Heute in den Feuilletons

Unter dem Apfelbaum von Appomattox

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.10.2009. In Frankfurt hat man nur wenig über das lebendige, im Umbruch befindliche China erfahren, bedauert die taz. Spiegel-online warnt die Verlage vor der Übermacht Amazons. Die FR feiert die blühende deutsche Gegenwartsliteratur. Die Welt druckt Walt Whitmans Reportage über die Ermordung Abraham Lincolns. In der SZ erinnert sich Richard Swartz an seine erste Begegnung mit Herta Müller - in einem Kreis junger männlicher Genies.

TAZ, 17.10.2009

Drei chinesische Autoren schreiben über die Buchmesse und über die Rolle der Literatur in China. Für Zhou Wenhan ist nur noch einmal klar geworden, dass Literaten auch in China keine Popstars mehr sind: "Die guten alten Zeiten sind schon seit mindestens einer Dekade vorbei. Heute sind Popstars die Popstars. In den goldenen 80er-Jahren waren noch Lyriker wie Bei Dao und Gu Cheng die Stars. Traten sie in den Universitäten auf, wurden sie von tausenden von Studenten umringt." Wang Xiaoshan hat einen Lektüre-Tipp für China-Anfänger: "Wer China kennenlernen möchte, dem schlage ich vor: Es kann nichts schaden, mit Mo Yans Werken zu beginnen. Er ist sehr, aber nicht extrem genial und eigentlich ziemlich moderat." (Hier mehr zu Mo Yan beim Perlentaucher.)

Chen Mengcang wiederum verdankt einem deutschen Unternehmen viel: "Als Bertelsmann in China einen Buchklub gegründet hat, konnte man sich auf postalischem Wege Bücher bestellen, die man in kleinen Städten normalerweise nicht erhielt. Bertelsmann wurde zum Evangelium für Kinder in kleinen Städten." Und Ines Kappert erklärt, warum die Buchmesse bei der Kulturvermittlung im Grunde versagt hat. Chinesische KollegInnen äußerten sich durchweg enttäuscht: "In Frankfurt erfahre man nichts vom normalen, lebendigen, im Umbruch befindlichen China. Stattdessen habe die Messe allein die Extreme präsentiert: das Staatschina auf der einen und die Sicht der Dissidenten auf der anderen Seite."

Weitere Artikel: Der Musiker, Radio DJ und Produzent Jace Clayton (DJ/rupture) denkt über Hipstertum und Anti-Hipstertum als globales Phänomen nach. Das aktuelle Beispiel Griechenland inspiriert Christian Semlers darüber hinausreichende Überlegungen zum Thema "politische Dynastien". In der "Leuchten der Menschheit"-Kolumne erklärt Doris Akrap, warum der Verleger KD Wolff die USA, die ihn nicht einreisen ließen, dennoch zu Recht für ein großartiges Land halten darf.

Besprochen werden Bücher, darunter Brigitte Kronauers neuer Roman "Zwei schwarze Jäger" und zwei neue Darstellungen des islamischen Rechts (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und Tom.

Spiegel Online, 17.10.2009

Nach der Konzentration im stationären Buchhandel (Thalia, Hugendubel etc.) droht jetzt eine Konzentration im Internetbuchhandel: Amazon wird zum allesbeherrschenden Akteur, der auch die Preise bestimmen kann, warnt Konrad Lischka. "Aber wie konzentriert und wie technisch geschlossen der Digitalbuchmarkt sein wird, entscheiden die Verlage heute. Und da ist der offene Ansatz Googles ein wünschenswertes Gegengewicht zur geschlossenen und erfolgreichen Strategie von Amazon."

Außerdem lesen wir gerade, dass die Bundesbank Thilo Sarrazins umstrittenes Interview mit der Lettre gelesen und abgenickt hatte, bevor es gedruckt wurde. Auch Bundesbankpräsident Axel Weber, der Sarrazin nach Erscheinen des Interviews scharf kritisiert und Sarrazin den Rücktritt nahegelegt hatte, kannte das Interview. Man hätte sich das allerdings schon nach dem FAZ-Interview mit Weber denken können, der auf die Frage, ob er das Interview vorab gelesen hätte, antwortete: "Dazu äußere ich mich nicht weiter." Das sind deutsche Chefs wie sie im Buche stehen!

