Heute in den Feuilletons

Feind aller

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.12.2008. Die NZZ wundert sich: Dafür dass die Amerikaner weltpolitisch doch ziemlich unterwegs sind, haben sie ganz schön wenige Auslandskorrespondenten. Die taz hört schottischen Pop und findet ihn "aufgeladen und bereit". Die FR erkundet Griechenlands Willen zur Gewalt. In der SZ befasst sich der Literaturtheoretiker Daniel Heller-Roazen mit den Piraten. Die Welt informiert über polnische Einwände gegen ein "Haus der europäischen Geschichte".

NZZ, 12.12.2008

Auf der Medienseite widmen sich Heribert Seifert und Stephan Russ-Mohl der schrumpfenden Auslandsberichterstattung durch die amerikanischen Zeitungen: Nur noch 140 Journalisten sitzen, das hat eine Studie für das Joan Shorenstein Center ergeben, auf Auslandsposten: Aber Seifert und Russ-Mohl wollen das nicht als Beleg für das 'stupid American phenomenon' ansehen: "Weitere Daten, die das Project for Excellence in Journalism kürzlich vorgelegt hat, deuten darauf hin, dass die starke Lokalorientierung der US-Zeitungen und Fernsehsender nicht, wie von Redaktionschefs und Medienmanagern gerne behauptet, den Publikumswünschen entspricht: Während sich die Zeitungen aus der Auslandberichterstattung zurückziehen, wird diese nämlich im Internet heftig nachgefragt."

Augenreibend liest Heribert Seifert das Handbuch "Deutsche Auslandskorrespondenten": "So zählt das Handbuch in Brüssel mit 469 Personen die größte Ansammlung deutscher Auslandberichterstatter, ohne dass der Medienkonsument von diesem journalistischen Bataillon eine sonderlich beeindruckende Leistung geboten bekäme."

Im Feuilleton erklärt der Historiker Jörg Fisch in einem instruktiven Text, wie sich die Spannungen zwischen Hindus und Muslimen in Indien über die Jahrhundert entwickelt haben und welche unschöne Rolle die Briten dabei spielten. Jürgen Tietz würdigt die von den Architekten Fuensanta Nieto und Enrique Sobejano erweiterte Moritzburg. Besprochen wird Claus Guths und Ingo Metzmachers "Tristan und Isolde"-Inszenierung in Zürich.

Auf der Plattenseite unterhält sich Claus Lochbihler mit dem Jazzbassisten Charlie Haden über Country und das neue Album "Ramblin' Boy".

Welt, 12.12.2008

Gerhard Gnauck berichtet von polnischen Einwänden gegen das von EU-Parlamentspräsident Pöttering angeregte "Haus der Europäische Geschichte", für das jetzt ein Projektpapier vorgelegt wurde. "Skepsis wurde nicht nur auf dem Kaczynski-Flügel geäußert. Vor einer 'orwellschen' Uniformierung des Geschichtsbilds warnte ein Politiker aus dem liberalen Regierungslager. Ein Publizist spießte auf, die Jahrhunderte lange türkische Bedrohung Europas sei politisch korrekt zu einem 'starken Einfluss auf die europäische Geschichte' weichgespült worden. Auch werde die Rolle des Christentums vernachlässigt beziehungsweise auf den Einfluss 'klerikaler Strukturen' reduziert. Man könne Europa nicht anders als national erzählen, sonst gebe es 'eine schreckliche Kakophonie.'"

Weitere Artikel: Der Kulturwissenschaftler Claus Leggewie stellt die Frage: "Wie kann Europa einprägsame Bilder und Symbole entwickeln" kommt am Ende aber leider zu keiner klaren Antwort. In der Leitglosse stellt Hendrik Werner das deutsche und das österreichische "Wort des Jahres" vor - es handelt sich um die "Finanzkrise", respektive um einen gewissen "Lebensmenschen", der auf der Überholspur zu Tode kam. Hanns-Georg Rodek unterhält sich mit dem Schauspieler Sebastian Koch über seine Rolle in dem Film "In jeder Sekunde"

Besprochen werden ein "Tristan" unter Ingo Metzmacher und Claus Guth in Zürich, Ereignisse, Ereignisse des NRW-Tanzfestivals und ein Bildband mit Fotos Bertram Kobers von Hochsitzen, deren Vorteile vom Jäger Eckhard Fuhr kompetent erläutert werden: Schießt der Jäger, "geht die Kugel, weil von oben nach unten abgefeuert, immer ins Erdreich. Das ist unter Sicherheitsaspekten ein großer Vorteil in einem dicht besiedelten Land, das gleichwohl sehr wildreich ist."

