Heute in den Feuilletons

Rückerinnerung an das Menschenopfer

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.06.2012. In der NZZ erklärt der ukrainische Autor Mykola Rjabtschuk, wie er die Spaltung zwischen den russischen und nicht-russischen Ukrainern überwinden will. In der Paris Review träumt Umberto Eco von dem Buch, das er gern geschrieben hätte. Der Buchreport berichtet über eine Erklärung von Verlegern zu E-Books, die den europäischen Markt harmonieren soll. Netzpolitik und taz erklären, warum der Ökonom Justus Haucap gegen ein Leistungsschutzrecht im Pressewesen ist. Die SZ möchte den magisch-religiösen Kern der Beschneidung von Jungen nicht missen. Auch Kater Henry gibt seinem mal de vivre Ausdruck.

NZZ, 27.06.2012

Monika Jung-Mounib porträtiert den Intellektuellen Mykola Rjabtschuk, der sich eine Ukraine wünscht, die auch europäische Russen umfasst: "'Russisch sprechen würde nicht mehr die Unterstützung aller sowjetischen Dinge heißen, sondern würde bedeuten, europäische Werte zu akzeptieren', sagt Rjabtschuk. Seit der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 aber wetteifern zwei ganz andere Identitätsprojekte miteinander. Das eine ist das ukrainisch-europäische, das die Ukraine als einen historischen Teil Ostmitteleuropas betrachtet. Das andere beruht auf der Idee der slawischen 'Umma', die aus Russland, Weißrussland und der Ukraine besteht. 'Genau hier prallen die Identitäten aufeinander', sagt Mykola Rjabtschuk."

Besprochen werden die Ausstellung "Bild dir dein Volk!" über Axel Springer und sein Verhältnis zu Israel in Frankfurt, eine Schau zu den spanischen Roma in Granada, Jürgen Schlumbohms Geschichte der Geburtskliniken "Lebendige Phantome", neue Werke des gerade siebzig gewordenen Schriftstellers Gerhard Roth sowie George Saunders' Erzählungen "I Can Speak!TM" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Weitere Medien, 27.06.2012

Lila Azam Zanganeh hat für die Paris Review ein riesiges Interview mit Umberto Eco geführt. Er erzählt, welches Buch seine (aber nicht nur seine) Kapazitäten überschreiten würde: "Until the age of fifty and throughout all my youth, I dreamed of writing a book on the theory of comedy. Why? Because every book on the subject has been unsuccessful, at least all the ones I've been able to read. Every theoretician of comedy, from Freud to Bergson, explains some aspect of the phenomenon, but not all. This phenomenon is so complex that no theory is, or has been thus far, able to explain it completely. So I thought to myself that I would want to write the real theory of comedy. But then the task proved desperately difficult. If I knew exactly why it was so difficult, I would have the answer and I would be able to write the book."

Der Buchreport berichtet über eine europäische Erklärung zu E-Books, in der europäische Verleger beteuern, das Digital Rights Managment lockern und den europäischen Markt für die Nutzer harmonisieren zu wollen. Ein hakeliges Problem bleibt - die unterschiedlichen Mehrwertsteuersätze in Europa: "Zwar deutet das beabsichtigte 'neutrale Mehrwertsteuer-System' auf eine Angleichung der verschiedenen Steuersätze - zwischen 3 Prozent in Luxemburg und 27 Prozent in Schweden (hier die Übersicht). Dies ist insofern überfällig, als die Steuervorteile in Luxemburg dazu führen, dass die dort angesiedelten E-Book-Händler Amazon und Apple deutlich mehr verdienen als Händler in anderen Ländern, was der EU-Kommission ein Dorn im Auge ist."

