Heute in den Feuilletons

Es ist keine glückliche Liebe, vorerst nicht

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.09.2011. Die SZ meldet wachsende Verzweiflung bei den Intellektuellen in Ungarn. Die NZZ deutet den Arabischen Frühling als Fortsetzung des antikolonialen Befreiungskampfes. Wie antiisraelisch dieser auch ist, erfährt die FAZ vom algerischen Schriftsteller Boualem Sansal. Die FR erzählt von den Liebesbekundungen deutscher Dichter.

FR/Berliner, 23.09.2011

In der Marbacher Ausstellung "Ich liebe Dich" (Website) mit Liebesbekundungen deutscher Dichter stößt Judith von Sternburg auf Kompliziertheiten wie diese: "'Ich will - Dich lieben' oder 'Du willst immer wissen, ob (sic!) Dich lieb habe, aber das ist doch eine schwere Frage, die kann man nicht im Brief (...) beantworten.' Und Seiten später: 'Da ich Dich liebe (und ich liebe Dich also, Du Begriffstützige) ...'. Das ist natürlich von Kafka. Oder noch einmal Hilde Domin: 'Dennoch, und obwohl ich mich gerade gestern, als ich weinte und französische Gedichte schrieb (...), auf die entgegengesetzte Richtung festlegt habe, liebe ich Dich. Aber es ist keine glückliche Liebe, vorerst nicht.'"

Weitere Artikel: Über neue Formen der Bürgerbeteiligung in Stadtentwicklungsfragen denkt Robert Kaltenbrunner nach. In einer Times Mager von Christian Schlüter geht es um den "veritablen Totalschaden", der beim Preiseklat um Peter Handke in Minden entstand. Jens Balzer erinnert an das Erscheinen des ersten Nirvana-Albums "Nevermind" vor genau zwanzig Jahren und spottet über die Legacy-Super-Deluxe-4-CD-Box, die zum Jubiläum erscheint: "In der Premium-Deluxe-Version sind auch noch zwei Fußnägel von Cobain enthalten sowie eine original unbezahlte Heroinrechnung aus dem Jahr 1993."

Besprochen werden Calixto Bietios Version von Brecht und Weills "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny" in Gent und die große "Polen - Deutschland"-Schau im Berliner Martin-Gropius-Bau.

TAZ, 23.09.2011

Als Musik aus sehr fernen Zeiten kommt Andreas Hartmann zum zwanzigsten Jubiläum das erste Nirvana-Album "Nevermind" und erst recht das Grunge-Phänomen insgesamt vor: "Spex nannte Cobain damals den 'ersten MTV-Toten', heute weiß kaum noch jemand, was MTV überhaupt einmal war." Robert Iwanetz hat die nun erstmals auf DVD erschienene Nirvana-Doku "1991 - The Year Punk Broke" gesehen.

Weitere Artikel: Ingo Arend hat die diesjährige Istanbul Biennale besucht. Steffen Grimberg ist nach Daun, nämlich zum Krimifestival-"Tatort Eifel" gefahren. Zum Ende von R.E.M. schreibt Thomas Winkler.

Besprochen werden der erste Abend einer vom Berliner Musiker Pantha du Prince kuratierten Reihe unter dem Titel "Kunst als Klang", das neue Zun-Zun-Egui-Album "Katang".

Und Tom.

NZZ, 23.09.2011

Der französische Politikwissenschaftler Jean-Pierre Filiu sieht den Arabischen Frühling als historische Parallele zu den Befreiungsbewegungen des 19. Jahrhunderts. Diese innenpolitische Selbstbefreiung weckt seiner Ansicht nach auch neue Souveränitätsansprüche der arabischen Staaten in der internationalen Politik:"In allen Ländern trägt der demokratische Aufbruch auch den Charakter einer nationalen Befreiungsbewegung - denn Regime, die ihre Länder lediglich als Quell der Selbstbereicherung ausnützen, sind dem Volk nicht minder fremd als Kolonialherren. Daher die Begeisterung, wenn sich die Armee auf die Seite des Volkes schlägt, daher die Meere von Fahnen, mit denen in Tunis, Kairo und Tripolis der Sturz des Despoten zelebriert wurde. Dieser wiederentdeckte Nationalstolz nährt auch die Erwartung, mit fremden Mächten wieder auf einer Basis von Gleichheit und gegenseitiger Achtung verhandeln zu können."

Weitere Artikel: Den neuen Erweiterungsbau der Bremer Kunsthalle hat sich Nils Aschenbeck angesehen. Marcus Stäbler besuchte das neue Konzerthaus in Helsinki. In den Clubs von Bogota hat Knut Henkel junge kolumbianischer Bands gehört, die das musikalische Erbe ihrer afrikanischen Großväter wiederentdecken.

Welt, 23.09.2011

Richard Kämmerlings besucht die Ausstellung im Marburger Literaturarchiv, die sich den Liebesbekenntnissen beziehungsweise -ausflüchten großer Schriftsteller widmet. Wieland Freund lernt in zwei Interviewbänden von der Paris Review und Andre Müller die hohe Kunst, Schriftsteller zu befragen, die partout nicht reden wollen. Jacques Schuster fragt, warum Berlin den Papst so unwillkommen heißt, nicht aber den nicht minder konservativen Dalai Lama. Arne Willander trauert um R.E.M.. Michael Pilz stellt Laura Marling als neuen Stern am Folkhimmel vor.