TAZ, 12.12.2008

Klaus Walter stellt das unter dem schönen Namen "Aufgeladen und Bereit" firmierende Label des Schotten Sushil K. Dade und des in Glasgow lebenden Hamburgers Markus Wilhelms vor, das sich um den von schwarzem Soul aus dem ehemaligen Detroit inspirierten Scottish Pop vedient macht. "Unter dem Namen Future Pilot A.K.A. produziert Dade seit einigen Jahren Musik, die in ihrer stilmixenden Unberechenbarkeit um Längen besser ist als seine früheren Bands. Das A.K.A. (also known as, alias) am Namensende teilt er mit den Specials, die sich in ihrer zweiten Inkarnation The Special A.K.A. nannten. Es spielt aber auch an auf die Alias-Haftigkeit der Musik, auf die Hybridität einer schottisch-indischen Biografie im postkolonialen Britannien, wo sich Bhangra, Dub, Jangle-Pop und Techno auf demselben Flohmarkt guten Tag sagen. Unter dem Alias-Dach des Zukunftspiloten versammeln sich so unschottische Typen wie Minimal-Papst Philipp Glass, Can-Sänger Damo Suzuki oder Thurston Moore (Sonic Youth)."

Weitere Artikel: Reinhard Wolff resümiert norwegische Kritik an der Vergabe des Friedensnobelpreises. Besprochen werden die neue Platte der "Emo-Rocker" (was immer das sein mag) Fall Out Boy und eine Ausstellung des im 18. Jahrhundert berühmten Landschaftsmalers Jakob Philipp Hackert in Hamburg.

Auf der Medienseite feiert Rene Martens mit dem Internetradio byte.fm Geburtstag.

Schließlich Tom.

FR, 12.12.2008

Christian Thomas lotet aus, wie tief Griechenland in der Krise steckt und woher dieser enorme Wille zur Gewalt rührt: "Der in Athen lebende Krimiautor Petros Markaris hat soeben, ohne die Polizei und die Politik frei zu sprechen, von einer 'Art Toleranz' gegenüber der Gewalt gesprochen. 'Das hat mit dem einstigen Aufstand der Studenten des Polytechnikums gegen die Militärjunta zu tun.' Offensichtlich, dass sich der anarchische Akt und politische Aberglaube nicht nur durch den Tod eines Fünfzehnjährigen ein Alibi verschafft hat, sondern auch anknüpfen kann an den politischen Mythos von Widerstand und Bürgerkrieg. Griechenlands Gewaltwille der letzten Tage hat die Regierung Karamanlis nicht nur in Bedrängnis gesehen, sondern das Gewaltmonopol des Staates außer Kraft gesetzt."

Weiteres: Eva Schweitzer bringt uns in Sachen Chicago Tribune und Gouverneur Rod Blagojevich auf den neuesten Stand der amerikanischen Zeitungskrise. In Times mager beneidet Sylvia Staude die USA um ihr Presidential Prayer Team. Ursula Knapp meldet, dass nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts Reporter keinen Laptop im Gerichtssaal benutzen dürfen.

Besprochen werden Claus Guths Inszenierung von "Tristan und Isolde" in Zürich, das Album "Folie a Deux" der Chicagoer "Emo-Band" Fall Out Boy, Paul Austers neuer Roman "Mann im Dunkel" und der 80er-Jahre-Bildband "Als der Champagner floss".

FAZ, 12.12.2008

Warum das zutiefst europäische Griechenland längst in eine Schief- und Randlage geraten ist, erklärt von Venedig aus Dirk Schümer: "Dass dieses Athen, wo Neubauboom und Shopping Malls die ideologischen Konflikte des Bürgerkriegs und der folternden Diktatur notdürftig zubetoniert hatten, gar nicht zum friedlichen Mitteleuropa gehört, haben griechische Intellektuelle schon lange dargelegt. Die Balkankriege, an denen faschistoide griechische Freikorps teilnahmen und deren Flüchtlinge ebenso massenhaft nach Griechenland gespült wurden wie jetzt die Verzweifelten aus dem Irak und Afghanistan, hat man hier viel drastischer mitgemacht als in Mitteleuropa."

Im Gespräch sieht der Soziologe Michael Kelpanides die Probleme dagegen ganz woanders: "Die griechische Gesellschaft ist eine Anspruchsgesellschaft mit sehr wenig Realitätssinn. Nicht zu übersehen ist auch, dass zu jeder Tageszeit und bis in die frühen Morgenstunden die Cafes rund um die Universitäten und in anderen konzentrischen Kreisen voll besetzt sind. Die Studenten verbraten dadurch enorme Summen. Morgens schlafen sie dann lange, so dass vor zwölf Uhr mittags in manchen Fächern kaum Studenten in den Vorlesungen erscheinen."

