Heute in den Feuilletons

Eine Ecke für den shiny junk

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.05.2011. "Ich bleibe dabei", ruft Bernard-Henri Levy in seinem Blog und besteht auf der Unschuldsvermutung im Fall Dominique Strauss-Kahn. Eine Website für Michael Althen wird eröffnet - mit vielen seiner Texte über Kino. Die taz erzählt vom Zauber des Aufbruchs in Damaskus. Ist der Gesundheitswahn eine Sucht? Die NZZ befürchtet es fast und verteidigt den Alkohol gegen die Reinheitsapostel. Die Molekularküche ist für die Gastronomie, was der Kubismus für die Malerei war, befindet das Smithsonian Magazine. In der SZ warnt der französische Internetaktivist Jeremie Zimmerman vor der gerade in Paris tagenden internationalen Copyrigthmafia. Und die FAZ unterhält sich mit der Biennale-Kuratorin Bice Curiger.

TAZ, 25.05.2011

Vom Zauber des Aufbruchs erzählt Paula Shahr in einer Mail aus Damaskus und von den Abenden, die sie im mittlerweile aber auch geschlossenen Haus der Poeten erlebte: "Ein US-amerikanischer Arabistik-Doktorand redet über den Einfluss der USA im Irak und bezeichnet es als das 'vertane Babylon'. Eine zwanzigjährige Syrerin, die sich wie Marilyn Monroe gestylt hat, singt über den Orgasmus, und ein irakischer Flüchtling sagt immer wieder: 'Wo sind wir wegen der Religion bloß hingekommen. Religion ist Opium, Religion entmachtet das Individuum.'"

Weiteres: Eva Behrendt rekapituliert die Ausstellungen und Diskussionen zum Thema "Frauen im Theater", die das Berliner Theatertreffen nach sich zog. Rudolf Walther besucht die Ausstellung über den medialen Krieg "Serious Games" in Darmstadt.

Auf den vorderen Seiten nimmt Ilija Trojanow einige Absurditäten unserer Zeit in den Blick, zum Beispiel die Priorität der Duty-Free-Shops an Flughäfen, denen sich inzwischen alles andere unterordnen muss. Philipp Gessler besucht in London die 85-jährige Cellistin Anita Lasker-Wallfisch, eine der letzten Überlebenden des Frauenorchesters von Auschwitz.

Und Tom.

Aus den Blogs, 25.05.2011

Vor zwei Wochen ist Michael Althen gestorben. Nun entsteht eine Website mit all seinen Texten - vieles steht schon online. Zwei Tage nach dem 11. September 2001 schrieb er: "Die Fernseher liefen. Die Türme standen noch in Flammen. Jedes Wort war zuviel. Aber man konnte in den Augen derer, die ahnungslos hinzukamen, ablesen, was in ihnen vorging. Für Momente spiegelte ihr Blick die schwache Überzeugung, nur einen Spielfilm zu sehen, den verzweifelten Versuch, die Bilder durch jene Brille zu sehen, mit der wir üblicherweise auf Hollywood blicken..."

"J'insiste", ruft der viel geschmähte Bernard-Henri Levy in seinem Blog La regle du jeu (englisch in The Daily Beast) und stellt sich weiterhin vor den noch mehr geschmähten Dominique Strauss-Kahn: "Ich bleibe dabei, dass man ein Tribunal der öffentlichen Meinung gegen Strauss-Kahn errichtet hat, der noch als unschuldig anzusehen ist, und dass dieses Tribunal sich weder um Indizien, noch Beweise, noch widersprüchliche Zeugenaussagen schert. Und ich bleibe dabei, dass dieses Tribunal zu laut, zu spektakulär, zu mächtig ist um nicht im gegebenen Moment einen schrecklichen Einfluss auf das wahre Gericht auszuüben."

FR, 25.05.2011

Bernhard Bartsch beobachtet den Pianisten Lang Lang bei einem PR-Termin. Besprochen werden eine Ausstellung mit Architekturfotografie im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt, ein gelungenes Konzert von "13 & God" und ein nicht so gelungenes Konzert des Pianisten David Fray, beide in Frankfurt, und Bücher, darunter Wolfgang Büschers Reportageband "Hartland" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 25.05.2011

Joachim Güntner schwant, dass der Gesundheitswahn der Trinkfreude bald ein Ende setzen dürfte: "Wahrscheinlich wird es Bier, Wein und Schnaps so ergehen wie den Zigaretten: Der Konsum wäre dann nur noch an wenigen Orten erlaubt, und die Etiketten der Genussgifte lauteten etwa: 'Chianti 2015. Vorsicht: Ausgiebiger Verzehr von Wein kann zu Leberzirrhose und frühem Ableben führen.' Kommt es dahin, dass endlich nicht nur die Massenware, sondern selbst der 1999er Chateau Margaux Premier Grand Cru classe derlei Warnungen trägt, so ist es auch mit dem klassenbewussten Saufen vorbei. Noch kann sich ja der Weintrinker mit exquisitem Geschmack und entsprechendem Geldbeutel in dem Selbstbewusstsein sonnen, seine kultivierte Passion für einen exzellenten Roten habe nichts gemein mit den Tafelweinfreuden der suchtgefährdeten Stände."

