Heute in den Feuilletons

Erlösung vom Fluch des ewigen Besserwerdens

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.06.2011. In der FR spricht die mexikanische Journalistin Anabel Hernandez über den Drogenkrieg in ihrem Land. In den amerikanischen Blogs geht die von Jeff Jarvis angestoßene Debatte um die Zukunft des Artikels als journalistischer Form weiter. Die FAZ beobachtet  Klaus Lemke bei Dreharbeiten in Berlin. Die SZ stellt den 94-jährigen spanischen Autor Jose Luis Sampedro vor, der jetzt ein Vorwort zu Stephane Hessels Flugblatt "Empört Euch" geschrieben hat. Und der Guardian erklärt sich zur digital first organisation.

Welt, 17.06.2011

Filip Gaspar erinnert daran, dass der einst berühmte Regisseur Emir Kusturica stets noch existiert, inzwischen als eine Art Ehrenserbe. Zum orthodoxen Glauben ist er auch konvertiert. Nun will er für eine Verfilmung von Ivo Andrics Roman "Die Brücke über die Drina" eine veritable Stadt aufbauen: "Um ein besonders authentisches Bild Visegrads unter Osmanischer Herrschaft zu erzeugen, sollen fünfzig altmodische Häuser nahe der Brücke errichtet werden. Als Material dient Gestein von verlassenen Häusern aus der Herzegowina. Die neuerrichtete Stadt in der Stadt wird Straßen, Tore und Türme aus Stein beinhalten und nebenbei auch ein Kino und ein Theater. Letztere dürften aber wohl erst später das Stadtbild schmücken, nachdem Kusturica die Verfilmung von 'Die Brücke über die Drina' abgeschlossen haben wird."

Weitere Artikel: Jan Küveler feiert die neue CD des düsteren Folk-Genies Bon Iver (Musik). Kolja Reichert berichtet recht abgestoßen über die klebrige Selbstinszenierung des Pink-Floyd-Veteranen Roger Waters in Berlin. Michael Stürmer wirft einen kulturhistorischen Blick auf das arg zerzauste Griechenland. Paul Badde freut sich auf eine Doppelausstellung der Raffael-Madonna di Folignio und der Sixtinischen Madonna in Dresden, die dem Papst persönlich zu verdanken ist. Marc Reichwein wünscht sich in seiner Feuilleton-Kolumne häufigere Besuche von Feuilletonisten in Buchhandlungen. Gemeldet wird, dass der Eichborn Verlag Insolvenz angemeldet hat (aber vorerst weiterarbeitet) und dass Anti-Sarrazin Patrick Bahners seinen Posten als Feuilletonchef der FAZ aufgibt und als zweiter Kulturkorrespondent neben Jordan Mejias nach New York geht, Nachfolger Bahners' wird der von der Welt als "linksliberal" eingeschätzte Nils Minkmar.

Besprochen wird eine Baden-Badener "Salome"-Inszenierung Nikolaus Lehnhoffs.

Weitere Medien, 17.06.2011

Folgende aufregende Meldung kommt vom Guardian: "Guardian News & Media (GNM), publisher of the Guardian, has revealed plans to become a digital-first organisation, placing open journalism on the web at the heart of its strategy."

Viele Musikvideos darf man auf Youtube-Deutschland nicht sehen. Das stört inzwischen sogar die Chefs der Musikindustrie, berichten Ole Reißmann und Konrad Lischka in einem interessanten Hintergrundtext bei Spiegel Online. Schuld an der Blockade ist der deutsche Rechteverwahrer Gema: "Der Verdacht der Platten-Manager: Die Gema sei noch nicht im Digitalzeitalter angekommen."

TAZ, 17.06.2011

In einem Interview bestreitet Gregor Gysi, dass ein Beschluss der PDS, keine Ein-Staaten-Lösung für Israel mehr zu fordern, ein Denkverbot sei. "Aber wer das hierzulande fordert, ist ahistorisch. Die Juden waren 2.000 Jahre lang eine Minderheit in verschiedenen Ländern, die immer wieder verfolgt wurde ... In einem jüdisch-palästinensischen Staat wären die Juden wieder eine Minderheit. Deshalb darf ein Palästinenser einen binationalen Staat fordern - wir dürfen das nicht. Wir sind gebunden durch unsere Geschichte. Auch jeder deutsche Linke muss begreifen: Deutsche Geschichte bindet nicht nur Konservative, sondern auch ihn."

Steffen Grimberg unterhält sich mit Cem Özdemir darüber, was die Grünen für das ZDF wollen, an dessen Intendanten-Wahl Özdemir heute teilnimmt: Transparenz, Frauen- und Nachwuchsförderung.

Besprochen werden eine Ausstellung von Bahman Jalali, Träger des Spectrum-Preises für Fotografie, zu Geschichte und Gegenwart des Iran im Sprengel Museum Hannover, das Album "Todesmelodien" des Hamburger Musikers Andreas Dorau und das Album "Intents & Purposes" von The Bill Dixon Orchestra.

