Heute in den Feuilletons

Es ist schrecklich zu leben

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.02.2009. Die Achse des Guten, die FAZ, die SZ fragen: Was um Himmels willen ist in den Papst gefahren? Der Heilige Geist kann es ja nicht gewesen sein. Vielleicht ein Hungry Ghost? In der Welt meint Michael Cimino: es gibt zur Zeit fantastische Filme aus Serbien, Brasilien oder Korea, aber nicht aus Hollywood. In der FR spricht der irakische Autor Najem Wali über das multikulturelle Israel. In der FAZ wirft Necla Kelek den türkischstämmigen Politikern in Deutschland vor, ihre Klientel als Opfer zu stilisieren.

FR, 03.02.2009

Diese Woche wird Najem Walis Buch "Reise in das Herz des Feindes" über seine Begegnungen und Beobachtungen in Israel veröffentlicht. Im Interview erklärt der irakische Schriftsteller, es sei vor allem der Multikulturalismus, der ihn an Israel fasziniert: "Haifa ist es gelungen, im alltäglichen Leben eine gewisse Balance zwischen Juden, Arabern, Templern und Drusen hinzubekommen. Später kamen noch viele russische Juden hinzu. Diese Art Schmelztiegel hat mich immer fasziniert. Es gibt so etwas wie eine gelebte Zweisprachigkeit. Die Jugend spricht Arabisch und Hebräisch. Haifa war die einzige israelische Stadt, die in ihrer Geschichte einen Bürgermeister arabischer Herkunft hatte, der von Juden und Arabern gleichermaßen gewählt wurde. Heute hat die multikulturelle Stadt einen Bürgermeister jüdischer Herkunft, der von allen religiösen Gemeinden respektiert wird. Es wäre naiv, jegliche Konflikte zu leugnen. Die Gefahr, dass diese geschürt werden, besteht immer. In Haifa gelingt es jedoch, auf ganz pragmatische Weise an die Konflikte heranzugehen."

Weiteres: Natascha Freundel hörte einer Diskussion über Sex und Moral in Potsdams Einstein-Forum zu. In Times Mager beobachtet Christian Schlüter ein "forciertes Branding" der Katholischen Kirche durch Papst Benedikt XVI.. Besprochen werden Thomas Jonigks Stück "Donna Davison" am Deutschen Theater Berlin, ein "Siegfried" an der Opera National du Rhin und Bücher, darunter die Lessing-Biografie von Hugh Barr Nisbet und Christoph Menkes Studie "Kraft" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 03.02.2009

Heute morgen war die NZZ leider noch nicht online, deshalb unsere Zusammenfassung unverlinkt...

Mona Nagger schildert, wie sich die Schiiten des Libanons amüsieren. Vor allem in der Hisbollah-Hochburg Dahiye, einst "zurückgebliebenes Jammertal", sprießen die islamisch-korrekten Freizeitangebote aus dem Boden. "Zu den Grenzen, die es in der religiösen 'Widerstandsgesellschaft' - wie der Hizbullah seinen Wahlkreis bezeichnet - noch zu verhandeln gilt, gehört auch die Ermöglichung gemischtgeschlechtlicher Treffen für Unverheiratete. Ein Musterbeispiel für die vorläufig herrschende Hybridität ist das Cafe.Yet. Anders als die meisten Internetcafes bietet es Frauen keinen separaten Raum, sondern ist mit Kabinen versehen. Eine gläubige Schiitin hat somit mehrere Optionen, sagt Mona Harb lächelnd. Sie kann die jungen Männer oder nur ihren Monitor beobachten. Sie kann ihren Schleier ablegen oder anbehalten. Ja sie kann sich sogar durch die Kabine, die sie in die Nähe des anderen Geschlechts rückt und zugleich abschirmt, animiert fühlen, an einer Cybersex-Unterhaltung teilzunehmen. 'Gerade die nicht selten wahrgenommene Möglichkeit zum Cybersex erleichtert den Jungen ihre ersten Interaktionen', bestätigt Harb und verweist darauf, dass der Hizbullah dergleichen Freiräume nicht untersagt."

Weitere Artikel: Nach ein paar schwächeren Jahren hat Christian Gasser wieder ein sehr vitales Comic-Festival in Angouleme erlebt und freute sich vor allem über die Entdeckung des Comic-Anarchisten Winshluss (hier ein Interview mit ihm auf Youtube). Marc Zitzmann berichtet, dass nun auch die Pariser Museen lange Nächte veranstalten.

