Heute in den Feuilletons

Die Niederlage und die Geringschätzung dieser Niederlage

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.03.2011. In der Berliner Zeitung erklärt der Autor Ralf Bönt, warum es ihm nie so wehtat, Recht gehabt zu haben. Die FAZ erklärt Monika Maron zur Advokatin der Leitkultur. Im Weser-Kurier erklärt der Historiker Julius Schoeps, was ihn so daran stört, wenn die Bremer PDS zum Boykott israelischer Waren aufruft.  In der SZ erklärt der serbische Autor Sreten Ugricic, was er von der Literatur seines Landes, das Gast in Leipzig ist, erwartet.

TAZ, 15.03.2011

Esther Boldt porträtiert die Schauspielerin Kathleen Morgeneyer, die gerade einen spektakulären Auftritt in Frankfurt hat: "Blau glitzert der Grund, verlockend ist seine Tiefe. 'Langsam und unter Schmerzen', sagt Kathleen Morgeneyer, 'räume ich meinen Kopf leer.' Und dann steigt sie raschen Tritts eine Leiter empor, verharrt einen Augenblick und springt bäuchlings auf den Bühnenboden, der überraschend nachgibt. 253-mal sei sie bereits gestorben, erzählt die Schauspielerin mit einem stillen Vergnügen im Gesicht. In dem Solo 'Horror Vacui' spielt sie Darstellungsweisen des Undarstellbaren durch: des Sterbens."

Der exiltunesische Dichter Tahar Bekri ist im Interview bester Hoffnung was die Zukunft seines Landes und der arabischen Welt überhaupt angeht: "Was derzeit in Tunesien, Ägypten, Libyen, aber auch in Bahrain und in der gesamten arabischen Welt passiert, ist vergleichbar mit dem Zusammenbruch des Ostblocks nach dem Fall der Mauer. Trotz regionaler Differenzen gibt es eine gemeinsame Geschichte. Keines dieser Länder kann sich der Entwicklung entziehen."

Weitere Artikel: In England werden Ladendiebe jetzt von Studenten aus Rom per CCTV-Kameras gejagt, behauptet Julia Grosse. Apokalypse und radioaktive Verseuchung haben in der japanischen Kultur seit dem Zweiten Weltkrieg erwartungsgemäß eine große Rolle gespielt, erklärt Kirsten Reinhardt. Der kurdisch-türkische Popstar Ibrahim Tatlises liegt nach einem Mordanschlag im Koma, meldet Daniel Bax. Jan Feddersen schreibt den Nachruf auf den Sexualforscher Günter Amendt, der bei einem Unfall gestorben ist.

Und Tom.

Berliner Zeitung, 15.03.2011

Der Schriftsteller Ralf Bönt schreibt: "Es hat nie so weh getan, immer schon im Recht gewesen zu sein: Aber wenn man in Brokdorf auf dem Deich spazieren geht, wenn man in das Betonbecken schaut, in dem das Wasser gurgelt, das das Kraftwerk ständig mit dem Fluss tauscht, und es wird einem nicht mulmig, dann ist ein Reflex ausgeschaltet."
Stichwörter: Bönt, Ralf, Kraftwerk, Wasser

Aus den Blogs, 15.03.2011

Ein gewisser Ekel packt Burkhard Müller-Ullrich bei der Berichterstattung über die japanische Katastrophe: "Da hat sich in einem von uns zwar geografisch, aber nicht zivilisatorisch weit entfernten Land eine Naturkatastrophe von epochalen Ausmaßen ereignet. Ganze Städte wurden ausradiert, mitsamt ihren Bewohnern und der gesamten Infrastruktur. Auch Atomkraftwerke wurden beschädigt und gerieten außer Kontrolle, es bestand die Befürchtung einer zusätzlichen Technikkatastrophe.Doch die eine Katastrophe war real, die andere existierte nur als Angst-Szenario. Auf dem Leitkultur-Fragebogen für Immigranten kreuzen Sie jetzt bitte an, welche dieser beiden Katastrophen - die bereits eingetretene oder die bloß erwartete - die deutschen Medien fast ausschließlich beschäftigt?"

Das saudische Militär ist gerade schwer damit beschäftigt, die Demonstranten in Bahrain niederzuknüppeln. Darum können sie mit ihrer Luftwaffe leider nicht auch noch das Flugverbot über Libyen durchsetzen, das die arabische Liga so befürwortet, meldet John Cook bei Gawker.

Weitere Medien, 15.03.2011

In Bremen protestiert die PDS gegen Jaffa-Clementinen. Historiker Julius Schoeps erklärt im Interview mit Jan-Philipp Hein, was ihn so daran stört: "Der Umgang mit Israel hat fast schon etwas Obsessives. Wir haben es, scheint mir, mit Verdrängungsmechanismen zu tun. Hier werden die alten Vorurteilsbilder gegen die Juden, die nach wie vor existieren, auf den Staat Israel angewandt. Man befreit sich von einer Last, indem, man attackiert. Wir haben es mit einem Antisemitismus trotz und wegen Auschwitz zu tun."

FR, 15.03.2011

Besprochen werden der "Tristan" unter Graham Vick und Donald Runnicles an der Deutschen Oper Berlin, einige neue Werke von Hanspeter Kyburz und Enno Poppe, uraufgeführt vom Ensemble Modern, in Frankfurt, eine neue CD von Does It Offend You, Yeah? und bücher, darunter ein Bildband mit "Meistern der komischen Kunst".

NZZ, 15.03.2011

Hoo Nam Seelmann erklärt uns, warum es in Südkorea gesetzlich verboten ist, dass Kinder ihre Eltern anzeigen (ausgenommen bei Sexualdelikten und häuslicher Gewalt). Brigitte Kramer stellt das nach den Plänen des brasilianischen Architekten Oscar Niemeyer gebaute Kulturzentrum in der spanischen Industriestadt Aviles vor. Martin Meyer fühlt sich hilflos angesichts der Bilder aus Japan.

