Heute in den Feuilletons

Die Aura des Artisten

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.06.2011. Nachdem der Stern herausgefunden hat, dass Hilmar Hoffmann, Kurt Rebmann und Iring Fetscher jugendliche Mitglieder der NSDAP waren, lässt sich die Mär von den "Karteileichen" nicht mehr aufrechterhalten, meint die Welt. Spiegel online sucht die syrische Bloggerin Amina Abdallah Arraf und findet sie nicht. Der Freitag sah Marx erblassen. Die NZZ unterhält sich mit Oksana Sabuschko. Die Zeit beklagt die schwachen deutschen Nerven. Alle trauern um Jorge Semprun.

Welt, 09.06.2011

Malte Herwig hat für den Stern herausgefunden, dass auch der frühere Chef des Goethe-Instituts Hilmar Hoffmann, der einstige Generalbundesanwalt Kurt Rebmann und der Politologe Iring Fetscher als Jugendliche Mitglied der NSDAP wurden. Nun, schreibt Sven Felix Kellerhoff, könne man endlich mit der Mär aufräumen, linke Intellektuelle (Martin Broszat oder Walter Jens) sollten mit der Bekanntmachung ihrer NSDAP-Mitgliedschaft diskreditiert werden: "Deshalb wäre es gut, wenn die nun vom Stern erneut angestoßene Debatte endlich zu zwei Erkenntnissen führen würde: Man konnte ohne eigene Unterschrift nie Mitglied der NSDAP werden. Und die Mitgliedschaft allein, zumal bei Jugendlichen, muss später nicht immer in einem Vorwurf münden, sofern man damit offen umgeht."

In seinem Nachruf auf den Schriftsteller, Buchenwald-Überlebenden Franco-Gegner und vom Glauben abgefallenen Kommunisten Jorge Semprun schreibt Richard Kämmerlings: "Jahrhundertwerk, Jahrhundertleben, das sagt sich so. Vielleicht trifft das nur für diejenigen Autoren zu, die sich wenigstens einmal in ihrer Zeit vollständig verirrt haben."

Außerdem: Berthold Seewald berichtet, was die Griechen laut einer Goethe-Umfrage über die Deutschen denken. Besprochen werden Kirill Petrenkos Inszenierung von "Tristan und Isolde" in Lyon und die Comic-Verfilmung "X-Men".

Weitere Medien, 09.06.2011

Kaum war die Meldung rum, dass die Regimegegnerin und Bloggerin Amina Abdallah Arraf in Syrien entführt worden ist, stellt sich die Frage, ob es die Frau überhaupt gibt, berichtet Frank Patalong bei Spiegel online. Die NYT recherchierte und stellte fest: Niemand hat sie je gesehen oder persönlich mit ihr gesprochen. Aber ist das wichtig, fragt sich Patalong? "Man kann Arraf also als Symbol verstehen, als Persona des syrischen Widerstands im Sinne des Wortes - völlig unabhängig davon, ob es sie wirklich gibt, wer sie vorgibt zu sein oder ob sie jemand ganz anderes ist. Amina Arraf mag zurzeit in einem syrischen Gefängnis sitzen, wirklich wissen können wir das nicht. Was wir wissen: Bevor sie verhaftet wurde (oder auch nicht), gab es keine international beachteten Facebook- und Web-Petitionsseiten zur Freilassung syrischer Oppositioneller. Jetzt gibt es die. Manchmal braucht es Symbolfiguren."
Stichwörter: Syrien, Rums

Tagesspiegel, 09.06.2011

Der Künstler, der Politiker, der Häftling, der Kämpfer, der Emigrant - Jorge Semprun war ein Mann mit vielen Identitäten, schreibt Wilfried F. Schoeller in seinem Nachruf auf Semprun: "Von allen Wirren der Politik, von den Religionen des Totschlags, der Willkür des Terrorismus nicht zu unterwerfen, rettete dieser hoch gebildete Schriftsteller die Aura des Artisten. Diese Kunst, die auf einer weltläufigen Distanz der Kennerschaft, des intellektuellen Vergnügens, auf sprachlicher Kraft und Grazie beruht, erhält auch die Gewissheit, dass es moralische Würde gibt."

