Heute in den Feuilletons

Abend bei Grass. Nieren.

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.12.2013. In der FAZ beschreibt Hülya Özkan, wie Tayyip Erdogan seine frommen Anhänger gegen die Mächte der Finsternis in Stellung bringt, womit er aber nicht seine korrupten Minister meint. Nur zur Hälfte positiv bilanziert die SZ die Erfolge des investigativen Journalismus in diesem Jahr. Die taz findet in den Tiefen des Darknet Mittel und Wege zur digitalen Mündigkeit. Die Welt bricht eine Lanze für die Twitteratur. Die NZZ bringt Auszüge aus Max Frischs "Berliner Journal".

NZZ, 28.12.2013

Literatur und Kunst bringt Auszüge aus Max Frischs "Berliner Journal", das zwanzig Jahre nach seinem Tod erstmals veröffentlicht werden darf: "6. 2.: Übernahme der Wohnung (Sarrazin Straße 8) und Abend bei Grass. Nieren ... 9. 2.: Das Bewusstsein, dass ich noch drei oder vier Jahre habe, brauchbare Jahre; aber es wird kein Alltagsbewusstsein, daher immer wieder Erschrecken. Vorallem beim Erwachen. Darüber ist mit niemand zu sprechen."

Als "Hymne auf den weiblichen Körper" goutiert Marc Zitzmann eine große Schau zu Azzedine Alaïa im Pariser Modemuseum: "Man verlässt das Palais Galliera nicht unbedingt klüger, aber den Kopf voller Formen und Farben." Roman Bucheli schreibt den Nachruf auf den rätoromanischen Schriftsteller Oscar Peer. Und die Redaktion kürt ihre Hightlights des Jahres.

Weiteres: Lennart Laberenz begibt sich auf die Spuren des preußischen Brasilien-Erkunders Friedrich Sellow. Felix Philipp Ingold feiert die Wiederentdeckung der brasilianische Schriftstellerin Clarice Lispector (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 28.12.2013

Twittermeldungen werden allmählich als Literatur ernst genommen und erscheinen zunehmend in Buchform - dadurch verlieren sie jedoch ihr Spezifikum als Twitteratur, glaubt Julika Meinert in der Literarischen Welt. In solchen Veröffentlichungen zeige sich die irrige Annahme, dass Tweets "entkontextualisiert" seien, weil ihnen der Rahmen eines Buchanfang und -endes fehlt, meint Meinert: "Dabei ist der Kontext gerade auf Twitter Nährboden und Existenzvoraussetzung: Nur dass dieser Kontext nicht linear und eindeutig ist, sondern unendlich vernetzt. Die Plattform selbst ist der Kontext, in dem diese Art der Literatur entsteht und funktioniert - und nur in diesem. (...) Es gibt keine Offline-Twitteratur. Keine Twitteratur in Büchern. Nicht mal in E-Books."

Weiteres: Auf einer Doppelseite werden die einschlägigen Jubiläen des Jahres 2014 vorgestellt, unter anderem wird "Alice im Wunderland" 150, Donald Duck 80 und "Der Herr der Ringe" 60. Paul Jandl trifft Ann Cotten, das "neue Wunderkind der deutschsprachigen Literatur". Wolfgang Schneider informiert über die Kontroverse zwischen Stefan Rebenich und Uwe Wesel über die Geschichte des C.H. Beck Verlags. Fritz J. Raddatz plädiert in seiner Kolumne für das "Recht auf Selbsttötung". Besprochen werden unter anderem Jiří Robert Picks Novelle "Der Tierschutzverein", Assaf Gavrons Roman "Auf fremdem Land" und ein Prachtband mit Werken von Hieronymus Bosch.

"Das Jahr 2013 war das Jahr des Mittelmeers", schreibt Wolf Lepenies im Feuilleton mit Blick auf die Kulturhauptstadt Marseille und den 100. Geburtstag von Albert Camus, aber auch die Arabellion und Lampedusa. Der Regisseur Philipp Stölzl, dessen Verfilmung von Noah Gordons Bestseller "Der Medicus" zur Zeit im Kino läuft, erklärt in einem Gastbeitrag, was ihn am Mittelalter so fasziniert (möglicherweise als Reaktion auf David Hugendick, der gestern in der Zeit erklärte, weshalb das Mittelalter so entsetzlich nervt). Hannes Stein berichtet von der Ausstellung "The American West in Bronze, 1850-1925" in New York. Manuel Brug porträtiert den Choreografen Alexei Ratmansky. Klaus Geitel schreibt zum Tod der Sängerin und Schauspielerin Martha Eggerth.