FR, 17.10.2009

In schönster Blüte sieht Ina Hartwig die deutsche Gegenwartsliteratur, die endlich gelernt habe, auf "Sprachzweifel" zu verzichten: "Es wird wieder erzählt in Deutschland. Von der Provinz, von Krankheit, von Warenflüssen, von Fetischismus, von Autos und Städten, und natürlich von der Liebe. Die Bücher werden dicker und dicker. Man hat wohl etwas nachzuholen. Auch das alte Westdeutschland, das mit dem Mauerfall genauso zu existieren aufgehört hat wie die DDR, will literarisch erforscht werden. Und nicht nur von den coolen Köpfen, sondern auch von Romantikern und Kritikern, die in der Lage sind, die neuen Härten zu schildern. So zu schildern, dass man keinen Ideologiekrampf bekommt. Es mag eine Krise des Buchhandels geben, eine Krise des literarischen Schreibens ist derzeit nicht in Sicht."

Weitere Artikel: Judith von Sternburg liefert noch einmal Buchmesse-Notizen, von chinesischen Schriftzeichen flankiert. Oliver Herwig erklärt, wie Tchibo Kunden zu Designern machen will. In einer Times Mager hält Arno Widmann fest, dass die "Freie Welt" von manchem frei sein mag, von der Angst freilich äußerst selten. In ihrer US-Kolumne hämt Marcia Pally gegen jene, die gegen Barack Obama und den Friedensnobelpreis hämen.

Besprochen werden die beiden von Ai Weiwei ausgestatteten Zemlinsky-Opern-Einakter in Bremen, eine Ausstellung des chinesischen Künstlers Chu Yun im Frankfurter Portikus und Bücher, darunter Steven Blooms Roman "Stell mir eine Frage" und Mirjam Presslers Familienporträt "'Grüße und Küsse an alle': Die Geschichte der Familie von Anne Frank" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Berliner Zeitung, 17.10.2009

Im Interview mit Regine Sylvester spricht der Anwalt und Autor Ferdinand von Schirach über seinen Großvater, den Wiener Gauleiter Baldur von Schirach, über Verbrechen und Strafe, und warum er sich bei seinen Mandanten nie die Frage nach Schuld oder Unschuld stellt: "Die einzige Frage, die ich mir immer stelle: Reichen die Beweise aus? Moralische Schuld spielt keine Rolle wenn es um die Frage geht, ob der Angeklagte es tatsächlich war. Jedenfalls nicht an dieser Stelle in der Verteidigung."

NZZ, 17.10.2009

In Literatur und Kunst untersucht die Kunsthistorikerin Verena Senti-Schmidlin den Einfluss von Piet Mondrians "Tableau No. I, 1925" auf Gret Palucca und das Bauhaus. Rolf Urs Ringger erinnert an die Aufführung von Hans Werner Henzes "Nachtstücke und Arien" bei den Donaueschinger Musiktagen 1957. Besprochen werden eine Ausstellung über das altsyrische Königreich Qatna im Landesmuseum Württemberg in Stuttgart, die Ausstellung "Eiszeit" mit ältesten Kunstwerken der Menschheit ebenfalls in Stuttgart sowie Bücher von und über Arnold Schönberg.

Im Feuilleton grübelt Uwe Justus Wenzel über das "Sachbuch", eine etwas ungenaue Bezeichnung für die Sache selbst im Gegensatz zum englischen Wort "non-fiction". In der Stil-Kolumne besingt Theatermacher Andreas Homoki die Schönheit des Einfachen. Besprochen wird eine Claude-Monet-Retrospektive im Von-der-Heydt-Museum Wuppertal.

