Heute in den Feuilletons

Rechtfertigung des Wegschauens

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.02.2012. Laut Martin Walser im European bleibt uns schon aus ästhetischen Gründen nichts übrig als an Gott zu glauben. Das Niemanlab feiert den "noblen Hyperlink" und ermuntert Journalisten, ihn auch zu setzen. Hamed Abdel-Samad bleibt im Publik Forum trotz allem optimistisch in bezug auf die weiteren Aussichten des arabischen Frühlings. Die taz dankt Mahmud Achmadinedschad, der deutsche Journalisten professionelles Risikomanagment lehrte, Hans-Christoph Buch in der FR nicht. In Irights.info erklärt die Juristin Andrea Lohse, warum Zeitungsverleger keine Chance mit ihren Protesten gegen die Snippets von Google News haben.

Aus den Blogs, 28.02.2012

Im Gespräch mit Alexander Görlach im European begründet Martin Walser die Notwendigkeit, an Gott zu glauben, aus der Ästhetik: "Die meiner Meinung nach wichtigste Begabung, um glauben zu können, ist der Sinn für das Schöne. Wir haben die Fähigkeit, etwas schön zu finden. Nehmen Sie Bach oder Schubert. Ihre zu Gott gewandte Musik hat unsere irdische Existenz ausgefüllt und geformt. Wenn man sich hingegen als bekennender Atheist beruhigt zurücklehnen kann, dann geht dieser ganze Reichtum der Geschichte verloren."

(Via @hemartin) Jonathan Stray denkt im Niemanlab über den "noblen Hyperlink" nach und darüber wie er den Journalismus verändern sollte (wenn Journalisten Links setzten): "In print, readers can't click elsewhere for background. They can't look up an unfamiliar term or check another source. That means print stories must be self-contained, which leads to conventions such as context paragraphs and mini-definitions ('Goldman Sachs, the embattled American investment bank.') The entire world of the story has to be packed into one linear narrative." Mehr dazu auch in Felix Salmons Wired-Blog Epicenter.

Sher kritisch sieht Alan Posener auf starke-meinungen.de Gaucks Äußerungen zum Holocaust: "Gauck unterstellt denjenigen, die eine Singularität des Holocausts behaupten, sie täten dies nicht, weil das 'Geschehen' tatsächlich einzigartig ist, sondern weil ihnen 'Gott fehlt', weil sie 'das Koordinatensystem religiöser Sinngebung verloren' hätten, und weil sie an der 'Orientierungslosigkeit der Moderne' litten. Das ist allerdings eine ausgesprochene Gemeinheit. Hier wird übrigens der Holocaust missbraucht, um Propaganda für die Religion zu machen."

Weitere Medien, 28.02.2012

Wohin führt der arabische Frühling? Hamed Abdel-Samad ist entschlossen, Optimist zu bleiben und schreibt in der katholischen Zeitschrift Publik Forum: "Selbstverständlich ist die Islamisierung in Ägypten und Nordafrika beunruhigend, nur hat sie nicht das letzte Wort. Ich sehe sie als einen Umweg auf dem Weg zur Demokratisierung. Ebenso wie die Versuche des Militärrates, den Lauf der Dinge noch aufzuhalten. Vierzig Prozent der Araber zwischen 18 und 27 haben keine Arbeit. Freiheit kann man nicht essen, Scharia aber auch nicht."

TAZ, 28.02.2012

Jasna Zajcek findet es ganz richtig, dass deutsche Journalisten sich gar nicht erst nach Syrien aufmachen und bedankt sich ausdrücklich bei Irans Präsidenten Mahmud Achmadinedschad dafür, dass er mit der Geiselnahme der beiden Springer-Reporter den Deutschen professionelle Konflikvermeidung beigebracht hat: "Die Lektion, die Ahmadinedschad die deutsche Presse und Diplomatie in diesem glimpflich ausgegangenen Fall gelehrt hat, war offenbar nicht die schlechteste."

Als wichtigste filmhistorische Lektion wertet Bert Rebhandl den Auslands-Oscar für den iranischen Regisseur Asghar Farhadi, der Hollywoods Blockbuster-Produzenten ganz schön alt aussehen ließ: "Denn 'Nader und Simin' zeigt, dass eine beliebige Geschichte aus einem Land dieser Welt allgemeine Relevanz gewinnen kann, wenn sie nur ohne falsche Kompromisse und ohne schales Kalkül erzählt wird."

