Heute in den Feuilletons

Geburtswehen der Popmoderne

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.06.2012. Die Documenta ist gar nicht so tierlieb wie sie immer tut, findet die FR. Die Welt erinnert sich an die Schwabinger Krawalle. Bei Angela Merkels Regierungsstil fühlt sich die FAZ nach Entenhausen versetzt. Die Zeit feiert den 300. Geburtstag von Jean-Jacques Rousseau. Der Musiker David Lowery fragt, warum wir bereit sind, für Musikabspielgeräte zu bezahlen, nicht aber für die Musik selbst.

Welt, 21.06.2012

Bodo Mrozek erinnert an die "Schwabinger Krawalle", die vor 50 Jahren ausbrachen: "Bei den Schwabinger Krawallen handelte es sich weder um einen Studentenulk noch um ein bajuwarisches Volksvergnügen. Das 'rätselhafte Ereignis' markiert vielmehr die Reibungskonflikte im Übergang vom autoritären Obrigkeitsstaat zur liberalen Massengesellschaft westlicher Prägung. So gesehen erscheinen die Schwabinger Krawalle gewissermaßen als Geburtswehen der Popmoderne."

Weiteres: Hermann Parzinger plädiert für einen neuen Galeriebau gegenüber dem Bode-Museum zur Vollendung der Berliner Museumsinsel "zu einem veritablen Berliner Louvre!" Besprochen werden außerdem die "große Weltausstellung" auf dem Tempelhofer Feld in Berlin sowie Filme, darunter Madonnas Historiendrama "W.E.".

FR/Berliner, 21.06.2012

Mit den besonders tier- und naturfreundlichen annoncierten Ausstellungen der Documenta kann sich Sandra Danicke nicht anfreunden - und im übrigen auch nicht die von kunstsinnenden Herrchen und Frauchen mitgebrachten Hunde, die sie hier beobachtet. Angekündigt war ein auf nichtmenschliche Bedürfnisse abgestimmter Skulpturenpark, "umso mehr staunt man über die Schrebergartenmentalität, mit der hier Natur zur Anschauung gebracht werden soll: eingezäunt, eingetopft und im ungünstigsten Sinne des Wortes ausgestellt. Kein Gewächs oder Tier hier, dem nicht Menschen ihren Willen aufgezwungen hätten."

Besprochen werden eine Ausstellung über der Verhältnis zwischen Deutschen und Russen in Moskau, die ab Oktober auch in Berlin zu sehen sein wird, der Film "Wagner & Me", in dem Stephen Fry versucht, seine Liebe zu Richard Wagners Musik und seine Abscheu vor dessen Antisemitismus unter einen Hut zu kriegen, und der Horrorfilm "Chernobyl Diaries".

Zeit, 21.06.2012

Am 28. Juni vor 300 Jahren wurde Jean-Jacques Rousseau geboren, das Feuilleton widmet ihm aus diesem Anlass einen Schwerpunkt. Der französische Essayist Michel Crépu konstatiert, dass Rousseau dies- und jenseits des Rheins unterschiedlich rezipiert wird: hier als Romantiker, dort als Revolutionär. Slavoj Žižek beleuchtet den Unterschied zwischen den Rousseauschen Kategorien der Selbst- und Eigenliebe und plädiert für den Egoismus als höchste moralische Instanz. Thomas Assheuer spricht mit dem Philosophen Martin Seel über Rousseaus Verhältnis zur Natur. Mathias Greffrath umreißt Rousseaus Biografie und fragt nach der Aktualität seiner politischen Visionen: "Rousseau nannte zwei Nötigungen für die Erneuerung des Contrat [Social]: die Korrektur destruktiver Ungleichheiten oder die Erkenntnis einer großen gemeinsamen Notlage. Und dann gibt es Epochen, in denen beides zusammenkommt."

Alexander Camman berichtet von seinem Treffen mit Friederike Mayröcker im Wiener Café Imperial: "Fragen nach Berlin und Hamburg sind ihr erkennbar lieber als Selbstauskünfte über ihr Schaffen; sie lächelt, wenn sie über das ihr gut bekannte iPhone spricht: 'Ich habe keins, brauche wohl auch keins, aber es ist eine faszinierende Sache.' Genau das, die Welt mit uns, ist zentral für Friederike Mayröckers Werk."

