Heute in den Feuilletons

Zeit der Angst

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.09.2011. Fast alle Feuilletons bringen Texte zum 11. September. In der Welt beklagen  Paul Theroux und Mark Lilla, dass sich die Amerikaner seitdem aus ihrer Depression nicht lösen konnten. Marcia Pally freut sich im Tagesspiegel, dass es auch Evangelikale gibt, die sich gegen Islamophopbie wenden. Die FAZ besucht Ground Zero. In der SZ bespricht Hanns Zischler Corinna Belz' Filmporträt über Gerhard Richter. Boingboing erzählt die Geschichte des Erfinders von Ebook und Project Gutenberg, Michael Stern Hart, der im Alter von 64 Jahren gestorben ist.

Aus den Blogs, 09.09.2011

Michael Stern Hart , der Erfinder des Ebooks, ist im Alter von 64 Jahren gestorben. Mark Frauenfelder erzählt auf Boingboing seine Geschichte: "He founded Project Gutenberg, which is recognized as one of the earliest and longest-lasting online literary projects. He often told this story of how he had the idea for eBooks. He had been granted access to significant computing power at the University of Illinois at Urbana-Champaign. On July 4 1971, after being inspired by a free printed copy of the U.S. Declaration of Independence, he decided to type the text into a computer, and to transmit it to other users on the computer network. From this beginning, the digitization and distribution of literature was to be Hart's life's work, spanning over 40 years."
Stichwörter: Alter, Ebooks

FR/Berliner, 09.09.2011

Im Interview mit Peter Uehling spricht Komponist Wolfgang Rihm über das Singen im Chor und sein Requiem "Et lux", mit dem das Berliner Musikfest vor einer Woche eröffnet wurde: "Als Hauptwortbild war mir dieses 'Et lux perpetua' ('und das ewige Licht') im Sinn, ich wollte etwas komponieren, durch das ein Licht geht, ein verhaltener Schimmer. Und vielleicht ist das auch am Schluss erreicht, in diesem nicht mehr ortbaren Tongeschlecht: Ist das Dur, ist das Moll? Es ist in die Schwebe geraten, in jenes Licht, das aus diesen Texten zu mir herüberkam, 40 Jahre, nachdem ich sie gesungen habe."

Weiteres: Anke Westphal hat in Venedig mit Alexander Sokurovs "Faust" einen heißen Löwen-Anwärter gesehen, in William Friedkins "Killer-Joe" erlebte sie Hollywood-Schönling Matthew McConaughey als echten Schauspieler. Katja Lüthge freut sich über das 20-jährige Bestehen des Reprodukt-Verlags, der in Deutschland der Comic-Kunst den Weg geebnet hat. Nach einer Rede Guido Westerwelles zur auswärtigen Kulturpolitik schwant Harry Nutt ein "größeres Umsortierungstschingderassa".

Besprochen werden Christian Weises Version der "Madame Bovary" im Ballhaus Ost und ein Liszt-Konzert des Brügger Orchesters Anima Eterna.

NZZ, 09.09.2011

Die Autorin Alena Wagnerova erzählt von einem Obdachlosen, der plötzlich in ihrer Saarbrücker Wohngegend auftauchte und die Mittelschichtsidylle in Unruhe versetzte: "Er selbst beachtete uns dagegen kaum. Ruhig hockte er auf der Bank oder auf einem der Mäuerchen in der Straße oder machte ein paar Schritte um seinen Einkaufswagen, manchmal zog er seinen Regenmantel an und wieder aus, und ab und zu rauchte er eine Zigarette."

Andrea Köhler berichtet von einer Schmierkampagne, die Scientology gegen den New Yorker lanciert hat, als Reaktion auf Lawrence Wrights großen, auf Aussagen des Aussteigers Paul Haggis basierenden Artikels "Der Abtrünnige": "Wrights Text hat auf diese Weise jedenfalls neue Aufmerksamkeit gefunden - und die wütende Schmähschrift den schlechten Leumund der Kirche nur konsolidiert."