Weiteres: Hortense Pisano vermisst in der neuen Ausstellung des erweiterten Städel Museums die Experimentiertfreude. Isolde Charim feiert das erneuerte Wien-Museum, das ein engagiertes Kuratorenteam wachgeküsst hat. Katrin Bettina Müller berichtet von einer Lesung, mit der das Gorki Theater an den vor elf Jahren verstorbenen Regisseur Einar Schleef erinnerte. Boris Spernol kann auch im neuen Transit-Heft keine Anzeichen für einen Wandel in Russland entdecken.

Besprochen werden Steve McQueens neuer Film "Shame" und ein Dubstep-Konzert des britischen Musikers Skrillex in Köln.

Und Tom.

Weitere Medien, 28.02.2012

Andrea Lohse, Wirtschaftsrechtlerin in Bochum, erklärt, warum die Zeitungsverleger keine Chance mit ihren Klagen gegen die Snippets von Google News haben, die nur unter der Voraussetzung eines neuen Leistungsschutzrechts zu belangen wären. Ob das kommt, hält sie für fraglich. Denn Leistungsschutzrechte stünden in einem Spannungsverhältnis" zum Kartellrecht, "weil das Kartellrecht gerade auch auch den Imitationswettbewerb schützt: Es ist - anders als das Urheber- und Patentrecht - kein Instrument, um den Imitationswettbewerb einzuschränken, sondern um seine Beschränkung durch die Unternehmen zu verhindern. Die wettbewerbspolitische Berechtigung des Patent- und Urheberrechtschutzes ist daher bis heute umstritten, auch wenn sie überwiegend für einen Kernbereich anerkannt wird."

FR/Berliner, 28.02.2012

"Sarajevo, Bengasi und jetzt Homs - haben wir nichts aus der Geschichte gelernt", fragt Hans Christoph Buch angesichts des Phlegmas, mit dem die Deutschen Assads Krieg gegen sein Volk betrachten. "Das Wort Menschenrechtverletzungen klingt allzu beschönigend für das, was derzeit in Syrien passiert, und ich bin es leid, mir sagen zu lassen, ein Eingreifen von außen sei unmöglich und kontraproduktiv, weil es die ethnischen und religiösen Konflikte verschärfen und das nahöstliche Pulverfass zur Explosion bringen könnte. ... Doch selbst wenn politische Skepsis im Bezug auf Syrien berechtigt ist, wünsche ich mir, dass ein Bruchteil der Energie, die der Rechtfertigung des Wegschauens und Nichtstuns dient, in Überlegungen einfließt, was unterhalb der Schwelle bewaffneter Intervention möglich und nötig ist. Praktische Hilfe tut not."

Besprochen werden Bücher, darunter Jörg Baberowskis Studie "Verbrannte Erde" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 28.02.2012

Gabriele Detterer besichtigt Frankfurts erweitertes Städel Museum. Andreas Breitenstein stellt fest, dass man beim Fliegen überhaupt nicht mehr zum Lesen kommt bei dem ganzen Unterhaltungs-, Ablenkungs- und Disziplinierungsprogramm. Jan Heiner Tück stellt die österreichische Pfarrer-Initiative vor, die gegen den Reformstau in der katholischen Kirche aufbegehrt.

Besprochen werden Mohammed Hanifs Roman "Alice Bhattis Himmelfahrt" und Oya Baydars Istanbul-Roman "Das Judasbaumtor" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Welt, 28.02.2012

Matthias Heine preist Abel Lanzacs und Christophe Blains Graphic Novel "Quai d'Orsay" über den einstigen französischen Außenminister und Premier Dominique de Villepin, die sich in Frankreich 300.000 mal verkaufte, als Meisterwerk des Genres und Ausdruck französischer Sehnsucht nach Pomp. Richard Kämmerlings findet Georg Diez' Antwort auf die Kritiker seiner Kracht-Kritk ungenügend. Hanns-Georg Rodek berichtet von der Oscar-Verleihung. China-Korrespondent Johnny Erling besucht in Peking eine Ausstellug mit konstruktivistischen Werken aus der Sammlung des einstigen Industriekapitäns Gerhard Cromme. Besprochen wird eine Ausstellung über den Dresdner Maya-Codex und seine Entzifferung in der Landesbibliothek der Stadt.

