Heute in den Feuilletons

Belebung der Leiber

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.05.2012. In der NZZ beschreibt die Schriftstellerin Mansura Eseddin die Situation kurz vor den Wahlen in Ägypten. In der taz erzählt Wes Anderson, was ihn an den 60er Jahren interessiert. In der FAZ erklärt Peer Steinbrück dem Genossen Thilo Sarrazin noch einmal, warum wir den Euro brauchen. In der Zeit erklärt FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher dem Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo: Die Piraten sind keine Modeerscheinung. SZ, Welt und taz feiern den neuen Film von Leos Carax und seinen Hauptdarsteller mit dem hässlichen und wunderschönen, bösen und romantischen Gnomengesicht: Denis Lavant.

NZZ, 24.05.2012

Die ägyptische Schriftstellerin Mansura Eseddin skizziert die Situation kurz vor den Wahlen in Ägypten, die ziemlich unübersichtlich ist: "Das Eigenartige an diesen Präsidentschaftswahlen ist allerdings, dass sie im Endeffekt die politischen Affiliationen der Bevölkerung wohl gar nicht den Tatsachen gemäß reflektieren werden. Denn das Wahlverhalten wird oft nicht etwa von Entscheiden bestimmt, in denen sich tatsächliche politische Standpunkte ausdrücken, sondern vielmehr von Kompromissen und der Furcht vor möglichen Albtraum-Szenarien. So unterstützen zahlreiche Liberale und Linke die Kandidatur des Islamisten und ehemaligen Muslimbruders Abdel Moneim Abul Fotouh, weil sie in ihm einen potenten Kandidaten sehen, der einen moderateren Islam vertritt als die Muslimbrüder und der stark genug ist, den Anwärtern aus dem Umfeld des alten Regimes - nämlich Amr Moussa und Ahmed Shafiq - Paroli zu bieten."

Weiteres: Marc Zitzmann annonciert das Programm von Luc Bondy für das Pariser Odeon-Theater. Besprochen werden eine Ausstellung des Haarlemer Genremalers Cornelis Bega im Suermondt-Ludwig-Museum in Aachen, einige Filme und Andreas Neesers Roman "Fliegen, bis es schneit" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 24.05.2012

Dominik Kamalzadeh interviewt mit Wes Anderson über seinen Film "Moonrise Kingdom", in dem es um ein Ferienlager an der Ostküste Mitte der sechziger Jahre geht. Was ihn an dieser Zeit interessierte, erklärt Anderson so: "Es ist eine Ära in Amerika, in der sich Weichen gestellt haben. Mir gefiel diese Idee, zurück an einen Ort zu gehen, an dem die alte Welt noch konserviert erscheint. Es ist so, als ob man sich im Zwielicht bewegt. Dieses ländliche, Norman-Rockwell-ähnliche Amerika, die Pfadfinder, all das schien hier noch intakt zu sein." Hier Ekkehard Knörers Besprechung des Films.

Weitere Artikel: Cristina Nord schreibt aus Cannes über Leos Carax' Wettbewerbsbeitrag "Holy Motors" (mit Denis Lavant), der endlich sei, was bisher fehlte: "die Dosis Wahnsinn, die ein Filmfestival braucht, um seinen Mut zum Außergewöhnlichen zu beweisen". Christiane Rösinger berichtet im Tagebuch über ihre Reise zum Song Contest nach Baku diesmal aus Tbilissi und der alten Seidenstadt Seki. Auf den vorderen Seiten berichtet Susanne Kaul über die Situation der Juden im Iran.

Besprochen werden das Abschiedsalbum "A Young Person's Guide to Superpunk" der Hamburger Band Superpunk, der dritte Teil von "Men in Black" und die DVD von Pablo Giorgellis Debütfilm "Las Acacias".

Und Tom.