Besprochen werden eine Ausstellung über Bibliotheksarchitektur in der Münchner Pinakothek der Moderne, das Debütalbum der New Yorker Band The Drums und Simon Reynolds bisher nur auf Englisch erschienenes Buch "Retromania" über die Vergangenheitssehnsucht der Popkultur (mehr in unserer Bücherschau des Tages um 14 Uhr).

Tagesspiegel, 09.09.2011

Allen Widrigkeiten zum Trotz sieht Marcia Pally die Amerikaner nach dem 11. September auf einem guten Weg: "Weil wir so stolz sind auf unsere Freiheiten und unsere Toleranz, haben wir anscheinend Angst davor, sie durch kulturelle Verwässerung zu verlieren - und werden intolerant. Dennoch: Der nationale Aufschrei gegen Jones' Koran-Verbrennung war ohrenbetäubend. Auch diejenigen, die gegen eine Moschee am Ground Zero waren, lehnten eine Moschee nur an diesem sensiblen Ort ab, nicht woanders. Die New Evangelical Partnership for the Common Good dreht einen Film zur Bekämpfung von Islamophobie."

Welt, 09.09.2011

Zwei sehr deprimierte Texte bringt die Welt zum Jahrestag des 11. Septembers.

Nichts Gutes kam nach diesem Datum, klagt Paul Theroux auf der Meinungsseite: "Die Welt ist für Amerikaner heute höllisch und gnadenlos. Amerikaner reisen weniger und haben Angst, in irgendein muslimisches Land zu fahren. die Welt ist ein bedrohlicher Ort, gefährlich und dunkler denn je. Und der Islam ist eine häretische Subversion. Es mag melodramatisch klingen, aber die Amerikaner leben in einer Zeit der Angst."

Und Mark Lilla sieht es im Feuilleton im Grunde ähnlich: "Die Erinnerung wurde zum Narkotikum, das eine prosperierende Nation im Frieden in einen schuldengeplagten, launischen, in der Welt umhertrampelnden Riesen verwandelt hat."

Weitere Artikel: Nachgedruckt wird eine Hommage Hans-Jürgen Heinrichs' auf die Filmemacherin Ulrike Ottinger, der im Berliner Haus der Kulturen eine Retro gewidmet wird. Marc Reichwein sucht in seiner Feuilletonkolumne nach frühesten Vorbildern fürs Genre der Talkshow und findet sie im deutschen Barock. Stefan Koldehoff besucht eine wissenschaftliche Ausstellung im Amsterdamer Van Gogh-Museum, die das Erscheinen eines neuen Bestandskatalogs begleitet.

TAZ, 09.09.2011

Ulrich Gutmair resümiert die "belesene, humanistische, vorsichtige, manchmal in allgemeinen Betrachtungen zur Ambivalenz der Tätigkeit des Autoren verharrende Rede", mit der der marokkanische Schriftsteller Tahar Ben Jelloun das 11. Internationale Literaturfestival Berlin eröffnete. Cristina Nord sah in Venedig Romuald Karmakars neue Dokumentation "Die Herde des Herrn" über Verzückung und Ekstase katholischer Gläubiger sowie die ihrer Ansicht nach zwingend preiswürdige Version von Goethes "Faust" des russischen Regisseurs Alexander Sokurov. Alem Grabovac untersucht die politische Kampfrhetorik seit dem 11. September.

Besprochen wird Mario Vargas Llosas neuer Roman "Der Traum des Kelten", in dem er sich der ungewöhnlichen Biografie des Iren Sir Roger Casement widmet, der die Gräuel des Kolonialismus Ende des 19. Jahrhunderts im belgischen Kongo-Leopoldville erlebte (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und Tom.