Außerdem: Elisa Simantke berichtet über einen Auftritt des Globalisierungskritikers Noam Chomsky in Köln.

Freitag, 09.06.2011

Zwei große Veranstaltungen zu Marx besuchte Ekkehard Knörer vor gut zwei Wochen. Und was kam dabei heraus? "Theoretisch gepimpte Parteipolitik" bei der Marx-is-Muss-Konferenz mit Slavoj Zizek und ermüdende Theoriediskurse bei der Re-thinking-Marx-Konferenz an der Humboldt Uni: "Von Etienne Balibar kam als Maximum der Referenz ans aktuelle Geschehen immerhin ein freundliches Nicken in Richtung spanische Revolution. Ansonsten philosophisches business as ususal. Am Schlusstag waren die Reihen sehr deutlich gelichtet. Und Marx selbst? Der schien zunehmend blass um die Nase."

Wolfgang Michal fragt sich, warum die Urheber in der Diskussion um Digitalisierung und geistiges Eigentum so still sind: "Gewohnt, an den Rockschößen der Verwerter zu hängen (und von den Netz-Nutzern nur lausige Pennys zu erlösen), verdrängen sie, dass ihre Rechte durch BuyOut-Verträge und Allgemeine Geschäftsbedingungen (AGB) längst obsolet geworden sind."

Weitere Artikel: Leiko Ikemura erklärt im Interview, warum sie eine Ausstellung zu Fukushima in den Berliner Kunst Werken kuratiert hat. Georg Seeßlen liest neue Bücher über Berlusconi, darunter Giuliana Parottos "Silvio Berlusconi. Der doppelte Körper des Politikers". Ekkehard Knörer schreibt den Nachruf auf Jorge Semprun.

FR, 09.06.2011

Elfriede Jelineks "Winterreise" ist ein sehr gutes Stück, findet Stefan Keim. Und so hat sie den Mühlheimer Dramatikerpreis - jetzt zum vierten Mal - wohl verdient (nominiert war sie 15 Mal). Ein bisschen dröge wird das aber doch. Dazu kommt: "Andere Autoren werden oft aussortiert, wenn ihren Texten keine gelungene Aufführung zur Seite steht. Wie es diesmal Felicia Zeller erging, deren sprachverliebte, politisch hinreißend inkorrekte Satire 'Gespräche mit Astronauten' unter Wert abgewatscht wurde. Vor Jelinek hingegen neigten sich die Juroren in Ehrfurcht."

Außerdem: Christian Thomas schreibt den Nachruf auf Jorge Semprun.

Besprochen werden Nick Baker-Monteys' Filmmärchen "Der Mann, der über Autos sprang" mit Robert Stadlober, Shana Festes Film "Country Strong" mit Gwyneth Paltrow, Richard Wagners Oper "Tristan und Isolde" unter Kirill Petrenko an der Oper Lyon, Thorsten Cölles Inszenierung von Mauricio Kagels Hörspiel "Der Tribun" mit John Cages Stück "Credo In Us" als Prolog am Berliner Schillertheater und zwei Krimis von Don Winslow und Trevanian (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 09.06.2011

(via Tales Of Endearment) Oh guckt, man kann die Edition Suhrkamp auch tragen!

(Via Rivva) Heise.de brachte schon vorgestern folgende Meldung: "Facebook aktiviert derzeit die automatische Gesichtserkennung auf Fotos in Benutzerprofilen. Auf diese Weise versucht der Dienst bei hochgeladenen Bildern die Namen der darauf abgebildeten Personen zu erraten. Wie bei Facebook üblich, wird dieses Feature freigeschaltet, ohne die Benutzer zu benachrichtigen oder zu fragen." Bei Lifehacker erklärt Whitson Gordon, wie man die Erkennung ausschaltet.

TAZ, 09.06.2011

Ellen Spielmann schreibt den Nachruf auf Jorge Semprun. Reiner Wandler skizziert kurz dessen Auseinandersetzung mit Faschismus und Kommunismus. Stefan Franzen gratuliert Joao Gilberto zum Achtzigsten. Besprochen wird Szabolcs Hajdus Film "Bibliotheque Pascal".