SZ, 28.02.2012

Helmut Böttiger seufzt schwer über eine Literatur, die sich selbst einfach nur als gut sortierbarer Stoff für den journalistischen Betrieb anbietet. Anlass ist natürlich die ohnehin ringsum fast nur Schulterzucken provozierende Angelegenheit zwischen Georg Diez und Christian Kracht. Letzterem schreibt er ins Notizbuch: "Wenn man mit in der Luft liegenden Provokationen kokettiert und sein Roman-Setting daraus bestückt, ist das allerdings ebenfalls eher ein journalistischer als ein literarischer Vorgang. Er zielt vor allem auf die aktuelle Diskursmaschine."

Der deutsch-türkische Autor Dogan Akhanli kann sich in der Türkei wieder frei bewegen, berichtet Kai Strittmatter. Akhanlis erster Besuch in Istanbul galt seinem Verleger Ragip Zarakoglu, der im Rahmen einer "längst außer Kontrolle geratenen Operation gegen angebliche kurdische Terroristen" im Gefängnis sitzt: "'Zarakoglu war nicht optimistisch, aber fröhlich', berichtet Akhanli von seinem Besuch im Gefängnis. 'Er freute sich, dass sein Sohn zu ihm in die Zelle verlegt wurde. Er sagte, so viel Zeit hätten sie in ihrem Leben noch nicht miteinander verbracht.'"

Weitere Artikel: Andrian Kreye verbrachte den Oscarabend mit der am Ende arg enttäuschten, deutschen geladenen Filmprominenz in der Villa Aurora in Los Angeles. Für Tobias Kniebe schwankte die Oscarverleihung zwischen Geriatrie und Nostalgie. Helmut Schödel erlebte in Wien bei der Franz Schubert gewidmeten "Serie" des Wiener Schauspielhauses "fünf sehr besondere, ganz feine und kostbare Abende". Felix Stephan berichtet von der Tagung "Global Prayers" in Berlin. Gemeldet wird, dass die schwedischen Sozialdemokraten sich den Begriff "Nordisches Modell" haben patentieren lassen. Volker Breidecker schreibt den Nachruf auf den Sänger Louisiana Red.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Arbeiten von Willem De Rooij im Kunstverein München, die Ausstellung "Utopie Gesamtkunstwerk" im 21er Haus in Wien, Barbara Webers offenbar kaum stimulierende Inszenierung von Sarah Ruhls "Nebenan - The Vibrator Play" am Cuvilliéstheater in München und eine von Tomás Sedlácek verfasste Kulturgeschichte der Ökonomie (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 28.02.2012

Nils Minkmar besucht den greisen, aber immer noch sehr sportlichen Cousin Anne Franks, Buddy Elias, der dem Anne-Frank-Zentrum in Frankfurt Dokumente aus der Geschichte seiner und ihrer Familie übergibt. Darin lernt Minkmar, dass in Franks Familie das Briefeschreiben und Erzählen über Generationen geübt und gepflegt wurde: "Nur dank dieser Briefe wissen wir, welche Erleichterung etwa Elkan Juda Cahn, der 1796 in Frankfurt geborene Urahn von Buddy und Anne, beim Hausieren empfand, weil er so mal rauskam aus dem Getto, in das wegen der engen Bebauung kaum das Sonnenlicht drang. Das Getto war eine Heimat, aber eine stinkende und bedrängte, nach der keine Nostalgie aufkommen mochte, als es dank der napoleonischen Gesetze endlich überwunden wurde. "

Weitere Artikel: Jürgen Kaube wendet sich gegen das Buch "Kiezdeutsch" der Sprachforscherin Heike Wiese und plädiert für korrektes Deutsch. Gina Thomas glossiert eine Studie, die behauptet, dass wir wöchentlich eine Dreiviertelstunde mit dem Bedauern von Lebensentscheidungen zubringen. Julia Spinola berichtet über Rechnungshofberichte, Kartenkontingente und andere Reibereien in Bayreuth. Verena Lueken berichtet von der (heute schon wieder entsetzlich gestrigen) Oscar-Verleihung. Auf der Medienseite meldet Paul Ingendaay, dass die spanische Zeitung Publico aufgiebt.

Besprochen werden Choreografien der deutschen Tanzplattform in Dresden, eine Ausstellung des holländischen Malers Abraham Blomaert in Schwerin und Bücher, darunter Bernd Cailloux' Roman "Gutgeschriebene Verluste" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).