SZ, 09.09.2011

Hanns Zischler bespricht Corinna Belz' Filmporträt "Gerhard Richter Painting": "Gleichgültig ob Richter sich kleine oder große Formate vornimmt, ob er realistisch oder abstrakt malt, immer geht es um die Malerei selbst. Die anarchische, ja anarchistische Kraft, die in diesen Bildern steckt, tritt in diesem Film besonders dann deutlich hervor, wenn wir den erregenden Augenblick ihrer Entstehung und explosionsartigen Entfaltung in einer überaus geordneten Umgebung erleben dürfen."

Weitere Artikel: Im Interview mit Andrian Kreye verteidigt Julian Assange Wikileaks und die "Tugenden der Transparenz" und erhebt heftige Vorwürfe gegen den Abtrünnigen Daniel Domscheit-Berg. Gleich drei Autoren kommentieren gemeinsam den Schlag ins Kontor, den der Rückzug des Hauptsponsors Siemens für die Bayreuther Festspiele bedeutet. Die Rekordsummen, die das Auswärtige Amt für Kultur- und Bildungspolitik auszugeben verspricht, betreffen, wie Daniel Brössler berichtet, das Goethe-Institut allerdings nicht. Hans-Peter Kunisch berichtet von der Eröffnung des Berliner Literaturfestivals. Hingewiesen wird auf das von der DFG geförderte Open-Access-Projekt Leibniz Publik, das Aufsätze und ganze Monografien zur freien Lektüre bietet.

Besprochen werden der Auftakt der Deutschland-Tournee des Freedom Theatre aus dem Westjordanland in Braunschweig, das Violinkonzert von Esa-Pekka Salonen beim Musikfest Berlin, gleich zwei Berliner Ausstellungen ("unheimlich vertraut", "seeing is believing") zur Bilderwelt des Terrors und Bücher, darunter Stuart Evers' "Zehn Geschichten über das Rauchen".

FAZ, 09.09.2011

Das FAZ-Feuilleton steht heute ganz im Zeichen der Erinnerung an den 11. September. Verena Lueken erzählt die Geschichte jenes Stücks Land, das heute Ground Zero heißt und als bewohnbarer Ort erst durch Aufschüttung entstand: "Manchmal gibt es glückliche Funde auch dort, wo Tausende starben. So wurde im letzten Jahr in der Baugrube von Ground Zero eine erstaunliche Entdeckung gemacht. Was dort zum Vorschein kam und aussah wie der wurmzerfressene Rippenbogen eines Riesenwals, waren Reste eines Segelschiffs, die zweihundert Jahre lang gut konserviert in der Erde gelegen hatten."

Weiteres zum Thema: Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich schreibt einen Politikertext und hält fest: "Unsere freiheitliche und offene Gesellschaft hat sich gegen ihre Feinde behauptet." Der FAZ-New-York-Korrespondent Jordan Mejias erinnert sich an die Türme, den Moment des Anschlags und die Jahre danach. Korrespondenten aus anderen Ländern schildern deren Reaktionen. 

Weitere Artikel: Als weit weg von allen brennenden Themen der Welt empfand Andreas Kilb Tahar Ben Jellouns Auftaktrede zum Berliner Literaturfestival. So anstrengend wie respektgebietend findet Dietmar Dath Aleksander Sokurovs im Wettbewerb von Venedig gezeigten "Faust". Das vom Pianisten Rudolf Buchbinder gegründete Festival in Grafenegg besucht Dirk Schümer. Jürg Altwegg porträtiert den französischen Intellektuellen Pascal Boniface, der sich mit Kollegen wie Bernard-Henri Levy anlegt. Aufgrund des Rückzugs von Sponsoren für eigentlich ehrgeizige Projekte fürchtet Andreas Rossmann um die Zukunft der Bonner Oper. Was der Fund von Skeletten einer Vormenschenart in Südafrika zu bedeuten hat, erklärt Ulf von Rauchhaupt.

Besprochen werden Corinna Belz' Dokumentation "Gerhard Richter Painting" (mehr) und Bücher, darunter Friedrich von Borries' konzeptueller Roman "1WTC" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).