Weitere Medien, 28.12.2013

Der Guardian berichtet, dass die Massenüberwachung der Amerikaner durch die NSA nach dem jüngsten affirmativen Urteilsspruch wahrscheinlich vor den Obersten Gerichtshof geht: "A legal battle over the scope of US government surveillance took a turn in favour of the National Security Agency on Friday with a court opinion declaring that bulk collection of telephone data does not violate the constitution. The judgement, in a case brought before a district court in New York by the American Civil Liberties Union, directly contradicts the result of a similar challenge in a Washington court last week which ruled the NSA's bulk collection program was likely to prove unconstitutional and was 'almost Orwellian' in scale."

TAZ, 28.12.2013

Vielleicht sollten wir uns doch alle mit Kryptografie, dem Tor-Netzwerk und dem Darknet jenseits von Google und digitalen Spurenfährten befassen? Johannes Gernert jedenfalls beginnt bei seiner Reise ins dunkle Internet wieder von alten Netzutopien zu träumen - und das, obwohl einer der Protagonisten im Darknet derzeit wegen Anstachelung zum Mord in Untersuchungshaft sitzt. "Wenn in einer überwachten Online-Welt jeder ohnehin als potenzieller Verbrecher gilt, muss man sich dann vielleicht einfach verhalten, als wäre man ein Drogenbaron? ... [Doch] je länger man den Fall des Grausamen Piraten Roberts rekonstruiert, je länger man all die Darknet-Seiten sichtet, desto mehr scheint darin eine Chance auf: Dass 2014 zum Jahr der digitalen Mündigkeit werden kann, des digitalen Ungehorsams. Man muss sich dafür auf die Instrumente konzentrieren, die der Pirat genutzt hat. Das Tor-Netz, die Bitcoins."

Ekkehard Knörer freut sich, dass mit dem Film "Das merkwürdige Kätzchen" der Gebrüder Zürcher ein ganz und gar bemerkenswerter Berliner Studentenfilm nach vielen Festivalerfolgen nun auch regulär ins Kino kommt: Dieser Film "zeigt dem oft so starren und dummen Fördersystem, wie man es auch machen kann. Zwei Zürchers und ein merkwürdiges Kätzchen haben wir nun. Wir brauchen mehr davon." Hier auch unsere Kritik von der vergangenen Berlinale.

Weitere Artikel: Katrin Bettina Müller porträtiert die neue Kulturstaatsministerin Monika Grütters. Dominik Drutschmann spricht mit dem Schauspieler Fabian Hinrichs über Fernsehruhm und seine künftige Rolle als Ermittler im Franken-Tatort. Die Nordausgabe der taz bringt eine Erzählung der Schriftstellerin Katrin Seddig, die sonntaz Gedichte der Lyrikerin Maren Kames, die gerade beim Open-Mike-Wettbewerb mit dem taz-Publikumspreis ausgezeichnet wurde (eine Aufnahme davon hier). Außerdem wünscht sich Waltraud Schwab, dass die Sängerin Shara Worden 2014 ihren ganz großen Durchbruch erlebt. Auf Youtube spielt sie Ukulele:



Besprochen werden das neue Album von Die Heiterkeit, das Debütalbum von Die Höchste Eisenbahn (hier Hörproben), eine Bühnenadaption der Serie South Park in Hannover, die Ausstellung "Into Pieces" in der Kunsthalle Bremen und der Kunstband "Neues Geld - die Währungen nach dem Euro", der alternatives Gelddesign vorstellt (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Und Tom.

