Heute in den Feuilletons

Geschützt und abgabenpflichtig

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.06.2010. Alma Guillermoprieto wundert sich im Blog der New York Review of Books über die Grazie einer halben Tonne Mortadella. Im Las Vegas Weekly erklärt der Komiker Penn Jillette die Grenzen heutigen Komischseins. Die FR schildert die Misere des italienischen Kulturlebens. Carta fragt: Was kostet 1 "Ätschivederci, Italien"? Im Spiegel annonciert Richard David Precht den Untergang des Abendlandes aus Anlass der Bundespräsidentenwahl. Die FAZ ist entsetzt: Precht ist Wulffs Voltaire.

Aus den Blogs, 29.06.2010

Ein Bild geht um die Welt:



Marcel Weiss schreibt auf Neunetz: "Zum Zeitpunkt des Schreibens dieses Artikels ist das Bild, einen reichlichen Tag nach dem Erscheinen, allein auf dem Bildhoster imgur über 841.900 mal aufgerufen worden."

Alma Guillermoprieto ("Havanna im Spiegel") beschreibt in einem sehr hübschen Text für das Blog der New York Review of Books, wie sie Maradona kennen und mit ihm den Fußball lieben lernte. Sein Verhalten beim Spiel am Sonntag gegen Mexiko beschreibt sie so: "In contrast to the poker-faced Mexican coach, Javier Aguirre, Maradona winces, moans, paces, pulls his hair throughout the match and, most enchantingly, leaps like a half-ton of mortadella into the waiting (and perhaps slightly apprehensive) arms of his coaching staff whenever his team scores."

Robin Meyer-Lucht resümiert auf Carta die gestrige Anhörung zum Thema Leistungsschutzrecht im Bundesjustizministerium: "Die Verlage streben an, dass selbst kurze Formulierungen wie 'Ätschivederci, Italien' mit Verweis auf einen Pressetitel zukünftig geschützt und abgabenpflichtig sein sollen. "

BoingBoing zitiert aus einem Interview der Las Vegas Weekly mit dem Komiker Penn Jillette ("Bullshit") über die Grenzen heutiger Komik: "We haven't tackled Scientology because Showtime doesn't want us to. Maybe they have deals with individual Scientologists - I'm not sure. And we haven't tackled Islam because we have families."

(via BoingBoing) Auf der offiziellen Webseite der Demokratischen Volksrepublik Korea (kurz: Nordkorea) findet sich - mit vielen Beispielen - ein Hinweis auf eine Ausstellung über amerikanische Kriegsverbrechen während des Koreakrieges. Klassischer Hammer-Horror, meint unsere Kunstkritikerin Lucy Powell.


Die Nachtkritik bringt ein sehr emphatisches Plädoyer des Dramatikers Nis Momme-Stockmann für den Autor, und zwar in seiner unzynischen Art: "Ich bin gerne naiv. Und ich bin es aus voller Überzeugung. Ich möchte dazu anstiften, naiv zu sein, naiv zu lieben, zu denken, zu arbeiten. Die Konvergenz von Kunst und Markt tut dem Autor nicht gut. Markt bedeutet Dressur. Dressur bedeutet Abschliff der Diskurse. Autor sein aber bedeutet, sich in den Dienst der kleinen und aufstrebenden Diskurse, der Alternativen, der Ungehörten, der Subjektivität zu stellen. Dem Fremden in uns - dem Zweifel - und dem Fremden in der Welt Stimme zu geben. Es bedeutet, nicht in erster Linie das Bekannte und Erwünschte handwerklich kompetent zu verschachteln."

(via love german books) Die FAZ hat eine Rede von John le Carre übersetzt, der in London über die Vorteile des Deutschlernens sprach.

NZZ, 29.06.2010

Auf der Medienseite wundert sich Heribert Seibert über den enormen Erfolg von Landmagazinen, die mit optischer Opulenz, wenig Gehalt und manch sprachlicher Entgleisung ("Zaungäste aus Holz tummeln sich um den Garten") ihre besserverdienende, betagte Leserschaft in "Einklang mit der Natur" versetzen wollen. Auch das Schweizer Fernsehen muss das Sommerloch irgendwie füllen, weiß Rainer Stadler: immerhin mit einer interessanten Reihe über den Einfluss der Medien auf die Wahrnehmung.

Im Feuilleton denkt Andreas Breitenstein anlässlich einer Tagung im Literaturhaus München über Probleme der Übersetzungskritik nach: Um Rezensenten übliche Floskeln wie "souverän" zu ersparen, wären erläuternde Nachworte zur Übersetzung hilfreich. Naomi Bubis zeichnet ein Porträt der israelischen Übersetzerin und Verlegerin Ilana Hammerman, die mit ihrem Engagement für ein israelisch-palästinensisches Verständnis an einsamer Front kämpft.