Weiteres: Pietro De Marchi gratuliert dem Tessiner Lyriker Giorgio Orelli zum neunzigsten. Besprochen werden eine Ausstellung des Baukünstlers James Stirling in der Tate Britain, Esther Kinskys Roman "Banatsko" und Bettina Stangneths Studie "Eichmann vor Jerusalem" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Berliner Zeitung, 25.05.2011

Nikolaus Bernau hält viel von der Idee, das Berliner Museum für Islamische Kunst nicht wie vorgesehen ins Pergamonmuseum, sondern ins Humboldt-Forum zu verlegen. Das würde nicht nur eine Menge Geld sparen, sondern auch die absurde museale Trennung zwischen europäischer und außereuropäischer Kultur aufheben. Dazu ein Beispiel: "Im Ethnologischen Museum in Dahlem etwa hört die Geschichte Mittel- und Südamerikas mit der Eroberung durch Spanier und Portugiesen auf. Die sechshundert Jahre kultureller Entwicklung, die seit der 'Entdeckung' durch Kolumbus 1492 kulturell stattfanden, werden weitgehend ausgeblendet, um bloß nicht die Konstruktion einer in sich geschlossenen, ethnisch getrennten Kulturentwicklung in Gefahr zu bringen. Brasiliens Barock, Mexikos Klassische Moderne, der Tango oder die Salsa und ihre europäischen Töchter - Fehlanzeige."

Welt, 25.05.2011

Dankwart Guratzsch fürchtet um den Bestand zahlreicher Denkmäler in den Neuen Ländern. Marc Reichwein erinnert an eine Zeit, da das Wort "Athen" nicht Synonym für Verschuldung und Schlamperei, sondern für die höchsten Ideen der Bildung war. Heimo Schwilk sucht den Wutbürger von Stuttgart über Tripolis bis nach Madrid. Laura Ewert porträtiert den Popsänger Nick Carter, der als Teil der Boygroup Backstreet Boys von Millionen Mädchen angehimmelt wurde und nun ganz allein durch traurige Provinzhallen touren muss. Alan Posener macht in seiner Kolumne "J'accuse" auf eine geradezu talibanöse Frauenfeindlichkeit der frühen Rockheroen von Bob Dylan bis Jimi Hendrix aufmerksam. Und Hannes Stein verabschiedet die Oprah-Winfrey-Show.

Besprochen werden Glucks Oper "Telemaco" in Schwetzingen, Jörn Arnekes Oper "Kryos" in Bremen und eine Ausstellung der wunderbaren Zeichnungen Watteaus in London.

Weitere Medien, 25.05.2011

(via 3quarksdaily) Die Molekularküche ist für die Kochkunst, was der Kubismus für die Malerei war, notiert Jerry Adler im Smithsonian Magazine. Er war dabei, als Nathan Myhrvold, ein amerikanischer Ferran Adria mit Abschlüssen in mathematischer Physik und Geophysik und einer florierende Technologiefirma im Rücken, in New York sein Kochbuch vorstellte. Das schöne an den Rezepten ist, dass man sie nicht einfach nachkochen kann, sondern große Erfindungsgabe braucht, wie Adler bei dem Versuch feststellt, Nudeln mit Tomatensoße zu kochen: "Right off the bat, though, I faced my limitations as a home cook. Lacking a centrifuge to produce the colorless tomato-flavored liquid the recipe demands, I had to rely on the relatively crude technique of vacuum filtration. Not that I had a machine for that either, but I managed to improvise one with a medical suction device and a coffee filter, which produced, at the rate of about three droplets a minute, a small quantity of slightly cloudy, rose-colored liquid." (Hier noch ein Blogeintrag im New Yorker, der auf mehrere Artikel zu Myhrvold verlinkt.)

(via bookslut) In Atlantic erzählt Paul Theroux im Interview von seinem neuen Buch "The Tao of Travel", einer Anthologie mit Passagen aus seinen Lieblingsreisebüchern. Das liest sich ein bisschen wie ein Blog, meint Interviewer Rolf Potts. Theroux zieht die Augenbraue hoch: "You could say blog-like, but I think 'blog-like' is a disparaging term. I loathe blogs when I look at them. Blogs look to me illiterate, they look hasty, like someone babbling. To me writing is a considered act. It's something which is a great labor of thought and consideration. A blog doesn't seem to have any literary merit at all. It's a chatty account of things that have happened to that particular person."

In der Kirkus Review bespricht Michael Schaub Alina Bronskys Roman "Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche", der gerade auf Englisch erschienen ist. Besonders die Mutter hat es ihm angetan: "Rosa is cruel, impatient, angry and, quite possibly, insane. As a mother, she almost makes Joan Crawford look like June Cleaver."