SZ, 23.09.2011

Viel Ärger zieht der ungarische Schriftsteller Akos Kertesz derzeit in seiner nationalkonservativ regierten Heimat auf sich. Grund ist ein wütender offener Brief an seine Landsleute (neben Reaktionen auszugsweise hier dokumentiert), in dem Kertesz kein Blatt vor den Mund nimmt. Selbst Teile des linken und liberalen Spektrums fühlen sich hier zu Kritik aufgerufen, berichtet Michael Frank, bringt aber auch Verständnis für die harschen Worte mit: "Der grobe Ausbruch des sonst zwar kraftvoll, aber auch elegant und artistisch formulierenden Schriftstellers zeigt jedoch die wachsende Verzweiflung der Intellektuellen in Ungarn. Sie sehen sich dem Phänomen gegenüber, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil der Bevölkerung dem autoritären Umbau der Gesellschaft applaudiert, die Reglementierung von Medien, Justiz, Bildungssystem und fast allen anderen öffentlichen Funktionen weithin gutheißt."

Weiteres: In jüngeren Romanen über das Leben in der DDR spielt gehäuft Juliane Werdings Schlagerklassiker "Am Tag als Conny Kramer starb" eine Rolle, bemerkt ein stutzender Helmut Böttiger. Bernd Graff blickt auf die Band R.E.M. zurück, die sich gerade aufgelöst hat. Niklas Hofmann berichtet von Julian Assanges Ärger über die gerade in Großbritannien erschienene Autobiografie (mehr hier). Vier Tests hat Burkhard Müller den Übersetzungsservice von Google, dessen kommerzielle Nutzung sich die Firma mittlerweile etwas kosten lässt, unterzogen und ätzt: "Bei allen ist auf kürzeste Strecken schon der totale Quatsch herausgekommen." Frank Nienhuysen berichtet von den Kontroversen um Nikita Michalkows Film "Zitadelle", der Russland bei den kommenden Oscars repräsentieren wird (siehe auch hier). Joseph Hanimann berichtet von Stadtumbauprojekten in Lyon. Michael Stallknecht würdigt zum Erscheinen des letzten Doppelhefts unter ihrer Ägide die Merkur-Herausgeber Karl Heinz Bohrer und Kurt Scheel. Mit Blick in die griechische Staatsgeschichte bleibt Johan Schloemann nur resignatives Schulterzucken, wenn er die allgegenwärtigen Forderungen nach einer raschen strukturellen Umwälzung Griechenlands hört.

Besprochen werden die Ausstellung "A Living Man Declared Dead And Other Chapters" mit Arbeiten von Taryn Simon in der Neuen Nationalgalerie in Berlin, Karin Neuhäusers Interpretation von "Was ihr wollt" am Theater an der Ruhr und Philippe Claudels Buch "Das Geräusch der Schlüssel" (mehr in unserer Bücherschau des Tages um 14 Uhr).

FAZ, 23.09.2011

Sandra Kegel hat den algerischen Schriftsteller Boualem Sansal, der am 16. Oktober in der Paulskirche bei erhöhter Sicherheitsstufe den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhält, in Paris getroffen. Trotz Berufsverbot und Morddrohungen lebt der bekennende Atheist bis heute in seinem Land. Diese soziale Ächtung dürfte wohl auch daran liegen, dass Sansal das Leid der Juden in der Shoah anerkennt: Die wird bis heute "in Algerien verschwiegen oder als Lüge Israels bezeichnet. Im Unterrichtsmaterial der Schulen werde der Zweite Weltkrieg zwar ausführlich behandelt, erzählt Sansal, der Völkermord an den Juden hingegen komme nicht vor... Nicht einmal algerische Schriftsteller haben dafür noch Verständnis und fordern ihn auf, stattdessen über 'den israelischen Genozid am palästinensischen Volk' zu schreiben."

Weitere Artikel: Beim Nachdenken über die Bundestagsrede des Papsts kommt Christian Geyer zu dem Schluss, dass Ratzinger "nicht hinreichend zwischen rechtsphilosophisch-theologischer Vorlesung und demokratietheoretischer Intervention" unterscheide. Wiebke Hüster unterhält sich mit dem Choreographen Alexei Ratmansky über die kurzfristige Absage seiner Premiere an der Pariser Oper aufgrund einer Gewerkschaftsintervention (mehr dazu hier). Lennart Schneck berichtet vom Internationalen Musikwettbewerb der ARD. Jürg Altwegg wirft einen Blick in Schweizer Zeitschriften.

Besprochen werden die Ausstellungen "Regress/Progess" in Warschau und "City Diaries" mit Fotografien von Anders Petersen in Jena, der Film "Tiger Factory" (mehr hier) und Marlene Streeruwitz' - Christian Metz zufolge "brillanter" - Roman "Die Schmerzmacherin" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).