Welt, 17.10.2009

Uwe Wittstock hat auf der Frankfurter Buchmesse Herta Müller erlebt, aber auch den chinesischen Propagandaminister und seine Entourage, auf einer Pressekonferenz: "Ich frage, was Liu Xiaobo, dem 2008 festgenommenen Präsidenten des unabhängigen chinesischen PEN, vorgeworfen werde und weshalb er noch immer in Haft sei. Der Blick der Herren nimmt Maß, und ein abschätziges Lächeln geht ihnen leicht von den Lippen. Vor dem Gesetz, so wird mir beschieden, seien in China alle Menschen gleich, und falls ich wissen wolle, was Einzelnen vorgeworfen werde, solle ich mich doch bitte bei der zuständigen Polizei erkundigen. Man muss es gesehen haben, wie die Herren nach der Konferenz - von ihren Kollegen umringt - aus dem Saal treten. Wie sie lachen, wie sie feixen, wie der eine dem andern anerkennend gegen die Schulter knufft: Gut gemacht, prima gelaufen. Plötzlich glaubt man zu verstehen, weshalb Herta Müller noch 20 Jahre danach zornig ist, sobald sie nur daran denkt."

Stefan Tolksdorf bestaunt Sigmar Polkes Fenster für das Zürcher Großmünster: "Nirgendwo sonst gibt es Kirchenfensterscheiben aus dünnscheibig geschliffenem Achat und Glas, das mit kostbaren Turmalinen besetzt ist - Halbedelsteinen, denen die Tradition Schaden abwehrende Kraft zuspricht." Matthias Heine hat sich in Leipzig Büchners Wozeck mit dem Exfußballer Jimmy Hartwig angesehen.

Die Literarische Welt druckt Walt Whitmanns Reportage über die Ermordung Abraham Lincolns, die in der Reportagensammlung "Nichts als die Welt" offenbar zum erstenmal auf Deutsch erschienen ist. Hier ihr Beginn: "Das Wetter an jenem Tag, dem 14. April 1865, war offenbar im ganzen Lande angenehm - und auch die moralische Atmosphäre war es - der lange Sturm des Brudermords, so finster, so blutig, so voller Zweifel und Verzweiflung, war endlich vorüber, vertrieben durch den Sonnenaufgang des Siegs unseres Staates, die endgültige Unterwerfung des Sezessionismus - wir wollten es kaum glauben! Lee hatte kapituliert unter dem Apfelbaum von Appomattox. Die anderen Armeen, die Mitläufer der Revolte, folgten bald."

Außerdem ist Tilman Krauses Laudatio auf Sibylle Lewitscharoff zum Spycher Literaturpreis zu lesen: "Auf den Spuren ihrer Engel ist es lustig." Besprochen werden unter anderem Richard Powers Gentechnik-Roman "Das größere Glück", Jens Rostecks Biografie des Komponisten Hans Werner Henze sowie die Biografie über Robert J. Oppenheimer von Kai Bird und Martin Sherwin.

SZ, 17.10.2009

Richard Swartz erinnert sich an seine Besuche im Banat unter Ceaucesu. Und an die deutschsprachigen Dichter, die er dort traf: "Die jungen Dichter in Timisoara waren schüchtern. Sie waren in Dörfern aufgewachsen, deren Bevölkerung entweder in raschem Tempo an den Westen verkauft wurde oder im Aussterben begriffen war. Sie trugen klangvolle Namen wie Johann Lippet, Horst Samson, William Totok oder Rolf Bossert. (...) Sie waren natürlich ausnahmslos junge Genies, und Männer noch dazu. Nur eine einzige Frau war dabei, eigensinnig schweigend, schlecht gelaunt, mit kurz geschnittenem, grell orangerot gefärbtem Haar. Ich fragte sie schließlich, eher aus Höflichkeit als aus Interesse, was sie denn mache. Die mürrische Antwort: 'Ich schreibe auch.' Damals hatte sie noch kein einziges Buch veröffentlicht. Ihr Name war Herta Müller."

Weitere Artikel: Viel Platz wird dem Kulturwissenschaftler Joseph Vogl eingeräumt für seine Erklärung, warum die Finanzmärkte immer und mit Notwendigkeit instabil sind. Michael Kläsgen porträtiert den französischen Organisten, Pianisten, Komponisten und Improvisator Jean Guillou. Till Briegleb erklärt, wie der Senat dem Theater in Bremen auf die Beine helfen will. Tim B. Müller erinnert an den italienischen Philosophen Norbert Bobbio, der am Sonntag seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte. Auf der Literaturseite lobt Alex Rühle die tägliche Buchmessenzeitung der FAZ (!) über den grünen Klee.