Welt, 24.05.2012

Léos Carax ist wieder da! 13 Jahre nach seinem letzten, großartig missglückten Film "Pola X" präsentiert er "Holy Motors". Mit "ratlos-verzücktem Blick" stolperte Hanns-Georg Rodek aus der Salle Debussy in Cannes. Vorerst nur so viel: "Die Hauptrolle spielt Denis Lavant, Carax' Alter Ego und Hauptdarsteller all seiner Filme, der eines Morgens im Business-Anzug in eine Stretchlimousine ein- und eine halbe Stunde später als alte, gebeugte Frau wieder aussteigt. Im Laufe dieses Tages wird Monsieur Oscar sich noch zehnmal verwandeln, in einen Banker, einen Vater, einen Sterbenden, einen menschlichen Gorilla auf dem Friedhof, einen Akkordeonspieler und in wer weiß wen noch."

Besprochen werden eine Ausstellung des Designers Gerrit Rietvelds im Vitra Design Museum und ein "Kirschgarten" unter Calixto Bieito in München.

Auf der Forumsseite macht Bernard-Henri Lévy Reklame für die Kerouac-Verfilmung des Sohns eines Freundes.

Weitere Medien, 24.05.2012

(via) Auf der Website der FU Berlin ist nun auch ein Videomitschnitt von Rainald Goetz' kürzlich gehaltener Antrittsvorlesung zum Thema "Leben und Schreiben: Der Existenzauftrag der Schrift" zu sehen (mehr dazu etwa hier und hier).

Außerdem steht der nach Jafar Panahis Verhaftung entstandene Essayfilm "Dies ist kein Film" (mehr) nach der gestrigen Fernsehausstrahlung nun auch in der arte-Mediathek online.

Freitag, 24.05.2012

Ist der Urheber-Aufruf eine Reaktion auf die Angst, dass das Internet Literatur, wie wir sie kennen, und besonders ihren Werkbegriff in Frage stellt?, fragt Michael Angele, der im Bloggen jedenfalls keine Alternative sieht: "Gibt es nicht auch eine berechtigte Angst vor dem Verlust ästhetischer Qualität durch das Bloggen? Parodistischer oder ironischer Stil werden wenig belohnt, auch sind narrativen Verfahren Grenzen gesetzt. Wie stark ist man schließlich bereit, vom klassischen Werkbegriff abzurücken? Wenn der Netztheoretiker Felix Stalder von 'Wissens- und Kulturarbeit' im Netz spricht, die er als einen 'offenen Austauschprozess' begreift, meint er etwas anderes als diesen Werkbegriff."

Außerdem sprechen Sten Nadolny und Clemens Meyer über Literatur und Traum.

FR/Berliner, 24.05.2012

Christian Thomas sieht den frühen Dürer in Nürnberg als "vehementen Aktivisten der Belebung der Leiber. Anzüglichkeiten im Frauenbad-Blatt mögen versteckt sein, Obszönes im Männerbad-Blatt dagegen ist offensichtlich."

Besprochen werden Shiar Abdis Film "Mes - Lauf!", der erste ganz in kurdischer Sprache gedrehte türkische Film, die "hübsch vertrackt ausgedachte" Science-Fiction-Komödie "Men in Black 3" und ein "Kirschgarten" in der Regie Calixto Bieitos in München.

FAZ, 24.05.2012

Nachdem Peer Steinbrück sich Thilo Sarrazins Thesen zum Euro bereits bei Jauch zur Brust genommen hat (hier in der Mediathek), fasst er seinen Standpunkt nun auch seitenfüllend in der FAZ zusammen und redet seinem Parteigenossen ins Gewissen: "Die Bedeutung des Euro als gemeinsame Währung ist untrennbar mit der europäischen Integration verknüpft: politisch, wirtschaftlich und kulturell. ... Sarrazin verkürzt den Euro auf die eine Funktion einer Währung, was er auch ist - aber eben nicht nur."

Außerdem ist Joseph von Westphalens lesenswerte Selbstbefragung aus der letzten FAS nun auch online zu finden, in der der Schriftsteller und Erst-Unterzeichner des Urheber-Appells bei aller Solidarität mit seinen Co-Unterzeichnern die eigene Unterschrift bemerkenswert relativiert: "Als bedrohlich empfinde ich eher niedrige Auflagen, Leseunlust, legale Kindle-Downloads statt in der Buchhandlung gekaufte Bücher und die Tatsache, dass viele Bücher 'garantiert ungelesen, nur mit geringen Lagerspuren' für 1 Cent und 3 Euro Porto über Amazon zu beziehen sind - alles legal und viel schlimmer. Wenn wir aus lauter Angst vor Räubern tolle Diebstahlabsicherungen erfinden, dürfen wir Urheber dabei nicht vergessen: Wir sind darauf angewiesen, mit dem Schreiben Geld zu verdienen, ja, aber auch darauf, dass uns genügend Leute lesen wollen." Im übrigen hat Westphalen die gekürzten Passagen in der Kommentarspalte des Perlentauchers dokumentiert.