Besprochen werden Wilhelm Genazinos Roman "Das Glück in glücksfernen Zeiten", Reinhard Brandts philosophische Miniaturen "Warum ändert sich alles?" und Ota Pavels Erzählungen "Der Tod der schönen Rehböcke" (mehr ab 14 Uhr in der Bücherschau des Tages).

Aus den Blogs, 03.02.2009

Henryk Broder meldet in der Achse des Guten: "Von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, hat die Vollversammlung der UN eine Resolution gegen 'religiöse Diffamierung' verabschiedet; die einzige Religion, die in der Resolution explizit genannt wird, ist der Islam, dessen Angehörige bekanntlich sehr empfindlich auf Kritik reagieren und ihre Friedfertigkeit gerne mit der Forderung nach dem Tod von Ketzern wie Salman Rushdie und Karikaturisten wie Kurt Westergaard unter Beweis stellen."

Ebendort macht sich Burkhard Müller-Ullrich Gedanken über das Geschichtsverständnis des Papstes: "Zum Beispiel merkt er nicht, dass Gott für manche Gebete einfach kein Ohr zu haben scheint. Seit Jahrtausenden geht das schon so: die Juden lassen sich einfach nicht zum Christentum bekehren, trotz aller katholischen Fürbitten. Man kann natürlich weiter darum bitten, wie das Benedikt XVI. jetzt sogar verstärkt tun lässt, aber auf die Dauer sollte es einem zu denken geben, dass Gott die Juden ganz eindeutig früher als die Katholiken geschaffen und es bis heute nicht für nötig gehalten hat, ihnen ein christliches Upgrade zu verpassen."

Thomas Knüwer gibt Verleger Hubert Burda, der sich neulich über schlechte Verdienstmöglichkeiten im Netz beschwerte, einerseits recht. Aber andererseits bemühten sich die Verlage "auch nicht sonderlich, ihr Geschäftsmodell den neuen Zeiten anzupassen. Gäbe es die Möglichkeit, jedem Leser seine individuelle Themenauswahl als persönliches Magazin zu drucken, die Verlage würden dies als Gipfel der Kundenfreundlichkeit bejubeln. Im Internet passiert genau das - und sie sehen es als Niedergang ihrer Branche."

Die Medienlese setzt ihre Debatte über Wohl und Wehe des Daseins als freier Journalist fort. Don Dahlmann schreibt: "Die Freiberuflichkeit hat eine Menge Vorteile."

Welt, 03.02.2009

Im Interview mit Rüdiger Sturm erzählt Regisseur Michael Cimino, warum ihm in Hollywood niemand mehr für seine Film Geld geben will und warum ihn Hollywood-Filme nicht interessieren: "Die sind doch nur Kopie der Kopie der Kopie - ohne jegliche Originalität, ohne Vitalität. Ich kann mich an keinen einzigen erinnern, der mich in den letzten Jahren begeistert hätte. Aber vor einem guten Jahr war ich in der Jury des Filmfestivals von Dubai, da sah ich wunderbare Produktionen aus dem Nahen Osten, die alles beschämen, was das westliche Kino so liefert... Im letzten Herbst war ich auf einem Filmfestival in Seoul, und da habe ich die gleichen Erfahrungen gemacht. Das beschränkt sich nicht nur auf den Nahen Osten, es gibt fantastische Filme aus Serbien, Brasilien oder Korea. Es ist schockierend, wie sehr sie dem Hollywood-Kino überlegen sind. Sie bieten keine faulen Tricks, abgestandenen Dialoge, sondern sind exzellent gedreht mit hervorragenden Schauspielern. Das sind Filme voller Vitalität, die von Herzen kommen - in der Art des italienischen Neorealismus."

Zum zweihundertsten Geburtstag von Felix Mendelssohn Bartholdy seufzt Volker Tarnow: "Kein Deutscher schrieb vor oder nach ihm solche Musik - jedenfalls kein Norddeutscher." Manuel Brug besucht zudem die Mendelssohn-Ausstellung in der Berliner Staatsbibliothek. Matthias Heine staunt über den wirklich erwachsenen Film über das Interview-Duell "Frost/Nixon": "Seine Helden sind ausschließlich Männer weit bis sehr weit jenseits der dreißig." Sven Felix Kellerhoff widmet sich dem Berliner Streit um den richtigen Umgang mit den Überbleibseln von Mauer und Todesstreifen. Michael Pilz erinnert an Buddy Holly, der vor fünfzig Jahren mit seinem Flugzeug abstürzte. Kai-Hinrich Renner gibt einen Ausblick auf das Mammut-Gedenkjahr beim ZDF.