Weitere Artikel: Für die Glosse hat sich Lorenz Jäger in deutschen Antifa-Online-Shops umgesehen und nennt sogar Adressen und Namen. Dirk Schümer denkt über "Wort des Jahres"-Wahlen in Italien nach. Gemeldet wird, dass Dieter Hallervorden das Berliner Schlosspark-Theater übernehmen wird. Dieter Bartetzko gratuliert dem einstigen Popstar Connie Francis, der Germanist Helmut Kiesel seinem Kollegen Jochen Schmidt zum Siebzigsten. Jörg Baberowski wünscht dem Osteuropa-Historiker Dietrich Geyer das Beste. Auf der Medienseite empfiehlt Jochen Hieber das Hörspiel "Minutentexte" als Triumph der Radiokunst. Gemeldet wird, dass es neue Turbulenzen um die China-Redaktion der Deutschen Welle gibt.

Besprochen werden eine von Moshe Leiser und Patrice Caurier inszenierte, von Colin Davis dirigierte Aufführung von Humperdincks Oper "Hänsel und Gretel" in London, eine "Götterdämmerung" in Wien und ein überzeugenderer - so Wolfgang Fuhrmann - "Tristan" in Zürich, die Robert-Lebeck-Ausstellung im Berliner Gropius-Bau, Brad Andersons Eisenbahn-Reißer "Transsiberian", Rodrigo Plas Thriller "La Zona", die Ausstellung "Spektakel der Macht" in Magdeburg und Bücher, darunter der Band "Nine Eleven" über "Ästhetische Verarbeitungen des 11. September 2001" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 12.12.2008

Der in Princeton lehrende Literaturtheoretiker Daniel Heller-Roazen meint, dass die Piraten - nach römischer Definition der "Feind aller" - längst beinahe omnipräsente Figuren unserer Gegenwart sind: "Es ist unerlässlich für uns, diesen 'Feind aller' in seinen derzeitigen Erscheinungsformen angemessen zu erkennen. Wann immer Verbrecher in unserer Zeit kriminelle Handlungen außerhalb von Hoheitsgebieten begehen, ob auf dem Wasser, in der Luft oder in gesetzlosen Staaten, müssen wir von Piraterie reden. Wann immer wir von 'willkürlicher Aggression' hören, von 'Feinden der Menschheit' oder von Verbrechen gegen die 'Menschlichkeit', müssen wir von Piraterie ausgehen, auch wenn dieser Begriff nicht gebraucht wird. Die Piraterie ist in mehr als in nur einer Form zurückgekehrt."

Weitere Artikel: Andrian Kreye referiert eine Studie, die zum Ergebnis kommt, dass für den Erfolg der in Guantanamo oder Abu Ghraib angewandten Musikfolter die Art der Musik keine Rolle spielt. Für einen "Glücksfall" hält Jens Bisky die Erweiterung des Kunstmuseums Moritzburg. Fritz Göttler giftet gegen Oliver Stone, der jetzt eine Hugo-Chavez-Doku drehen will. Susan Vahabzadeh kontert die Bekanntgabe der Golden-Globe-Nominierungen (auch für "Baader Meinhof") mit der Aussicht auf eine möglicherweise streikbedingt starlose Oscar-Verleihung. Jonathan Fischer hat Notizen zu neuen und klassischen Dub-Stücken. Manfred Schwarz gratuliert der Malerin Helen Frankenthaler zum Achtzigsten. Auf der Literaturseite porträtiert Andrian Kreye den New Journalist Gay Talese. Tobias Lehmkuhl hat neue und alte Lorca-Übersetzungen gelesen.

Besprochen werden Thomas Ostermeiers Inszenierung von Ibsens "John Gabriel Borkmann" in Rennes, die selbstkritische Ausstellung "Kulturhauptstadt des Führers" in Linz, ein Münchner Konzert mit dem neuen Sopran-Star Danielle de Niese (Egbert Tholl ist freilich gar nicht beeindruckt), Iain Softleys Cornelia-Funke-Verfilmung "Tintenherz" und Bücher, darunter Peter Blickles Geschichte des "Alten Europa" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Im SZ-Magazin ein episches Interview mit Joachim Kaiser, das sich liest wie ein Vermächtnis: "Ich werde depressiv, wenn ich ans Essen denke, wenn ich an meine Erfolge denke, wenn ich an meine Frau denke. Was war ich verfressen, und nun schmeckt es mir nicht mehr. Was war ich stolz über meine Bücher, als ich 35 war, und nun ist die Arbeit für mich nur noch wie Therapie. Meine Frau starb vor einem Jahr, danach habe ich mich mit Aufträgen eingedeckt, um mich abzulenken. Ich habe immer noch einen Namen, und die Verlage schicken mir Vorschüsse. Nur leider sind die tückisch genug und wollen dafür auch ein Manuskript haben."