SZ, 28.12.2013

In der Wochenendbeilage bilanziert Georg Mascolo das Jahr 2013 aus Perspektive des investigativen Journalismus. Ergebnis: Trotz großer Erfolge - Snowden! - niederschmetternd, in der ganzen Welt, aber auch in den USA: "In dem Land, in dem Meinungs- und Pressefreiheit einst zum Ersten Verfassungszusatz erklärt wurden, muss das diffuse Wort 'Staatsgeheimnis' als Begründung für die Verfolgung von Journalisten und ihrer Quellen herhalten. Der Begriff ist hinreichend willkürlich, jede Regierung kann entscheiden, was zum Geheimnis erklärt werden soll. Die Folter in Guantanamo war ebenso 'streng geheim' wie die weltweite Überwachung Millionen unverdächtiger Menschen durch die NSA. Und ebenso natürlich das Abhören der Bundeskanzlerin."

Weiteres im Feuilleton: Gustav Seibt denkt anlässlich des für 2014 anstehenden Gedenkens an den Beginn des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren über dessen anhaltende Gegenwärtigkeit im heutigen Diskurs nach. Peter Münch unterhält sich in Tel Aviv mit dem auf Raubkunst spezialisierten Anwalt Joel Levi. Dorion Weickmann trifft sich mit der Tänzerin Diana Vishneva. Kai Strittmatter porträtiert den - von den chinesischen Radios boykottierten - Liedermacher Zuoxiao Zuzhou. Eine Hörprobe auf Youtube:



Besprochen werden eine Paul-Klee-Ausstellung in London, Philipp Stölzls Verfilmung von Noah Gordons Bestseller "Der Medicus", eine CD des Hornisten Felix Klieser und Bücher, darunter Rolf Wiggershaus' Einführung in Max Horkheimers Denken (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 28.12.2013

Die Journalistin und Autorin Hülya Özkan beschreibt, mit welch schematischen Verschwörungstheorien Tayyip Erdogan auf den Korruptionsskandal in der Türkei reagiert: "Er appelliert an seine Leute, nicht in die Falle dieser 'Provokateure' zu tappen. 'Sein Volk' müsse dieses 'dreckige Spiel' aufdecken, das nicht nur gegen die AKP, sondern gegen sie alle gerichtet sei. Er lobt, er umschmeichelt die Anwesenden, fragt dann mit aufgekratzter Stimme: 'Seid ihr bereit, dieses Spiel zu zerstören?'. Einmal, zweimal, dreimal. Auf diese drastische Rhetorik antworten seine Anhänger mit einem euphorischen 'Jaaa'. Den dunklen Mächten aus dem Ausland werde man die Kehle zudrücken, die Hände brechen. Ein Weltbild eingeteilt in Gut und Böse." (Hier mehr zu den aktuellen Protesten gegen Erdogan und ihre gewaltsame Niederschlagung).

Weiteres: Kerstin Holm vermisst nach ihrer Rückkehr aus Moskau die russischen Männer, die nur anfangs charakterschwach und unfroh wirkten, aber im Vergleich zu deutschen Männern erheblich an Statur gewännen. Mark Siemons berichtet, wie kriegslüstern Chinas Blogger auf den Besuch des Yasukuni-Schreins durch Japans Premier Shinzo Abe reagieren. Stefan Schulz lernte beim Jahreskongress des CCC, wie sich lingustische Überwachungsprogramme nutzen lassen, um negatives Denken zu erkennen. Jürgen Kaube mokiert sich über Thomas Assheuers Heidegger-Verdammung in der gestrigen Zeit. Jürgen Dollase nimmt die Küche des 3-Sterne-Kochs Helmut Thieltges vom "Waldhotel Sonora" unter die Lupe. In Generationen werden Michael Krüger und seine Nichte befragt. Und die Redaktion blickt auf die interessantesten Neuerscheinungen zurück.

Besprochen werden unter anderem Claire Denis' Erotik-Thriller "Dreckskerle", Jutta Stalforts Studie "Die Erfindung der Gefühle" und Kinderbücher (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

In der Frankfurter Anthologie wird ein Text Marcel Reich-Ranickis zu Wolf Wondratscheks "Am Quai von Siracusa" abgedruckt:

"Die Möwen lassen sich durch Winde fallen,
die Schiffe liegen wie auf Grund.
..."