TAZ, 03.02.2009

Mächtig Angst hatte Dietmar Kammerer in der Sonderreihe "Hungry Ghosts" auf dem Filmfest Rotterdam. Warum, lässt sich leicht nachvollziehen: "'Tu einfach so, als seien sie nicht da', sagt der Vater in 'Nightmare Detective 2' von Shinya Tsukamoto zu seinem Sohn, als vor dessen Fenster eine unheimliche Prozession vorbeiführt: Schulkinder, die noch von den Wunden und Verstümmelungen des Unfalls gezeichnet sind, bei dem ihr Bus in eine Schlucht stürzte. Das blutige Defilee bleibt jedoch die einzige Referenz auf die in diesem Genre übliche Überdeutlichkeit des Horrors. Denn Tsukamoto ist in seinem Thriller weniger an Schockeffekten als an der Psychologie des Schreckens interessiert. Sein zentrale Einsicht lautet: Nichts ist furchterregender als die Angst vor der Angst. 'Es ist schrecklich, zu leben', sagt der Geist eines jungen Mädchens, das so lange in die Träume seiner Mitschülerinnen eindringt, bis diese beschließen, nicht mehr zu Bett zu gehen und aus Schlafentzug tot umfallen."

Weitere Artikel: Tobi Müller unterstellt den Schweizern, dass sie erst jetzt kapieren, dass der Kalte Krieg zuende ist. Johanna Schmeller war bei PeterLichts "Festival vom unsichtbaren Menschen" in den Münchner Kammerspielen. In der Reihe theorie & technik diagnostiziert Isolde Charim einen Bedarf an Emotionen in der Demokratie. Heinrich August Winkler wird im Herbst mit seiner "Geschichte des Westens" ein Buch herausbringen, das "wieder als Kommentar zur Aktualität gelten wird", meint Ralph Bollmann, der bereits erste Einblicke nehmen durfte.

Besprochen wird eine Gruppenausstellung von Sonic Youth in der Kunsthalle Düsseldorf.

Und Tom.

Spiegel Online, 03.02.2009

Sony bringt sein E-Book auf den deutschen Markt, allerdings ein veraltetes Modell berichtet Frank Patalong. Und arbeitet dabei mit dem Erzkonkurrenten von Amazon zusammen - Thalia. Aber "Elektronische Bücher brauchen den physischen Buchhandel nicht mehr. Der Download ist ihre natürliche, weil naheliegendste Vertriebsform. Das wird auch bei Thalia und Co nicht anders sein."
Stichwörter: Amazon, Buchhandel, Sony

SZ, 03.02.2009

Gustav Seibt hat zwar einiges Verständnis für eine Politik der katholischen Kirche, die sich über aktuelle Kräuselungen der öffentlichen Meinung hinwegsetzt. Aber was über die Lefebvre-Bischöfe ans Licht kam, geht auch über seine Hutschnur: "Menschen, die - wie nun auch ein lombardisches Mitglied dieser Gemeinschaft - den Holocaust für historisch inexistent halten, werden auch sonst geneigt sein, alles Mögliche, nur nicht das Vernünftige, für wahr zu halten. Der große katholische Schriftsteller Gilbert Keith Chesterton hat genau diese Drift in den Irrsinn des Allesmöglichen als die größte Gefahr benannt, die vom Unglauben ausgeht. Menschen wie Williamson verhalten sich nicht nur zutiefst verletzend gegenüber den Juden, zumal den überlebenden Opfern; sie zeigen ein gestörtes Verhältnis zu den kommunikativen Grundlagen irdischer, nicht geoffenbarter Wahrheit."

Weitere Artikel: Alexander Menden meldet, dass die National Galleries of Scotland und die Londoner National Gallery gemeinsam das Tizian-Gemälde "Diana und Actaeon" erworben haben. Dorion Weickmann lauschte der Antrittsvorlesung der Historikerin Ute Frevert an der FU. Cornelius Wüllenkemper unterhält sich mit Olivier Poivre d'Arvor von der dafür zuständigen Agentur über die drastischen Kürzungen der französischen Kulturarbeit im Ausland. Auf der Literaturseite berichtet Sonja Zekri über eine Recherche des russischen Autors Iwan Tolstoi, der herausgefunden hat, dass die CIA die russische Exilausgabe des "Dr. Schiwago" finanzierte, da eine originalsprachliche Ausgabe Voraussetzung für den Nobelpreis war. Alexander Menden zeichnet die "Feuchtgebiete"-Rezeption in England nach.