Und Tom.

Aus den Blogs, 17.06.2011

(Via Medialdigital) In den deutschen Medien wurde die von Jeff Jarvis angestoßene Debatte um die Zukunft des Artikels als journalistischer Form noch nicht wirklich wahrgenommen. Einen interessanten Überblick gibt hierzu Steve Buttry in seinem Blog und schließt: "Perhaps the news article and the text narrative will survive in some form in journalism. But if they fade into journalism's history, storytelling and journalism can still survive and thrive."

Die Gründer der Nachrichtenorganisation Rockville Central haben ihre Artikel von ihrer Webseite ganz zu Facebook geschoben, erzählt Jeff Sonderman bei Poynter. Dahinter steckten folgende Überlegungen: "'Facebook is where people, by and large, have decided to go for their first-stop online community activities,' [Brad] Rourke wrote in the announcement post. 'Which begs the question: Why have a separate site, and try to drag people away from Facebook? Why not go where they are?' Rockville Central uses Faceook?s notes application to post news stories, which resemble blog posts with headlines, body text and comments. The site also uses simple wall posts and status updates to post short items and to share links to other news and photos. The goal is engagement and conversation, not just publication."

Gestern bezweifelte Iris Radisch in der Zeit, dass es wirklich ein Ausdruck von Emanzipation ist, seinen nackten Arsch in eine Playboy-Kamera zu halten. Das lässt sich noch eine Schraube weiter drehen. Sexy posing im Revolutionschic vor einer Wüstenkulisse, dazu "Run the world girls" rufen, wie Beyonce in ihrem neuen Video. "Riot porn" nennt es Laurie Penny in ihrem Blog : "In a fast-paced, soft-focus extravaganza of cultural stereotyping, Knowles leads a scantily-clad army of sexy ladies against some genericmale oppressors in an unspecificed desert location. The singer and her stocking-bloc wear a bric-a-brac of vaguely Middle-Eastern exotica, all jingly-jangly headdresses and flowing scarves and jungle cats on leashes."

FR, 17.06.2011

Im Interview mit Klaus Ehringfeld spricht die mexikanische Journalistin Anabel Hernandez über den Drogenkrieg, der mit seinen 40.000 Toten die Menschen in die Verzweiflung treibe, ohne dass Politik oder Gesellschaft Lösungen finden. Recherchen zu ihrem Buch "Los Senores del Narco" brachten sie zu der Überzeugung, dass die Regierung mit dem Sinaloa-Kartell gemeinsame Sache macht. "Als ich herausfand, dass Chapo Guzman (der mythifizierte Boss des Kartells) am 19. Januar 2001 keineswegs aus dem Hochsicherheitsgefängnis Puente Grande floh, sondern dass er sich bei Ex-Präsident Vicente Fox mit 20 Millionen Dollar gewissermaßen freikaufte. Die Geschichte, dass er versteckt unter Schmutzwäsche aus dem Knast raus ist, ist reine Legende. Er marschierte in einer Polizeiuniform ungehindert in die Freiheit."

Weiteres: Jürgen Otten erklärt, was das Aldeburgh Musikfestival im pittoresken Suffolk von ähnlichen Ereignissen unterscheidet: "In Aldeburgh zeigt man nicht sich und seine Kleider. Man zeigt Interesse." Besprochen werden die Neo-Rauch-Ausstellung in Baden-Baden, neue Album des Folk-Sängers Bon Iver und Marie NDiayes neues Buch "Selbstporträt in Grün" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

NZZ, 17.06.2011

Lilian Pfaff beschreibt, wie der Architekt Eric Owen Moss mit seinen Umbauten der alten Filmstudios Culver City revitalisiert hat. Wei Zhang erzählt noch einmal die hübsche Geschichte vom Gras-Schlamm-Pferd, das die chinesischen Netizens gegen die Große Brandschutzmauer in Stellung bringen (hier das einschlägige Video). Alfred Zimmerlin hat sich in Amsterdam Stefan Herheims Inszenierung des "Eugen Onegin" angesehen. Aldo Keel erinnert an Islands Nationalhelden und Anführer der Unabhängigkeitsbewegung, Jon Sigurdsson, der vor zweihundert Jahren geboren wurde.

Auf der Musikseite stellt Björn Schaeffner das Remix-Album "Re: ECM" vor, für das Ricardo Villalobos und Max Loderbauer den Katalog des Jazzlabels ECM bearbeitet haben.

