Heute in den Feuilletons

Jedes Jodel-Format

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.10.2008. FR, SZ und FAZ befassen sich weiterhin mit der Finanzkrise. Die taz und die Welt setzen sich mit Jörg Haiders Homosexualität auseinander, die ein Gutes hatte: Wenigstens gegen Schwule hat er nie etwas gesagt. Die Berliner Zeitung berichtet über eine Kritik chinesischer Dissidenten an der Haltung deutscher China-Experten zum Land.

FR, 21.10.2008

Arno Widmann möchte, dass die Dinge in der Finanzwelt beim Namen genannt werden: "Warum heißen die Damen und Herren, die uns in unserer Bank unser Geld abnehmen, Berater? Es sind Verkäufer." Hans-Klaus Jungheinrich fand die Eröffnung der Donaueschinger Musiktage eher unspektakulär. In der Times Mager freut sich Judith von Sternburg zwar über eifrige Leser, nicht aber darüber, dass es immer die "Feuchtgebiete" sein müssen.

Besprochen werden die "Venedig"-Ausstellung in der Basler Fondation Beyeler, eine Inszenierung der "Walküre" an der Hamburgerischen Staatsoper, eine "Faust"-Inszenierung am Schauspiel Köln und Bücher, darunter die Hommage Gregor Schöllgens an den Eiscreme-Unternehmer "Theo Schöller" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Berliner Zeitung, 21.10.2008

Der Streit um die China-Berichterstattung der Deutschen Welle und ihre Redakteurin Zhang Danhong geht weiter. Sabine Pamperrien zitiert aus einer Antwort einer Gruppe chinesischer Dissidenten zum Offenen Brief von 65 China-Experten: "Verehrte Wissenschaftler, die Sie in einem Land leben, das die freiheitlichen Grundrechte verteidigt, wie kann es sein, dass Sie Partei für die Mächtigen ergreifen, wenn Sie zwischen den mächtigen Verfolgern und den machtlosen Opfer entscheiden müssen? Warum haben Sie sich entschlossen, die Rechte von Zhang Danhong zu verteidigen, die nichts weiter zu befürchten hat als den Verlust ihrer Funktion als stellvertretende Leiterin innerhalb der China-Redaktion der Deutschen Welle, wenn Sie sich andererseits noch nie für die Rechte der zu schweren Haftstrafen verurteilten Chen Guangcheng oder Shi Tao eingesetzt haben?"

TAZ, 21.10.2008

In der taz online schreibt Robert Misik über Jörg Haiders Homosexualität, vor der sich Österreichs Medien nun nicht mehr drücken könnten. Zumal sein "engster Getreuer" und wahrscheinlicher Nachfolger, Stefan Petzner, "auf bizarre Weise als Nebenwitwer" durch das Fernsehen zieht. Außerdem wurde bekannt, dass Haider vor seinem Unfall - und nach einem Streit mit Petzner - in Klagenfurts bekanntester Schwulenkneipe 'Zum Stadtkrämer' war : "Dort wurde er zufällig fotografiert, als er mit einem bisher unbekannten jungen Mann an der Bar saß und sich ausgiebig betrank. Ist all das politisch relevant? Jetzt natürlich nicht mehr, denn Haider ist tot. Aber natürlich hat es Bedeutung für die öffentliche Person, die Haider bis vorvergangenen Samstag war. Haiders Magnetismus schuldete sich ja nicht im Geringsten seiner schillernden, widersprüchlichen Persönlichkeit, die immer auch mit Gesten des Erotischen spielte, aber auch mit der Uneindeutigkeit."

Björn Gottstein berichtet von den Musiktagen in Donaueschingen, bei denen drei Spitzenensembles zur Interpretation neuer Stücke gegeneinander antreten mussten: "Das Ensemble Intercontemporain hatte das Konzert mit Aureliano Cattaneos 'Sabbia' ('Sand') begonnen: ein weicher, samtiger Fluss mit nahtlosen Übergängen; es funkelt dunkel und glitzert verwegen. Dann kommt das Klangforum: Jetzt wirkt alles robuster, die Interpretation gleicht einer Analyse; Motive werden freigelegt, aus Übergängen werden Schnitte, aus Verwehungen Körner. Französische Eleganz trifft österreichischen Biss. Auftritt Ensemble Modern, das zu den 'Fiktiven Tänzen' Arnulf Hermanns aufspielt. Aber die Musiker kommen nicht recht vom Fleck und stampfen mehr, als dass sie tanzen."