Eine ganze Seite ist Felix Mendelssohn-Bartholdy gewidmet - pünktlich zum 200. Reinhard J. Brembeck widmet sich der Frage, warum Felix Mendelssohn nie populär geworden ist. Hellmut Flashar untersucht Mendelssohn als Theaterkomponist. Und Wolfgang Schreiber schreibt das Editorial.

Besprochen werden eine Ausstellung über Charles Manson in Hamburg, ein szenisches Konzert Ruedi Häusermanns mit Texten von Händl Klaus am Burgtheater, die Ausstellung "Geraubt - Die Bücher der Berliner Juden" in der Berliner Stadtbibliothek und Bücher, darunter Anya Ulinichs Roman "Petropolis".

FAZ, 03.02.2009

Scharf ins Gericht geht Necla Kelek mit den türkischstämmigen Politikern in Deutschland: "Keiner der türkischstämmigen Politiker stellt sich hin und sagt: Ja, es gibt spezifische Probleme, die nicht relativiert werden dürfen. Warum reden sie nicht über arrangierte Ehen, Ferienbräute, Ehrenmorde, Gewalt in Familien, Diskriminierung der Frau? Warum redet ein Sozialpädagoge wie Cem Özdemir in der Tageszeitung am liebsten nur von der türkischen Mittelschicht, warum klangen manche seiner Äußerungen in der Vergangenheit so, als sei er Pressesprecher in Ankara? Warum fordert der Türken-Lobbyist und SPD-Genosse Kenan Kolat gebetsmühlenartig mehr Geld für Türken, warum möchte Lale Akgün am liebsten die Islamkonferenz und den Integrationsgipfel abschaffen...? Die Antwort ist einfach und bitter. Diese türkischstämmigen Politiker arbeiten seit Jahrzehnten daran, sich und ihre Klientel als Opfer zu stilisieren und selbst als Opferanwälte aufzutreten."

Patrick Bahners denkt nicht daran, den Papst für die Rücknahme der Exkommunikation der mal mehr, mal minder antisemitischen Pius-Brüder in Schutz zu nehmen: " Er hat sich seine Zeitbombe selbst gebastelt." Und: "Ungläubig hat man vernommen, dass der federführende Kurienkardinal, der Kolumbianer Dario Castillon Hoyos, wissen ließ, ihm sei nicht bekannt gewesen, dass es sich bei einem der vier Begünstigten des päpstlichen Dekrets, dem Engländer Richard Williamson, um einen Holocaust-Leugner handelt. Dazu ist zu sagen, dass diese Tatsache niemandem, der sich überhaupt mit Bischof Williamson beschäftigte, unbekannt geblieben sein kann."

Weitere Artikel: Andreas Platthaus, der seit Tagen quasi live für die FAZ aus Angouleme bloggt, fasst das dortige Comicfestival nun noch einmal für die Druckausgabe zusammen. In der Glosse findet Michael Hanfeld, dass uns das deutsche Al-Qaida-Video endlich das Fürchten lehren sollte. Sarah Elsing hat einer Frankfurter Expertendiskussion über Nachhaltigkeit in der Architektur zugehört. Mechthild Küpper schickt einen Bericht von der Suhler "Geschichtsmesse". Oliver Jungen macht sich über die virtuellen Grenzschützer lustig, die bei www.texasborderwatch.com/vcw.php die Grenze zwischen USA und Mexiko im Auge behalten. Auf der Medienseite verabschiedet Jordan Mejias die "Book World"-Literaturbeilage der Washington Post ins Netz.

Besprochen werden die Bonner szenische Uraufführung von Adriana Hölszkys Musiktheaterstücken "Es kamen schwarze Vögel", "Monolog" und "Vampirabile", Bruce Springsteens neues Album "Working on a Dream", ein Konzert von The Great Bertholinis in Frankfurt, die David-Cox-Ausstellung "Sun, Wind, and Rain" in Birmingham, die Ausstellung "In deutschen Reihenhäusern" im Museum für angewandte Kunst in Köln, eine spätdadaistische Veranstaltung mit Händl Klaus und Ruedi Häusermann in Wien, und Gerbrand Bakkers Roman "Und oben ist es still" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).