FAZ, 17.06.2011

Atemlos begleitet Thomas Thiel den Regisseur Klaus Lemke bei den Dreharbeiten zu Lemkes erstem in Berlin gedrehten Film. Ab gehts in den wilden Wedding und nach Mitte. "Jetzt tigert er in der Rosenthaler Straße herum, er fletscht die Zähne und spuckt Sätze wie Schlagzeilen aus. Er hat ein Motiv, und er will es erklären. Raus aus dem Gefängnis der Selbstinszenierung, Erlösung vom Fluch des ewigen Besserwerdens, das wolle er mit seinen Filmen, weg von der Veredelungsmechanik, die in allem steckt. "Plötzlich spürt man das Herz wieder."" Dazu ein paar Impressionen aus Lemkes großem Hamburg-Film "Rocker":



Weitere Artikel: Jürgen Todenhöfer kehrt nach Libyen an den Ort zurück, an dem vor drei Monaten sein Freund und Gastgeber Abdul Latif bei einem Raketenangriff von Gaddafis Truppen umkam, während er selbst nur knapp überlebte. Dirk Schümer beschreibt das politische und soziale Klima in Italien, das der bevorstehenden Post-Berlusconi-Phase bislang eher unsicher entgegen blickt. Im Weblog der türkischen Stadtplanerin Meltem Parlak, die darin, sagen wir mal: ästhetisch eigensinnige Stadtskulpturen ihres Landes in Wort und Bild vorstellt, erblickt Karen Krüger eine "kindlich-naiv anmutende Türkei". Katharina Teutsch hat Clemens Setz (mehr) bei dessen Lesung im Literarischen Colloquium Berlin glockenhell singen hören. Jordan Mejias wirft einen Blick in amerikanische Zeitschriften. In der gestrigen Ausgabe wurde noch viel über die unsichere Zukunft des Verlag spekuliert, heute liegt die Nachricht auf dem Tisch: Der Eichborn Verlag hat einen Insolvenzantrag gestellt, meldet Sandra Kegel.

Gemeldet wird, dass der israelische Musiker Yuval Ron ein Konzert in Istanbul abgesagt hat, weil er Drohungen von jener Organisation erhalten haben soll, die auch für die "Gaza Flotilla" verantwortlich ist. Mehr dazu in der englischsprachigen Ausgabe der türkischen Zeitung Hürriyet.

Besprochen werden das Spiderman-Musical in New York, Michael Grandages Inszenierung von "Kabale und Liebe" in Londoner Donmar House, die Düsseldorfer Ausstellung Container Architektur und Bücher, darunter die von Dan Diner herausgegebene, siebenbändige "Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur" (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 17.06.2011

Christine Dössel beobachtete die Dreharbeiten zu Ming Wongs Videokunst-Hommage an den transsexuellen Popstar Bülent Ersoy in Istanbul. Das Ergebnis kann derzeit im Haus der Kulturen der Welt in Berlin betrachtet werden. "Zum Finale am Samstag wird Ming Wong live als der junge, noch männliche Bülent auftreten - gemeinsam mit seiner aus Singapur eingeflogenen Mutter May, die hier erstmals mit ihrem Sohn arbeiten und ihm als gealterte Diva Bülent Ersoy entgegentreten wird. Und dann werden sie gemeinsam singen. 'Meine Mutter', sagt Wong, 'ist ein Karaoke-Narr. Die traut sich das.'"

Auch Spanien hat seinen Stephane Hessel, den 94-jährigen Spätrevoluzzer Jose Luis Sampedro. Sebastian Schoepp zeichnet seinen keineswegs gradlinig linken Weg vom Anhänger Francos zum Republikaner und jetzigen Vorwortschreiber der spanischen "Empört Euch!"-Ausgabe nach: "Nach dem Krieg studierte er Wirtschaftswissenschaften, wurde Hochschullehrer. Wieder schloss er sich den aus linker Sicht Bösen an, er wurde Vizedirektor der spanischen Außenhandelsbank. Das hinderte ihn nicht daran, sich mutig öffentlich von der Diktatur zu distanzieren. Nach Francos Tod half Sampedro als vom König berufener Senator bei der Abschaffung der diktatorischen Strukturen."

Weitere Artikel: Auf der ersten Feuilletonseite ein da capo für die Causa DSK, diesmal mit de Sade und französischem Feudalismus und eher amerikanischem Postkolonialismus und manchem mehr, das ganze von Ina Hartwig interpretiert: "Die Phantasie aber ist längst explodiert. Und zwar die pornografische Phantasie, die in Frankreich ein hohes Ansehen genießt, und dies gleich im doppelten Sinne: für die intellektuelle Selbstdefinition, und als Abgrenzung gegen die Prüderie." Willi Winkler kommentiert den Ankauf des Nachlasses von Timothy Leary durch die New York Public Library. Von der Bamberger Hegelwoche, bei der es um Politik und Moral ging, berichtet Matthias Waha. Gemeldet wird der Insolvenzantrag des Eichborn Verlags. Alexander Melden gratuliert dem Kammermusikort Wigmore Hall in London zum 110. Geburtstag.

Besprochen werden Stephan Puchers "Tape"-Inszenierung am Deutschen Theater, die Ausstellung "Visual Leader 2011" in den Hamburger Deichtorhallen, Maria Speths Doku "9 Leben" (mehr) und Bücher, darunter der von Philipp Meusser herausgegebene "Architekturführer Pjöngjang" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).