Weiteres: Ralph Geisenhanslüke porträtiert anekdotenreich Claude Nobs, den Gründer und Leiter des legendären Montreux Jazz Festivals (wo dieses Jahr unter anderem Bobby McFerrin, Bob Dylan, Herbert Grönemeyer und Van Morrison auftreten - hier Van "the Man" bei seinem ersten Montreux-Besuch 1974). Franco Stella, Architekt des Berliner Stadtschlosses (künftig Humboldt-Forum), ist enttäuscht, dass sich Berlin nicht sonderlich für ihn interessiert, weiß Sven Behrisch. Maxim Biller besucht mit Daniel Richter die "vollkommen sinnlose" Ausstellung "Art and Press" im Martin-Gropius-Bau.

"Noch unglaublicher" als die Liebesgeschichte zwischen dem englischen König Edward VIII. und der Amerikanerin Wallis Simpson findet Susanne Mayer, was unter Madonnas Regie "für ein Film daraus geworden ist. Kein guter." Außerdem gibt es Besprechungen von neuer Musik, darunter das Debütalbum des schottischen Pop-Quartetts Django Django, von zwei Molière-Inszenierungen mit Martin Wuttke an der Berliner Volksbühne und von Büchern, darunter Mayröckers neue Prosaschrift "ich sitze nur GRAUSAM da" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Auf Glauben & Zweifeln berichtet der Vatikan-Experte Marco Ansaldo vom VatiLeaks-Skandal um vom päpstlichen Schreibtisch verschwundene Dokumente. Das Dossier widmet sich mehr oder weniger bekannten Aussteigern aus der Politik und ihrem Leben danach.

NZZ, 21.06.2012

"Politisierung vor idyllischer Szenerie" überschreibt Amin Farzanefar seinen Bericht über die türkische Filmszene. "Viele der neuen Dokumentarfilme (die jenseits der zahlreichen türkischen Festivals und gelegentlichen Fernseheinsätze kaum eine Verwertungsmöglichkeit haben) widmen sich vor allem Minoritäten - aussterbenden Sprachen, Musikkulturen und Völkern, die jetzt, nach jahrzehntelanger Repression, endlich ihr Leid artikulieren können. Dabei sind die Festivalpremieren und Sondervorführungen diskursbildend. Sie ermöglichen auch dem Publikum den ersten öffentlichen Austausch, das erste persönliche Bekenntnis."

Nicht online ist ein Text von Stefan Betschon über die Turingmaschine des britischen Mathematikers Alan Turing, ein "imaginärer Computer, ein Gedankenexperiment, eine Papier-Maschine", die in der Informatik seit 75 Jahren das Mass aller Dinge ist.

Besprochen werden Daniele Abbados Inszenierung von Verdis "Don Carlo" an der Wiener Staatsoper, Emanuele Crialeses dritter Film "Terraferma" über das Schicksal illegaler afrikanischer Flüchtlinge in Lampedusa und Hilary Mantels historischer Roman "Brüder". (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 21.06.2012

In einem aufsehenerregenden Blogeintrag bekannte Emily White, 21jährige Praktikantin bei National Public Radio, dass sie in ihrem Leben 15 CDs gekauft habe, aber ein digitales Archiv von 11.000 Songs besäße. Der Musiker David Lowery (Cracker, Camper Van Beethoven) stellt in einer Replik auf The Trichordist die Frage, warum White (und ihre Generation) bereit ist, für Musikabspielgeräte zu bezahlen, nicht aber für die Musik selbst: "The existential questions that your generation gets to answer are these: Why do we value the network and hardware that delivers music but not the music itself? Why are we willing to pay for computers, iPods, smartphones, data plans, and high speed internet access but not the music itself? Why do we gladly give our money to some of the largest richest corporations in the world but not the companies and individuals who create and sell music?"

TAZ, 21.06.2012

Sven Hansen porträtiert den birmesischen Kabarettisten Zarganar, den die Militärjunta für elf Jahre ins Gefängnis steckte; er trat jetzt in Berlin zusammen mit dem Komiker Michael Mittermeier auf, der im Januar 2010 zusammen mit dem britischen Filmemacher Rex Bloomstein in Birma den Film "The Prison Where I Live" über den inhaftierten Zarganar gedreht hatte. "'Ich habe den Film im Gefängnis gesehen', erzählt Zarganar dem staunenden Publikum. 'Von einer raubkopierten CD. Ich hatte die Wärter bestochen.' Nach einer Kunstpause fragt er: 'Komme ich für dieses Geständnis jetzt wieder ins Gefängnis?'"