Weitere Artikel: Wolfgang Ullrich betont, dass Wellness kein Gegenprogramm zum Geschäft ist: Wäre es dies, "so würde man davon nicht nur Erholung geboten, sondern auch Zweifel eingepflanzt bekommen". Cristina Nord beklagt die "neue Naivität" der jüngeren Geschichtsfilme wie "Der Untergang", "Der Baader-Meinhof-Komplex" oder jetzt "Anonyma": "Wenn es überhaupt so etwas wie ein Programm gibt, dann drückt es sich in der Fetischisierung von Authentizität aus."

Besprochen werden die große Gerhard-Richter-Schau "Abstrakte Bilder" im Kölner Museum Ludwig und Jan Bosses Inszenierung von Albees "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?" am Wiener Burgtheater.

Auf der Meinungsseite schreibt Sven Hansen zum Streit um die DW-Redakteurin Danhong Zhang und ihre Haltung zur KP (mehr zu dem Streit auch hier): Ihn erinnert der Streit an eine persönliche Fehde unter Exildissidenten.

Und noch Tom.

NZZ, 21.10.2008

Hanspeter Künzler meldet, dass britische Musiker - von Billy Bragg bis Iron Maiden - den Verein Featured Artists Coalition gegründet haben, um ihre Verwertungsrechte im Internet zu schützen.

Ansonsten gibt es heute ausschließlich Rezensionen. Besprochen werden Oliver Stones "nur mäßig komisches" Bush-Porträt "W", ein Gedächtnistheater für Albrecht von Haller in Bern, der Zarzuela-Abend "¡Pasion!" von Calixto Bieito und Joan Anton im Theater Basel und Bücher, darunter Peer Hultbergs Roman "Die Stadt und die Welt", zwei Romane zu jüdischen Schicksalen im Iram und Mariolina Venezias Familienroman "Tausend Jahre, die ich hier bin" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Welt, 21.10.2008

Hätte sich Jörg Haider, der sich sich vor seinem Autounfall in einer Schwulenbar betrank, outen sollen?, fragt Ulrich Weinzierl. Aber über seine Homo- oder zumindest Bisexualität wurde nur getuschelt. Weinzierl sieht darin auch Positives: "Jörg Haider, der sich einstigen SS-Mitgliedern anbiederte, der gegen Ausländer, Asylanten und vermeintliche 'Sozialschmarotzer' wetterte, der sein außerordentliches rhetorisches, sein kommunikatives Talent wahrlich nicht immer für die gute Sache einsetzte, hat (mag sein: aus Vorsicht) nie in der Öffentlichkeit ein Wort gegen Homosexuelle verloren." (Schade, dass er nicht auch noch arm, schwarz, jüdisch und Frau war!)

Weitere Artikel: Hendrik Werner kritisiert in der gebotenen Schärfe die ARD, die Anselms Kiefers Friedenspreisrede zehn Minuten vor Schluss brüsk unterbrach, um zu ihrem schläfrigen Journalistenstammtisch umzuschalten ("Allenfalls zehn Minuten hatte die Rede Anselm Kiefers nach dem wenig telegenen Absprung der ARD noch gedauert. Zu lange anscheinend für einen Sender, der jedes Jodel-Format und jedes in die Verlängerung gegangene Pokalspiel bis zur bitteren Neige überträgt".) Hanns-Georg Rodek unterhält sich mit dem Filmemacher Philipp Stölzl über seinen Bergfilm "Nordwand". Peter Zander berichtet von einem Filmfestival in Gent, wo der Komponist Marc Streitenfeld ausgezeichnet wurde. Ulli Kulke erzählt in seiner Serie zu 50 Jahre Nasa die Geschichte der Rakete.

Besprochen werden Claus Guths "Walküre"-Inszenierung in Hamburg und eine Richard-Avedon-Retro in Berlin.

Für die Magazinseite besucht Kai Luehrs-Kaiser das Revuetheater im Berliner Friedrichstadtpalast, das durch eine neue Produktion vor der drohenden Pleite gerettet wurde.

FAZ, 21.10.2008

Frank Schirrmacher musste erleben, wie Bischof Huber am Sonntag bei "Anne Will" einen ethischen Keil zwischen gute Politik und böse Finanzwirtschaft trieb. Das hieße, feuilleton-leitartikelt Schirrmacher, die Situation doch zu stark zu vereinfachen. (Und dafür ist das Feuilleton zuständig, nicht die Kirche.) Lorenz Jäger referiert, ohne selbst Stellung zu beziehen, Yasmina Rezas Verteidigung Milan Kunderas in Le Monde und Martin Simeckas sehr viel harscheres Urteil im tschechischen Magazin Respekt (hier die deutsche Übersetzung). Jürg Altwegg beschreibt die nächsten Schritte, mit denen Nicolas Sarkozy die französischen Medien enger an den Staat binden möchte. In der Glosse hat Oliver Jungen eine realitätsnahe Zukunftsvision, in der Google killt, was ihm nicht passt. Thomas Jansen erklärt, wie der Islamwissenschaftler Stefan Wild auf die Idee kommt, dass der Islam im Dialog mit dem Papst ein viel einheitlicheres Bild abgibt als das Christentum. In den Räumen des Vier-Türme-Verlags von Pater Anselm Grün in Münsterschwarzach hat sich Rüdiger Klein umgesehen. Tobias Rüther kommentiert Colin Powells Fernsehauftritt, bei dem er seine Unterstützung für Barack Obama bekanntgab und wohl begründete. Den Verkehrswahnsinn in Bukarest schildert Stefanie Peter. Wenig Freundliches über McCain und Sarah Palin hat Jürg Altwegg in französischen Zeitschriften und Zeitungen gelesen; besonders unfreundlich: Julia Kristeva über "Palin, die unpenetrierbare Macht der phallischen Matrone".