SZ, 25.05.2011

Alex Rühle unterhält sich mit dem französischen Netzaktivisten Jeremie Zimmermann von der Organisation La Quadrature du Net, der vor der Unterzeichnung des Acta-Abkommens am Rande der gerade in Paris stattfindenden G8-Konferenz warnt: "Durch Acta wird mit staatlicher Zustimmung aus den Internetfirmen eine private Urheberrechts-Polizei und -Justiz. Wir sind wirklich gerade an einem kritischen Moment, es besteht die Gefahr, dass das Internet fundamental seinen Charakter verändert - der Zugang für alle ist in Gefahr. Sarkozy tönt ja seit Monaten, er werde für ein 'zivilisiertes Internet' kämpfen. Was das bedeutet, sieht man ja seit zwei Jahren."

Weitere Artikel: Gustav Seibt kommentiert den Anschlag auf die Berliner S-Bahn, der gravierende Konsequenzen hatte, und liest das Bekennerschreiben, das sich auf den Unfall von Fukushima bezieht: "Die Logik des Terrors aber besteht darin, dass man den Ausnahmezustand, auf den man sich beruft, eigenmächtig herstellt." Thomas Steinfeld begutachtet die konservativ verbrämte Investorenarchitektur Hans Kollhoffs und anderer Adepten des Neohistorismus kritisch, will ihr aber aber auch keinen emphatischen Begriff der Moderne entgegenhalten. Klaus Brill verfolgte eine von der Rosa-Luxemburg-Stiftung mitveranstaltete "Internationale Dorfkonferenz" in Berlin. Egbert Tholl meldet, dass der Intendant Kasper Holten die Oper Kopenhagen verlässt. Christine Dössel schreibt zum Tod des Schauspielers Fritz Schediwy.

Besprochen werden eine Ausstellung über die Entstehung Brasilias in der Kunsthalle Kiel und Bücher, darunter Douglas Couplands Biografie über Marshall McLuhan (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 25.05.2011

Mit der Direktorin der diesjährigen Biennale in Venedig Bice Curiger unterhält sich Julia Voss über aktuelle Tendenzen der Kunst - in ästhetischer und auch in popkultureller Hinsicht. Curiger plädiert für historisches Bewusstsein: "Heute haben die Künstler die Rolle von Rockstars übernommen. Lady Gaga ist für Vierzehnjährige. Erwachsene finden offensichtlich Künstler spannender. Daher muss man die Kunst jetzt vor einer gewissen Vulgarität beschützen..., indem man versucht, die Ernsthaftigkeit beizubehalten, ohne die Ideale der achtziger Jahre zu verraten und Elitismus zu predigen. Es wird in Zukunft sicher einige Weichen geben, die man stellen muss. Vielleicht teilt sich die Kunstwelt, und es gibt eine eigene Ecke für den 'shiny junk'."

Weitere Artikel: Wie ein Würfel von Sol Le Witt, der eigentlich Zürich als Skulptur schmücken sollte, nach 25 Jahren im Provinzstädtchen Uster seine Heimstatt fand, schildert Jürg Altwegg. Eine langsame Normalisierung des E-Book-Marktes in Deutschland, keine Explosion wie in den USA sagt Felicitas von Lovenberg voraus. Stephan Sahm erklärt, warum die nun beschlossene Erlaubnis zur ärztlichen Suizidhilfe, wie man es dreht und wendet, ethisch nicht zu rechtfertigen ist. Auf der Medienseite stellt Joseph Croitoru den in Misrata beheimateten Anti-Gaddafi Sender "Freies Libyen" vor. Auf der Geisteswissenschaften-Seite analysiert Hans-Ulrich Gumbrecht den "Stil des FC Barcelona".

Die DVD-Seite ist eine Hommage an Michael Althen: Seine Freunde unter den Filmemachern empfehlen John Flynns "The Outfit" (Dominik Graf: "einer jener geradezu kristallinen, erwachsenen Gangsterfilme der amerikanischen Siebziger") und Jacques Tourneurs "Stars In My Crown" (Tom Tykwer: "Anstelle von Michael soll ich nun hier darüber schreiben. Ich weiß nicht, ob das wirklich geht. Jedes Wort, das ich schreibe, lässt mich seine Worte vermissen.") und Blake Edwards "Wild Rovers (Christian Petzold: "Am Donnerstag wird Michael beerdigt. Dass er nicht mehr da ist - es ist nicht zu fassen.")

Besprochen werden Lily Sykes' Uraufführung von Lothar Kittsteins neuem Stück "Die Bürgschaft" bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen, Joe Wrights Thriller "Wer ist Hanna?" und Bücher, darunter Jasmin Meerhoffs Kulturgeschichte der Bedienungsanleitung "Read Me!" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).