Weitere Artikel: S. Mohammad Oreyzi und Andreas Rossmann unterhalten sich mit dem Rapper Shahin Najafi, der derzeit untergetaucht ist, da gegen ihn wegen seines Songs "Naghi" Anfang Mai eine Morddrohung in Form einer Fatwa verhängt wurde:



Mark Siemons berichtet von zunehmender Stimmungsmache gegen Ausländer in China. Verena Lueken ist in Cannes von Walter Salles' "On the Road"-Adaption arg enttäuscht. Stefan Grissemann hat sich an der Croisette unterdessen in den Nebenreihen beengende Filme von Apichatpong Weerasethakul und Raoul Ruiz angesehen. Dieter Bartetzko bestaunt in der großen Ausstellung zum frühen Dürer im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg "gewaltige Bilder" (eigenwilligen Humor bewies das Museum unterdessen bei der Bildauswahl für die Onlinepräsentation). "Rettet die Gasleuchten!", hält Gerwin Zohlen den Berliner Stadtplanern entgegen, die das historische Erbe abschaffen wollen. Hannah Lühmann verfolgte an der Académie de Berlin ein Gespräch zwischen Joseph Fischer, Ulrich Wickert und Hubert Védrine über die Zukunft Europas. In der Leitglosse wendet sich Thomas Thiel gegen Piraten und anderer Schmuddelkinder aus dem Internet, die es als Naturgesetz betrachten, "dass Informationen frei sein wollen".

Auf der Medienseite porträtiert Ursula Scheer Thorsten Wiedau, der lange Zeit einer der vielbemusterten Spitzen-Buchrezensenten bei Amazon gewesen ist und sich wegen undurchsichtiger - und wie er meint: unmoralischer - Rankingalgorithmen und missgünstiger Manöver der Konkurrenz um den Spitzenposten von dieser Hobbytätigkeit zurückgezogen hat.

Besprochen werden David Gieselmanns Stück "Über Jungs" am Grips Theater in Berlin, ein Biopic über Bob Marley und Bücher, darunter eins von Erhard Oeser über den ersten islamischen Gottesstaat im 19. Jahrhundert (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

SZ, 24.05.2012

Ein sich völlig geschlagen gebender Tobias Kniebe erlebt in Cannes bei "Holy Motors", dem neuen Film von Leos Carax, einen "Trip an die Grenzen des Kinos und noch ein wenig darüber hinaus": "Man hört keine Regieanweisungen, man sieht keinerlei Filmteam in Aktion - und trotzdem könnte dies die Zukunft des Kinos sein. Denn einmal gesteht der Mann, dass er den Tag verflucht, an dem die Kameras unsichtbar wurden und für immer aus dem Blick der Schauspieler verschwanden. So folgt man nun im Wesentlichen einem Gesicht, dem hässlichen und wunderschönen, bösen und romantischen Gnomengesicht des Schauspielers Denis Lavant."

Weitere: Artikel: Alexander Schmotz beobachtet (etwa in Burma) das Phänomen der "Wahlautokratien" und damit "eine perfide Strategie des Machterhalts", in dem sich Militärregimes durch demokratische Wahlen eigenen Fortbestand versprechen: "Wahlen hegen die Opposition ein. Gezähmt, auf den Parlamentsbänken ist sie der Führung allemal lieber als auf der Straße oder im Untergrund." Viktor Rotthaler empfiehlt von Herzen eine Wiener Retrospektive mit Filmen des japanischen Meisterregisseurs Seijun Suzuki, die - kleiner Schönheitsfehler - dort vor bald zwei Wochen zuende gegangen ist. Die Netzpoesie kommt auf keinen grünen Zweig, beobachtet Cara Wuchold, die eine Ursache unter anderem darin sieht, dass die Kunst "in der Datenmasse" des WWW untergehe. Will Smith findet das "Raum-Zeit-Kontinuum von Obama eindeutig das Beste", verrät der Schauspieler Anke Sterneborg im Gespräch. Willi Winkler schreibt den Nachruf auf Eugene Polley, den Erfinder der Fernbedienung. Alexander Menden gratuliert dem Dramatiker Arnold Wesker zum Achtzigsten.