Auf der Forschung-und-Lehre-Seite berichtet Thomas Speckmann von einer Münchner Tagung, die nach der heutigen Weltmacht fragte. Auf der Medienseite konstatiert die Kommunikationswissenschaftlerin Miriam Meckel, dass der Rundfunkänderungsstaatsvertrag, der morgen wohl verabschiedet wird, heute schon völlig veraltet ist.

Besprochen werden Claus Guths Hamburger Inszenierung von Wagners "Walküre", Jan Bosses Version von "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?" am Wiener Burgtheater, neue Klassik-CDs, darunter eine von Ingo Metzmacher dirigierte Einspielung von Hans Pfitzners "Von deutscher Seele", ein Konzert des "Irish Folk Festival", das auf seiner Europareise in Eschborn Station machte, die "Walter Leistikow"-Ausstellung im Berliner Bröhan-Museum und Najem Walis Roman "Jussifs Gesichter" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Weitere Medien, 21.10.2008

Wir zitieren - etwas verspätet - aus Yasmina Rezas heute in der FAZ erwähnten Artikel aus Le Monde zur Affäre Kundera - eine flammende Verteidigung Kunderas, die nicht ohne Herabsetzung seiner Kritiker auskommt: Kundera, so Reza, habe nach den Veröffentlichungen praktisch keine Handlungsmöglichkeiten mehr: "Nach dem anfänglichen Dementi würde ihn jede weitere Äußerung nur noch tiefer in die Beschuldigungen verstricken. So kann man innerhalb von 30 Sekunden das Leben eines Autors hinwegfegen, immer im Gefühl, nur seine Pflicht zu tun. Es hat überhaupt keine ernsthafte Untersuchung gegeben und keinerlei Vorsicht in der Verbreitung einer Information, die mit Vorsicht zu behandeln wäre. Wörter gehören zur Wirklichkeit. Ob geschrieben oder gepsrochen - sie können den Weg der Zerstörung gehen. Man muss sie rechtzeitig anhalten." Ein Plädoyer für die Zensur? Wir verweisen nochmal auf Adam Hradileks sehr detailreiche und auch auf englisch publizierte Recherche, der man die Ernsthaftigkeit nicht so leicht absprechen kann.

SZ, 21.10.2008

Im xten Aufmacher des SZ-Feuilletons zur Finanzkrise erklärt Gustav Seibt: Das konnte nur passieren, weil "Erfahrungswissen nichts mehr zählte. Das rächt sich immer." Petra Steinberger beschreibt die negativen Folgen von Klimawandel und Finanzkrise auf große Städte. Wolfgang Schreiber schreibt über die Donaueschinger Musiktage. Egbert Tholl war bei der Verleihung der Echopreise in München. Henning Klüver berichtet über einen Aufruf etlicher Nobelpreisträger - darunter Dario Fo, Günter Grass, Orhan Pamuk, Rita Levi Montalcini, Michail Gorbatschow und Desmond Tutu - zur Unterstützung des von der Camorra bedrohten Autors Roberto Saviano. Martin Sabrow, Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam, verteidigt den neuen Masterstudiengang im Fach Geschichte, dem vorgeworfen wird, nur historische Eventmanager auszuspucken: die Absolventen werden "kundige Brückenbauer zwischen Fachwissenschaft und Öffentlichkeit" sein. Gottfried Knapp schreibt zum Tod des Malers Ludger Gerdes.

Besprochen werden Jan Bosses Inszenierung von Edward Albees Ehekrieg "Wer hat Angst vor Virginia Woolf . . . ?" am Wiener Burgtheater, ein Belcanto-Abend mit Cecilia Bartoli in München, eine Retrospektive des bulgarischen Konzeptkünstlers Nedko Solakov im Kunst Museum Bonn, Christophe van Rompaeys Liebesfilm "Neulich in Belgien" und Bücher, darunter Andre Hellers Familiengeschichte "Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).