Shirin Sojitrawalla berichtet über das Festival "Neue Stücke aus Europa" in Wiesbaden und Mainz, auf dem die beiden italienischen Beiträge von Beklemmung, Traurigkeit und Abschied geprägt waren. Torben Ibs informiert darüber, dass Enrico Lübbe wohl neuer Intendant am Leipziger Schauspiel wird, das Findungsverfahren durch die Eigenmächtigkeit von Oberbürgermeister Burkhard Jung indes zur Posse geriet.

Besprochen werden Cristi Puius Film "Aurora", der den Zerfall der rumänischen Gesellschaft in ihre Einzelteile filmisch nachvollzieht, und die DVD von Michael Althens und Dominik Grafs Film "München - Geheimnisse einer Stadt", den Ekkehard Knörer als eine "essayistische Autobiografie des Städtischen" empfiehlt.

Und Tom.

SZ, 21.06.2012

Jörg Häntzschel stellt die Forschungen des Senseable City Lab am MIT vor, das sich mit den Potenzialen von GPS- und anderen Datenmassen für unser Verständnis vom urbanen Raum befasst. Till Briegleb berichtet vom Hamburger Konvent der Stiftung Baukultur, bei der Sachfragen zur Verbesserung des Straßenbilds diskutiert wurden. Alles schon im Internet gesehen: Jan Füchtjohann philosophiert im dunklen Kinosaal über Wohl und Übel des Kinotrailers.

Besprochen werden die Ausstellung über Geschichte und Kultur von Russen und Deutschen im Historischen Museum in Moskau, eine Ausstellung über die Wilhelmstraße in der Nazizeit in der Stiftung Topographie des Terrors in Berlin, eine Ausstellung über Götterbilder und Götzendiener in der Universitätsbibliothek Heidelberg, der Jakobsweg-Film "Dein Weg" mit Martin Sheen ("ein Roadmovie der spirituellen Art", urteilt Rainer Gansera), der Horrorfilm "Chernobyl Diaries", der Schwangerschaftsfilm "17 Mädchen" und Bücher, darunter Terry Eagletons neue Verteidigungsschrift "Warum Marx recht hat" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 21.06.2012

Als lauterer Donaldist gibt sich Christian Geyer in seiner Häme für Angela Merkel zu erkennen, die sich soeben eine barsche Rüge vom Bundesverfassungsgericht eingefangen hat. Darin erscheine die Kanzlerin "als eine Art Schorschel Schachermann, jener Makler bei Donald Duck, der, seine Rechtstreue preisend, wacker dem Gesetz zuwiderhandelt. Systematisch habe die Bundesregierung unter Führung Angela Merkels die Rechte des Deutschen Bundestages verletzt, indem sie es unterlassen habe, das Parlament 'umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt' über bestimmte wichtige Angelegenheiten der Europäischen Union zu unterrichten."

Weiteres: Beim Auseinanderdriften des Kinobetriebs in große Event- und intime Wohnzimmerkinos kommt das Kino als Raum abhanden, glaubt Bert Rebhandl nach dem Besuch eines neuen Berliner Undergroundkinos. "Hätte man Alexander Kluge gewähren lassen (...), so hätte er wohl die ganze Stadt mit Poesie überzogen", schwärmt Uwe Ebbinghaus nach dem Besuch von Kluges Poetikvorlesung in Frankfurt und rät wirklich jedem, den letzten Termin am 26. Juni wahrzunehmen. Wolfgang Sander staunt beim Frankfurter Konzert von Bobby McFerrin und Chick Corea nicht schlecht über McFerrins Kehlkopfkünste: Der "singt, als habe er ein Schlagzeug verschluckt." Regina Mönch stellt die neue, vom Deutschen Historischen Museum erstellte Bilddatenbank zu Hermann Görings Kunstsammlung vor.

Besprochen werden neue Aufnahmen von Friedrich Cerha, eine Ausstellung über Thomas Manns Tochter Elisabeth Mann Borgese im Buddenbrookhaus in Lübeck, Marcus Lobbes' Inszenierung beider "Faust"-Teile am Theater Freiburg, die bei den Musikfestspielen Potsdam Sanssouci aufgeführte Oper "Piramo e Tisbe", der Film "Callgirl" und Bücher, darunter Michael Crichtons postum veröffentlichte Thriller "Micro" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).