Der desaströse Facebook-Börsengang (der mittlerweile auch die Börsenaufsicht beschäftigt) ist einer der "schlimmsten Flops der jüngeren Wirtschaftsgesichte" und stellt eine "Kapitalvernichtung der Extraklasse" dar, empört sich auf der Meinungsseite Hans-Jürgen Jakobs: "Der Fall Facebook bestätigt das Schlimmste am Finanzkapitalismus. In einer Situation, in der weltweit die Börsenkurse unter Druck stehen, liefert er das Beispiel für organisierte Gier. ... [Zuckerbergs] Griff in den Geldbeutel der Aktionäre ist nichts anderes als finanzielles Hacking. Auch Mark Zuckerberg ist ein Pirat, freilich ein extrem reicher."

Besprochen werden die Calixto Bieitos (laut Christine Dössel gar nicht skandalöse, sondern "desaströse") Aufführung von Tschechows "Kirschgarten" im Residenztheater in München, Stefan Herheims Inszenierung von Händels "Xerxes" an der Komischen Oper in Berlin, die dem Publikum, Wolfgang Schreiber nach zu schließen, offenbar bestens gefallen hat, die Ausstellung "Made in Germany Zwei" im Sprengel Museum in Hannover, in der "das Phantastische über das Deutliche" obsiege, und Herbert Hefners Biografie über Alkibiades (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Zeit, 24.05.2012

Das Wochenmagazin für Glauben und Zweifeln gibt dem FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher ein publizistisches Forum, um mit Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo - moderiert von der Grünen-Politikerin und evangelischen Funktionärin Katrin Göring-Eckardt - über die Piraten, die Rolle der klassischen Medien, die Wulff-Affäre und alles mögliche andere zu diskutieren. Die Piraten jagen Schirrmacher inzwischen einen Heidenrespekt ein: "Die Piraten sind, das müssen sich alle klarmachen, keine Modeerscheinung. Sie sind eine Form von regenerativer Energie, die sowohl in die Gesellschaft als auch in die Politik fließt. Plötzlich sehe ich ganz normale Leute in den Talkshows und Nachrichtensendungen, Leute, die ich sonst auf der Straße sehe, und die streite mit anderen über Themen wie das Urheberrecht."

Das Feuilleton greift auf mehreren Seiten das schon auf der Titelseite gesetzte Feelgood-Thema "Das Glück im Garten" auf. Außerdem bespricht Ijoma Mangold die spielerische Autobiografie "Hoppe" der designierten Büchner-Preisträgerin gleichen Namens. Henrik Enderlein hat sich mit dem Anti-Euro-Buch von Thilo Sarrazin gelangweilt, braucht aber eine ganze Seite, um das mitzuteilen (auch im Interview im politischen Teil darf sich der Langweiler ganzseitig plustern). Jana Simon porträtiert die Regisseurin Haifaa al-Mansur, die (natürlich mit Erlaubnis ihres Gatten) den ersten Kinofilm in Saudi-Arabien dreht. Katja Nicodemus berichtet aus Cannes und unterhält sich mit Wes Anderson, dessen Film "Moonrise Kingdom" heute auch in Deutschland anläuft. Volker Hagedorn schreibt den Nachruf auf Dietrich Fischer-Dieskau, Thomas Groß den auf Robbin Gibb. Im Wissen-Teil erklärt Urs Willmann, mit welchen naturwissenschaftlichen Methoden die Dürer-Gemälde der großen Nürnberger Ausstellung auf ihre Geheimnisse untersucht wurden.

Besprochen werden außerdem Inszenierungen der Wiener Festwochen, darunter Handkes "Schönen Tage von Arajuez"..