Besprochen werden die Ausstellung "Oggetti e Progetti" über die Designfirma Alessi in der Pinakothek der Moderne in München, die sehr "ideologische" Ausstellung "Blumen für Kim Il Sung" im Museum für angewandte Kunst in Wien und Bücher, darunter Aatish Taseers Studie (Leseprobe) "Terra Islamica" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Spiegel Online, 29.06.2010

Richard David Precht, Experte für alles, annonciert in einem online gestellten Spiegel-Essay zur Wahl des Bundespräsidenten den Untergang des Abendlandes 2.0: "Wie ein Dinosaurier torkelt der Staat seinem evolutionären Ende entgegen. Den baldigen Meteoriteneinschlag ahnt er, aber er hat ihm nichts entgegenzusetzen: nicht der Schuldenexplosion, der er mit Schönheitskosmetik begegnet, nicht der immer größeren Kluft zwischen Arm und Reich, nicht der Versteppung der Kommunen, nicht der psychischen Umweltverschmutzung durch die Werbung, ganz zu schweigen von den Gefahren des Klimawandels. Die ökologische, monetäre und soziale Kreidezeit nimmt er als gegeben hin."

FR, 29.06.2010

Kordula Dörfler berichtet von den Protesten der italienischen Kulturszene gegen den rigiden Sparkurs der Regierung Berlusconi. Bis 2012 sollen die Ausgaben um 50 Prozent gekürzt werden. Allerdings räumt sie auch byzantinische Auswüchse bei der Kultursubvention ein: "Warum soll eine Sonderzulage erhalten, wer einen Frack trägt oder eine Partitur in fremder Sprache singt? Auch müssen sich manche Bühnen fragen lassen, warum sie ausschließlich am Tropf des Ministeriums hängen. Alle zusammen haben einen Schuldenberg von 100 Millionen Euro angehäuft, einige Opern wie die von Neapel, Rom und Genua wurden bereits unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt."

Weiteres: Harry Nutt resümiert eine Berliner Tagung der Bundeskulturstiftung zu "Kulturen des Wirtschaftens". Wolfgang Kunath berichtet von Aufregungen um eine Goethe-Sammlung in Brasilia. In Times mager schlägt sich Arno Widmann den frühen Morgen mit Filmen um die Ohren, die in der Drogerie an der Kasse liegen.

Auf der Medienseite erklären die dpa-Geschäftsführer Michael Segbers und Malte von Trotha im Inrerview mit Daniel Bouhs, warum sie nicht - wie afp - ständig das Netz nach Urheberrechtsverletzungen durchforsten: "Bei uns herrscht die Überzeugung vor, dass wir nicht mit dem großen Bügeleisen darüber gehen wollen. Wenn ein Blogger etwa eine Geschichte von uns nimmt, auch in voller Länge, weil ihn ein Thema fasziniert, dann steht das in keinem Verhältnis zu dem Aufwand, der Sache nachzugehen."

Besprochen werden eine Ausstellung über die Musikkultur in Baden-Württemberg im Schloss Karlsruhe, eine Aufführung von Helmut Oehrings "Offene Wunden" mit dem Ensemble Modern an der Oper Frankfurt und Anne Nelsons Geschichte der Widerstandsgruppe Rote Kapelle, die Hans Mommsen als "Meisterwerk" rühmt (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages)

Welt, 29.06.2010

Abgedruckt ist eine Rede, die Wolf Lepenies auf einer Gedenkveranstaltung für Ralf Dahrendorf in Essen hielt. Kürzungen im Kulturetat der Griechen beschreibt Anais Meyer. Für die Forumsseite besucht Hans Christoph Buch einen milden Marcel Reich-Ranicki.

Besprochen werden die Ausstellungen "Ganz rein! Jüdische Ritualbäder" und "Das Mikwen Projekt" im Jüdischen Museum Hohenems, eine Ausstellung zum Werk des Happening-Künstlers Rafael Ferrer im El Museo del Barrio in New York, Tom DiCillos Filmporträt der Doors "When you're strange", Terence Kohlers Choreografie "Serie noire" mit dem Bayerischen Staatsballett und einige CDs.

TAZ, 29.06.2010

Vor einigen Tagen hat Judith Butler eine Auszeichnung des mainstreamigen CSD in Berlin mit der Begründung abgelehnt, der CSD sei zu unpolitisch. So ein Unsinn, meint Jan Feddersen: "Wer in einem Land wie der Bundesrepublik nicht in den Mainstream will, wer schon - wie die Zirkel und 'Bündnisse' beim Transgenialen CSD - die Präsenz der Homos der Union für nachgerade rassistisch als solches hält, wer den Lesben- und Schwulenverband seiner akkuraten, nötigenfalls auch gegen Migrationsverbände interessierten Arbeit wegen schon für irgendwie faschistisch hält, hat sich vom Politischen allenthalben verabschiedet. Der und die wollen - in einem gramscianischen Sinne - nicht die Eroberung der mächtigen gesellschaftlichen Sphären, sondern nur identitär Recht behalten. Darin enthalten ist ein totalitäres Moment, charakteristisch für linke Politikkonzepte, die schon deshalb auf innere und äußere Militanz halten müssen."