Besprochen werden eine Ausstellung über den Schriftsteller Herve Guibert als Fotografen im Pariser Maison Europeenne de la Photographie, einige DVDs und Bücher, darunter Horst Bredekamps Buch "Theorie des Bildakts" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 15.03.2011

Gerhard Gnauck besucht die europäische Kulturhauptstadt Tallinn, die unter anderem mit ihrem Kunstimuuseum brilliert. Hanns-Georg Rodek freut sich auf die Verleihung der Hörfilmpreise heute Abend (Hörfilme sind Kinofilme, die für Blinde akustisch aufgearbeitet werden). Peter Praschl mokiert sich in der Leitglosse über Apokalyptiker wie Nina Hagen, die die USA beschuldigen, Erdbeben auszulösen, um Nationen wie Haiti oder Japan gefügig zu machen. Thomas Lindemann unterhält sich mit dem Spiele-Entiwckler Tae Kim, der mit "Homefront" den angesagtesten Ego-Shooter der Saison erfunden hat. Besprochen wird ein "Tristan" unter Donald Runnicles und Peter Seiffert an der Deutschen Oper Berlin.

SZ, 15.03.2011

Der serbische Autor Sreten Ugricic sagt, was er von der Literatur seines Landes, das Gast in Leipzig ist, erwartet: "Die Rede ist von einer Reaktion auf das in sich widersprüchliche, absurde Umfeld der totalen Niederlage und des Ignorierens dieser Niederlage. Alle Dimensionen des Lebens sind von dieser Niederlage durchdrungen, und die schrecklichste Niederlage ist die moralische. Die Niederlage und die Geringschätzung dieser Niederlage, das ist unser Umfeld."

Weitere Artikel: Niklas Hofmann und Andrian Kreye erzählen, wie sich die Japaner nach dem Krieg mit der atomaren Katastrophe auseinandersetzten. Johannes Boie meldet, dass Gudrun Pausewangs apokalyptisches (und moralinsaures) Jugendbuch "Die Wolke" von 1987 wieder auf der Bestsellerliste steht. Gustav Seibt fragt in der "Zwischenzeit": "Wie spürt man heutzutage eigentlich Goethe-Zitate auf?" (Natürlich mit Google.) Vorabgedruckt wird ein Auszug aus den Lebenserinnerungen des ehemaligen Bayerischen Kultusministers Hans Maier, "Böse Jahre, Gute Jahre" (oder BJGJ?) Christian Wernicke war dabei als die Bürger von Selma, Alabama, eines Siegs der Bürgerrechtsbewegung vor 46 Jahren gedachten.

Besprochen werden die Ausstellung "Egon Schiele - Selbstporträts und Porträts" im Wiener Belvedere und Michael Thalheimers Inszenierung von Schillers "Maria Stuart" in Frankfurt.

Und hier wieder eine schöne, kulturell relevante und aktuelle Bilderstrecke auf den Kulturseiten von sueddeutsche.de. Ein Glück, dass die SZ das Kopftuch nur bei muslimischen Frauen verficht!


FAZ, 15.03.2011

Eine Advokatin der Leitkultur sei Monika Maron, sagt Patrick Bahners in einer giftigen Antwort auf die Schriftstellerin, die im Spiegel geschrieben hatte, sie wolle mit dem Koran nicht mehr behelligt werden als mit der Bibel. Dabei betont Bahners, dass die Muslime gar keine Sonderrechte verlangten: "Muslimische Metzger beantragen Genehmigungen zum Schächten wie ihre jüdischen Berufskollegen, und der Schüler, dem sein Berliner Gymnasium das Beten gerichtlich verbieten ließ, hatte einfach auf dem Schulhof seine Jacke ausgebreitet, wie ein katholischer Mitschüler die Pause für ein Rosenkranzgebet nutzen mag." (Meint Bahners den Schüler, der seine Schule verklagt hatte, weil er nicht ostentativ im Gang beten durfte und dem dann ein eigener Gebetsraum zur Verfügung gestellt werden musste? Pardon: das wäre ein Sonderrecht gewesen und ist genau deshalb vom OVG Berlin gekippt worden.)

Weitere Artikel: Aus Anlass des Leipziger Buchmessenschwerpunkts schreibt Michael Martens über entdeckenswerte serbische Literatur. Der Umwelt- und Technikhistoriker Joachim Radkau geht der Frage nach, warum es in Japan keine konzertierte Anti-Atomkraftbewegung gibt und vermutet, dass es nicht zuletzt an fehlender Krebsangst liegt. An den psychischen Schock, den Tschernobyl für die Gemüter bedeutete, fühlt sich Reinhard Wandtner durch die Vorfälle von Fukushima erinnert. Einen Überblick über japanisches Katastrophenfilm-Kino gibt Rüdiger Suchsland. In einer Erwiderung auf Frank Riegers Erwiderung auf seine linksliberal begründete Verteidigung der Vorratsdatenspeicherung plädiert der Jurist Christoph Möllers entschieden fürs "Feingedrechselte" der normativen Argumentation. 

Besprochen werden die für Jan Brachmanns Begriffe von Graham Vick (trotz heftigster Buhs) schlüssig inszenierter und von Donald Runnicles großartig dirigierter "Tristan" an der deutschen Oper, Nuran David Calis' Stuttgarter "Danton"-Inszenierung, die "Heinrich Kley"-Ausstellung in der Münchner Villa Stuck, und Bücher, darunter Justyna Polanskas Putzfrauenbericht "Unter deutschen Betten" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).