Und Tom.

NZZ, 09.06.2011

Achim Engelberg trifft in Kiew die Schriftstellerin Oksana Sabuschko. Er unterhält sich mit ihr übre die blutige Vergangenheit der Urkaine, die gescheiterte orange Revolution und natürlich ihren Roman "Museum der vergessenen Geheimnisse": "Nackt unter Wölfen erscheint im Roman die Fernsehjournalistin Daryna, die erstaunlich viel von ihrer Erfinderin hat und mit Zeitströmungen und deren Prägungen hart ins Gericht geht. Ihre Weggefährten hörten in den neunziger Jahren auf, 'ernsthaft über die Dinge zu sprechen, die man tat, denn außer Kohle interessierte niemanden mehr etwas ernsthaft'."

Weiteres: Kersten Knipp schreibt den Nachruf auf den großen Jorge Semprun. Bettina Altmühl berichtet, dass die Filmproduzenten Fox, Warner Bros., Sony und Universal Pictures zum Entsetzen der Kinobesitzer ihre Filme künftig schon 60 Tage nach der Kinopremiere übers Internet als Video on demand anbieten wollen. Sieglinde Geisel preist das Aufbauhaus am Berliner Moritzplatz als neues "Zentrum für Kreative" an, dessen Investor durchaus "auch ein kulturelles Engagement" verfolge.

Besprochen werden Danis Tanovics Balkan-Komödie "Cirkus Columbia", das Drama "Mord auf dem Säntis" als Kammeroper in Konstanz und Gregor Sanders Erzählungen "Winterfisch".

SZ, 09.06.2011

Franziska Augstein schreibt zum Tod des Schriftstellers und Intellektuellen Jorge Semprun: "Wenige haben so eloquent für Europa und die EU gesprochen wie Semprun. Er vermochte einzulösen, was Jacques Delors sich gewünscht hat: Wenn Semprun über Europa sprach, hat er der EU eine Seele gegeben."

Das Getty Institute kauft das Archiv des legendären Kunst-Kurators Harald Szeemann - Thomas Steinfeld freilich ist sich gar nicht sicher, ob das Archiv überhaupt erhaltenswert ist. Willi Winkler informiert über einen gerade vom Simon Wiesenthal Center angekauften Brief Adolf Hitlers aus dem Jahr 1919, indem er im pseudo-wissenschaftlichen Ton bereits die Juden als das Unglück der Deutschen identifiziert. Jutta Person war dabei, als Norbert Lammert in Berlin den 100. Bibliothekentag eröffnete. Den Wechsel von Christian Thielemann und der Dresdener Staatskapelle zu den Salzburger Osterfestspielen vermeldet Reinhard Brembeck. Robert Probst gratuliert dem Historiker Wolfgang Benz zum Siebzigsten.

Besprochen werden eine von Günter Krämer inszenierte und Philippe Jordan dirigierte "Götterdämmerung"-Aufführung in Paris, ein Konzert mit Andras Schiff im Münchner Herkulessaal, die über Berlin verteilte "Based in Berlin"-Ausstellung (die Laura Weissmüller für durchaus exemplarisch hält, und zwar fürs kurzfristige Denken in der Berliner Kulturpolitik), neu anlaufende Filme, darunter die Doku "Hana, Dul, Sel" (mehr) über Fußballerinnen in Nordkorea und Mike Mills' "Beginners" (mehr; dazu auch ein Interview mit Hauptdarsteller Ewan McGregor) und Bücher, darunter Margriet de Moors neuer Roman "Der Maler und das Mädchen" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 09.06.2011

Die ganze erste Seite des Feuilletons ist Jorge Semprun gewidmet.

Paul Ingendaay würdigt ihn als einen Mann ohne Groll: "Wie anders er war, hat Jorge Semprun oft unter Beweis gestellt. Er hat den Deutschen die nationalsozialistische Vergangenheit auch nicht um die Ohren gehauen, als Selbstbezichtigung in Deutschland zur rhetorischen Routine gehörte; ihn hat die Vergangenheit nur insofern interessiert, als sie sich in Zukunft umschmieden ließ."