In der Kultur: Ralph Bollmann prüft einen Tag vor der Wahl Joachim Gauck und Christian Wulff auf ihre präsidialen Qualifikationen. Jette Gindner berichtet vom Kommunismus-Kongress, dessen Höhepunkt wohl die Diskussion zwischen Alain Badiou und Antonio Negri über die Möglichkeit eines Klassenkampfs innerhalb der kapitalistischen Ordnung war. Eric Leimann war bei der Präsentation von Charlotte Gainsbourgs neuem Album "Irm".

Und Tom.

FAZ, 29.06.2010

Zwei Texte zur morgigen Bundespräsidentenwahl: Necla Kelek erklärt, warum sie Joachim Gauck wählen würde, wenn sie denn dürfte: "Besonders Migranten, die mit anderen Welt- und Menschenbildern sozialisiert wurden, finden in diesem Kandidaten eine Person, die Freiheit und Verantwortung vorlebt." Patrick Bahners spießt einen Satz auf, in dem Christian Wulff bekennt, er würde gerne von den großen Geistern unserer Tage beraten: "Ist man erst einmal Schlossherr im Bellevue, dann sucht man den Voltaire unseres Zeitalters und findet Richard David Precht."

Weitere Artikel: Recht kurz und knapp macht Regina Mönch der Berliner Kommunismus-Konferenz (Website), sich auf Argumente eher nicht einlassend, den Prozess. Alexandra Kemmerer beobachtet die Hearings, bei denen Barack Obamas Kandidatin für den Supreme Court, Elena Kagan, vom Senat unter die Lupe genommen wird. Wie aus dem ehrwürdigen Hotel de la Marine an der Pariser Place de la Concorde ein Investoren-Luxushotelprojekt zu werden droht, schildert Sabine Frommel. Joseph Hanimann besucht das Haus von Jean Cocteau bei Fontainebleau. Thomas Poiss schreibt zum Tod des österreichischen Autors Andreas Okopenko.

Auf der Medienseite beschreibt Dirk Schümer, wie es dem ORF nach der jüngsten Reform weder an "prestigiösen Pöstchen" noch an gewaltigem Staatseinfluss mangeln wird. Jürg Altwegg befürchtet, dass bei der nach einem eindeutigen Redaktionsvotum wohl bevorstehenden Übernahme von Le Monde durch eine Gruppe reicher linker Bieter "eine Wahlverwandtschaft von Kaviar-Linken und neureichen Salonkapitalisten zum Tragen kommt".

Besprochen werden die Bruckner-Konzerte der Berliner Staatskapelle unter Daniel Barenboim, ein Phoenix-Konzert in Köln, Christian Weises Inszenierung der "Nibelungen" nach Hebbel sowie Moritz Rinke in Stuttgart, die Ausstellung "Realismus. Abenteuer der Wirklichkeit" in der Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung München und Bücher, darunter Axel Simons Romandebüt "Tatütata für Peter Sputnik" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

So gut ist die Stimmung in Südafrika nicht, schreibt Marie Luise Knott in einer lesenswerte Reportage "'Bitte kommt zahlreich!' - Der Aufruf des Journalisten Rian Malan vor der WM im Guardian abgedruckt, war keineswegs wirtschaftlich motiviert. Wir brauchen den Austausch, wir brauchen alle mentalen Öffnungen, war seine Botschaft, denn das Land steckt fest. Und daran ändert der Sport nichts. Viele befürchten, die Krise könnte sich nach der WM weiter verstärken."

SZ, 29.06.2010

Im Aufmacher schlägt Gustav Seibt vor, das dereinst wiederaufzubauende Berliner Stadschloss mit einer großen populären Bibliothek zu beleben. Jean-Michel Berg ist bei einer Berliner Konferenz dem Gespenst des Kommunismus begegnet, das in Gestalt von Alain Badiou und Slavoj Zizek auftrat. Laura Weißmüller inspiziert ein Deckengemälde Cy Twomblys für den Louvre (Bilder hier und hier). Eva-Elisabeth Fischer unterhält sich mit der Kuratorin des Festivals "Theater der Welt" in Essen und Mülheim an der Ruhr, Frie Leysen, die eine Menge unbekannter Theatermacher aus allen Teilen der Welt eingeladen hat. Lynn Scheurer verfolgte ein Symposion über Übersetzungskritik in München.

Besprochen werden Ereignisse der "Theaterbiennale Wiesbaden", Filme des Münchner Filmfests, darunter Andrej Ujicas "Autobiografie des Nicolae Ceausescu", eine große Ausstellung über den amerikanischen Bürgerkrieg in Washington und Bücher, darunter Helmut Walser Smiths Studie "Fluchtpunkt 1941 - Kontinuitäten der deutschen Geschichte" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).