Im Aufmacher der SZ am Wochenende schlägt sich Till Briegleb auf die Seite der Dilettanten in Gesellschaft, Politik und Internet. Georg Diez schwärmt für die US-Fernsehserie "Mad Men". Auf der Historienseite geht es um den - gespaltenen - griechischen Widerstand gegen die deutsche Besatzung im 2. Weltkrieg. Vorabgedruckt aus einer neuen Ausgabe wird F. Scott Fitzgeralds Erzählung "Früher Erfolg". Im Interview spricht die Schauspielerin Johanna Wokalek (aktuell: "Die Päpstin") über "Radikalität".

Besprochen werden Johannes Schmids Inszenierung einer Theaterversion des "Don Quijote" in München, Thomas Thiemes Regieprojekt "Büchner/Leipzig/Revolte" (leider gescheitert, bedauert Christine Dössel), die große Markus-Lüpertz-Retrospektive in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn (Catrin Lorch sieht wenig Bleibendes), ein Konzert der Münchner Philharmoniker unter ihrem scheidenden Dirigenten Christian Thielemann in München (das Orchester wurde vom Publikum sehr kalt empfangen, ganz im Gegensatz zum Dirigenten) und Bücher, darunter die Neuübersetzung von Philip Roths Klassiker "Portnoys Beschwerden" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 17.10.2009

Autor Hans Zippert überlegt, wie er die 124.000 Bücher, die zur Buchmesse neu erschienen sind, in sein Regal sortieren würde. In den Buchmessennotizen geht es um Alfred Grosser und Imre Kertesz' Dankesrede zum Jean Amery-Preis für Essayistik. Dem Buchhandel geht es eigentlich ganz gut, meint Hannes Hintermeier, der die Lage in einem längeren Artikel untersucht. Durs Grünbein schickt ein Gedicht über "Römische Häuser". Mit der Kochkunst könnte "der Traum von der gesellschaftlichen Relevanz einer Kunstform Realität werden", glaubt Jürgen Dollase. Andreas Kilb warnt davor, den Berliner Schlossbau zu verschieben. Martin Lhotky schreibt zum Tod des Historikers Hermann Wiesflecker.

Besprochen werden die Uraufführung von Tankred Dorsts "Ich soll den eingebildet Kranken spielen" am Theatre National du Luxembourg, die Aufführung von Rossinis Oper "Tancredi" am Theater an der Wien und Bücher, darunter Ugo Riccarellis Roman "Der Zauberer" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Auf der Schallplatten- und Phonoseite geht's um die neue CD der Flaming Lips, verschiedene Einspielungen von Haydns Klaviersonaten und eine CD mit Musik um 1300.

In Bilder und Zeiten schreibt Helmut Mayer über einen Vorläufer Gunter von Hagens, den französischen Anatom Honore Fragonard, dessen Präparate heute noch im Musee de l'Ecole Veterinaire bei Paris zu sehen sind. Dieter Borchmeyer resümiert einen Vortrag von Andras Schiff über Thomas Manns Beschreibung von Beethovens Klaviersonate Opus 111 im Roman "Doktor Faustus". Hannes Hintermeier hat einen Ortstermin mit der in London lebenden amerikanischen Jugendbuchautorin Meg Rosoff. Die Bildungsforscherin Maryanne Wolf erklärt im Interview, wie das "phantasiebildende, freudvolle" Bücherlesen unser Hirn verändert, während das Lesen am Bildschirm in reine Informationsverarbeitung münde.

In der Frankfurter Anthologie stellt Renate Schostack ein Gedicht von Sidonia Hedwig Zäunemann vor:

"Jungfern-Glück

Niemand schwatze mir vom Lieben und von Hochzeitsmachen vor,
Cypripors Gesang und Liedern weyh ich weder Mund noch Ohr.
Ich erwehl zu meiner Lust eine Cutt- und Nonnen-Mütze,
Da ich mich in Einsamkeit wieder manches lästern schütze.
..."