Welt, 27.06.2012

Wenn man ein Vorbild für ein vereintes Europa sucht, warum auf Amerika schauen, fragt Alan Posener, warum nicht auf die Imperien von Rom, Byzanz und Habsburg? Mara Delius berichtet über eine Tagung in Marbach zu einem Besuch Unselds, Bachmanns und Walsers in Harvard. In der Leitglosse ärgert sich Sascha Lehnartz über die Pariser Ausstellung "Histoires de voir" in der Fondation Cartier mit Kunst aus - von hier aus gesehen - abgelegenen Weltgegenden, die in einem "hyperkonventionellen" Konzept präsentiert wird.

Besprochen werden der neue Spiderman-Film (in dem sich Holger Kreitling gründlich gelangweilt hat), ein Album der Ruhrmetaller "Kreator", Bizets "Carmen" in der Lyoner Inszenierung von Olivier Py ("Carmen (chansonesk: Josè Maria La Monaco), das ist für ihn eine Erotikarbeiterin auf den Barrikaden der Pariser Kommune", schreibt Manuel Brug, der dieser Sichtweise einiges abgewinnen kann), Enrico Lübbes Inszenierung von Horváths "Geschichten aus dem Wiener Wald" am Berliner Ensemble und eine Ausstellung des globalen Wollnetzwerks "The Hyperbolic Crochet Coral Reef" im Museum Kunst der Westküste auf der Insel Föhr:


TAZ, 27.06.2012

Steffen Grimberg referiert einen interessanten Vortrag des Ökonomen Justus Haucap, der sich als Vorsitzender der Monopolkommission der Bundesregierung - und auf Einladung der Initiative gegen ein Leistungsschutzrecht (Igel) - gegen ein Leistungsschutzrecht ausgesprochen hat: "Haucap bezweifelte generell den Sinn des LSG: Schließlich schütze das eine 'kompositorische Leistung der Verlage' - also die komplette Zeitungsausgabe. Dabei habe sich das Nutzerverhalten im Netz ja gerade so verändert, dass dort niemand mehr nach kompletten Zeitungen, sondern 'nach einzelnen Elementen aus unterschiedlichen Quellen sucht'. Diese 'Entbündelung' führe dazu, dass die Nutzer die Komposition von Inhalten jetzt selbst vornähmen."

Weiteres: Tania Martini würdigt Jean-Jacques Rousseau, dem wir unter anderem die Idee verdanken, "dass ein Kollektiv von Menschen Träger der Souveränität sein kann". Nach Sam Raimis doppelcodierten Spider-Man-Filmen erkennt Dirk Knipphals in Marc Webbs "The Amazing Spider-Man" vor allem den Versuch, den Mythos wieder teenagerkompatibel zu machen. Besprochen wird Karl Heinz Roths Schrift "Griechenland: Was tun?" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und Tom.

Aus den Blogs, 27.06.2012

André Meister resümiert für Netzpolitik den Vortrag des Ökonomen Justus Haucap gegen das Leistungsschutzrecht, gehalten gestern auf Initiative des IGEL in Berlin: "Auch wenn man nicht alle Argumente teilt und statt ökonomischer lieber politische Gründe gegen das Leistungsschutzrecht ins Feld führt, macht es doch Mut, wichtige Akteure der Wirtschaft auch mal als Verbündete zu haben."

René Kohl hat in seinem Blog die Berliner Rede Michael Krügers zum Urheberrecht transskribiert und kommentiert, in der der Verleger seinem Unmut darüber Ausdruck gibt, dass "das Netz und die in ihm gefangenen und sich unter Angststress in Windeseile vermehrenden Probleme uns ja bereits seit einiger Zeit bedrücken".

Der große alte Filmkritiker Robert Ebert unterweist den großen alten Darwinisten in der Kunst des Twitterns: "Someone should tell @RichardDawkins how many characters he could save by using bit.ly. His tweets include his full name twice."

Cassie Murdoch hat auf Gawker im Nachruf auf die Filmregisseurin Nora Ephron sechs Videos aus ihren bekanntesten Filmen zusammengestellt: "as Nora herself taught us, the best way to make yourself feel better when you're down is by watching a classic romantic comedy".

