auf den Komponisten Mauricio Kagel, der am Donnerstag gestorben ist. Ludwig Harig steuert eine Geschichte über die grundstürzende Rede des Mathematikers Hermann Minkowski zu Raum und Zeit bei, die dieser vor hundert Jahren in Köln hielt. Thomas David trifft die irische Schriftstellerin Anne Enright.

Die Schallplatten- und Phonoseite stellt Evgeny Kissins manchmal zu freie Einspielung der fünf Beethoven-Konzerte in den Mittelpunkt. Daneben geht es um das Album "Hymns For A Dark Horse" von den Bowerbirds und Franz Grundhebers "Lieder einer Reise".

Aufmacher des Feuilletons und Auftakt der Besprechungen ist eine Ausstellung über "Schnalle, Zunge & Co" im Trachteninformationszentrum Benediktbeuern (das passt wunderbar zur gerne mal ein wenig herumalbernden Titelseite der FAZ, die heute mit der schockierenden Schlagzeile "Frau Beckstein zieht kein Dirndl an" aufmacht). Desweiteren rezensiert werden Fjodor Dostojewskis "Verbrechen und Strafe" gelesen von Sylvester Groth, Orhan Pamuks Roman "Das Museum der Unschuld" sowie Uwe Tellkamps Roman "Der Turm".

In der Frankfurther Anthologie stellt Hans Christoph Buch das Gedicht "Im Spätboot" von Conrad Ferndinand Meyer vor.

"Aus der Schiffsbank mach ich meinen Pfühl
Endlich wir die heiße Stirne kühl!
O wie süß erkaltet mir das Herz!
O wie weich verstummen Lust und Schmerz!
..."