Außerdem erinnert Walter Haubrich an den Politiker Semprun, und Jürg Altwegg resümiert die französischen Reaktionen auf den Tod des auf französisch schreibenden Spaniers.

Weitere Artikel: Einigermaßen empörend findet es Andreas Platthaus, dass der deutsche Künstler Thomas Kilpper in einem zum dänischen Pavillon gehörenden Neben-Pavillon unter 33 mit den Füßen zu tretenden Menschen, die seiner Ansicht nach die Meinungsfreiheit missbrauchen, auch den Mohammed-Karikaturisten Kurt Westergaard eingereiht hat (mehr bei Monopol). Melanie Mühl vermisst unter den sechs "Deutschen Zentren der Gesundheitsforschung", die Forschungsministerin Schavan heute der Öffentlichkeit vorstellt, ein Zentrum, das sich der Volkskrankheit Depression und anderen psychischen Erkrankungen widmet. Oliver Jungen verfolgte zwei Vorträge Noam Chomskys in Köln. Hans-Jörg Rother schickt Notizen vom Jüdischen Filmfestival in Berlin und Potsdam. Auf der Medienseite fragt Jörg Buchsteiner, wer den pakistanischen Reporter Saleem Shahzad ermordet hat. Und Jörg Wittkewitz fürchtet neue Überwachungsmaßnahemen des amerikanischen Militärs im Netz.

Besprochen werden Händels Oper "Ariodante" mit Joyce DiDonato auf CD, das Ausstellungskonglomerat "Based in Berlin", das auf Weisung des großen Wowereit eine "Leistungsschau" der jüngeren Berliner Kunst versucht (und bei Niklas Maak trotz dieses "sagenhaft dämlichen Begriffs" durchaus wohlwollende Reaktionen auslöst), Mike Mills' Film "Beginners", Todd Philips' Komödien-Sequel "Hangover 2" und Bücher, darunter Antoine Volodines Roman "Mevlidos Träume" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Zeit, 09.06.2011

Auf der Biennale in Venedig hat Hanno Rauterberg eigentlich nur ein Pavillon richtig interessiert: der italienische. Den hält er er in seiner ganzen Plunderhaftigkeit für eine gelungene Provokation des Berlusconi-Freund Vittorio Sgarbi, der hier seinen Abscheu vor der Moderne und der Kunstmafia ausstelle: "Hier wird für Biennale-tauglich erklärt, was sonst allenfalls die Schwelle zum Postershop überwindet. Und so ist die allgemeine Irritation über den italienischen Pavillon kaum verwunderlich; andererseits aber höchst seltsam, wird doch sonst von vielen Gegenwartskünstlern noch der letzte Trash und Kitsch und jeder erdenkliche Alltagsbildermüll zur Kunst erhoben und gern als camp gefeiert. Warum dann nicht hier?"

Letzte Woche zeigte Jens Bisky in der SZ, wie die Grünen in Berlin die Angst vor der Metropole pflegen, heute schlägt Jens Jessen in dieselbe Kerbe: "Das krautige Durcheinander, das in jeder Großstadt von selbst entsteht, das Kioske wachsen und sterben, deutsche Arbeiterkieze in orientalische Basare verwandeln, bürgerliche Viertel versteppen, von intellektuellen Neusiedlern einnehmen und schließlich von Investoren wiederaufforsten lässt, das Getöse der Touristen und die schrille Farbigkeit der Einwanderermilieus - es ist offenbar zu viel für die schwachen deutschen Nerven."

Außerdem informiert Jonathan Fischer: Die Tanzmusik des Sommers heißt Cumbia, ist in Lateinamerika super angesagt und entstammt der bäuerlichen Tanzmusik Kolumbiens (hier eine Kostprobe). Christoph Dieckmann porträtiert den Intendanten des Rudolstädter Theaters Steffen Mensching. Besprochen werden Peter Konwitschnys Janacek-Inszenierung "Aus einem Totenhaus" in Zürich und Bücher, darunter Leon Bloys "Blutschweiß", das Clemens Setz gegen jede Absicht begeistert hat (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).