(via Gawker) Ja, es ist erst Mittwoch, wenn auch nicht mehr ganz so kalt und regnerisch, und Kater Henry leidet an einem schweren Anfall von Existentialisme:


SZ, 27.06.2012

Das Urteil des Kölner Landgerichts, das die religiöse Beschneidung von Säuglingen als Körperverletzung einstuft (mehr), zeigt, "wie sich das Verhältnis von Recht und Religion in einer Gesellschaft wandelt, die säkular und multireligiös wird", findet Matthias Drobinski, der sich mit dem Urteil nicht abfinden will und die Angelegenheit schon in Karlsruhe liegen sieht: "Manchmal aber ist es überhaupt nicht gut, wenn sich Richter zu Schiedsrichtern der Religion machen, sich über sie stellen, einen Rechtspositivismus quasi zur Ersatzreligion machen." Im beistehenden Interview zeigt der Philosoph Christoph Türcke ebenfalls wenig Verständnis für die Rechtsprechung: "Man muss den magisch-religiösen Kern dieser Praxis erkennen, und dazu bedarf es der Rückerinnerung an das Menschenopfer."

Weitere Artikel: Während man in Nordeuropa den Staat als eine das Gemeinwohl regulierende Instanz der ausgleichenden Gerechtigkeit betrachtet, sieht man ihn in Südeuropa als Antagonisten, den man plündern kann, schreibt Gustav Seibt, der darin eines der zentralen Probleme der "innereuropäischen Solidarisierung" sieht. Till Briegleb konnte sich bei der Theaterbiennale in Wiesbaden vor allem für das Stück "The Blue Boy" begeistern, von dem er sich wünscht, es möge "all jene inspirieren, die immer noch meinen, schreiendes Unrecht müsse man auch schreiend inszenieren". Nach der Adorno-Vorlesung des Soziologen Wolfgang Streeck ist sich Hans-Martin Lohmann sicher, dass "die Krise des Kapitalismus, und ein diffuses Bewusstsein davon, in der Mitte der Gesellschaft angekommen" sei. Die britischen Kritiker (etwa hier) des Ehrendenkmals für die im Zweiten Weltkrieg gefallenen RAF-Piloten, das morgen in London eingeweiht wird, wollen nicht unpatriotisch wirken, berichtet Alexander Menden. Joseph Hanimann gratuliert dem Regisseur Jérôme Savary zum 70. Geburtstag. Christine Dössel verabschiedet die Schauspielerin Doris Schade.

Besprochen werden der neue Spider-Man-Film und Bücher, darunter ein Band mit erstmals ins Deutsche übersetzten Erzählungen von Alice Munro (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 27.06.2012

Edo Reents schreibt eine lange Reportage über die Gema, die in Deutschland mit zahlreichen Außendienstmitarbeitern den Musikbetrieb überwacht und ihren Migliedern Tantiemen zukommen lässt und der andererseits eine Menge Ungerechtigkeiten vorgeworfen werden. Auch mit dem Gema-Vorsitzenden Harald Heker (Jahresgehalt laut Berliner Zeitung 484.000 Euro) hat er gesprochen: "Heker bestreitet nicht, dass die Gema ein Monopol hat. 'Schauen Sie: Es gibt ein böses Monopol und ein gutes. Und Letzteres ist im Falle der Verwertungsgesellschaften, von denen die Gema ja nur eine ist, vom Gesetzgeber ausdrücklich so gewollt.'"

Weitere Artikel: Die Lyrikerin Nora Gomringer berichtet vom Lyrikfestival in Medellin, wo sie als einzige deutsche Autorin eingeladen war.

Besprochen werden der neue "Spider Man"-Film, Ausstellungen des chilenischen Künstlers Alfredo Jaar in Frankfurt, München und Berlin, eine Ausstellung des polnischen Künstlers Pawel Althamer in München und Bücher, darunter Daniel Woodrells Roman "Der Tod von Sweet Mister" (mehr hier und in unsrerer Bücherschau ab 14 Uhr).