Magazinrundschau

Preziöser Puritanismus

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
10.04.2012. Reason erklärt, warum im Journalismus die Verlierer die Geschichte schreiben. Salon.eu.sk erklärt, worin sich Tschechen und Slowaken unterscheiden. In der New York Review of Books erklärt J.M. Coetzee, warum Werther sterben musste.

Le Monde (Frankreich), 09.04.2012

Der Puritanismus ist der wahre Feind der Literatur, meint Michel Crepu, Chefredakteur der Zeitschrift Revue des deux mondes in einer Replik auf den Schriftsteller Charles Dantzig. Dieser hatte am 17. März in Le Monde den neuen Hang zum Realismus angeprangert, mit dem Schriftsteller gegenwärtig die Welt beschrieben - wie Journalisten, worin Dantzig ein Symptom des Populismus sieht. Crepu meint dagegen: "In Wirklichkeit ist es streng genommen nicht so sehr der 'Populismus', der die Literatur bedroht, sondern eine Form des preziösen Puritanismus, an den die französische Literatur von de Sade bis Bataille nicht gewöhnt war." Er führt das auf einen Selbsthass zurück, der auf einenn "gewissen Juni 1940" zurückgehe. "Seitdem ist die französische Literatur von einer tödlichen Krankheit heimgesucht und stellt sich unter die Aufsicht eines stählernen Über-Ichs: Man würde fast sagen, sie braucht permanent Schuldige als Krücke um gehen zu können. sie braucht Thesen, Anliegen, sonst fühlt sie sich verloren. Sie hat Angst vor der Leere, panische Furcht vor Leichtigkeit wie Tiefe."

Zu lesen ist außerdem eine Antwort der Anthropologin und Schriftstellerin Chahdortt Djavann auf das Gedicht von Günter Grass. Djavann glaubt, der Iran habe Besseres und Intelligenteres mit einer Atombombe vor, als sie auf Israel zu werfen: nämlich damit wirkungsvoller die Hamas und die Hisbollah sowie andere fundamentalistische und terroristische Bewegungen weltweit unterstützen zu können.
Archiv: Le Monde

Reason (USA), 08.04.2012

Normalerweise heißt es nach einem Churchill-Zitat, dass Geschichte von Siegern geschrieben werde. Im Fall des aktuellen Medienwandels, konstatiert der Chefredakteur von Reason, Matt Welch, ist das genau umgekehrt: Geschichte wird von Verlierern geschrieben, von Journalisten, die den Niedergang der Zeitungen als Katastrophe der Öffentlichkeit darstellen. Welch zeigt in seinem Essay, wie anders das aus der Sicht der Leser aussieht, die in ihren Interessengebieten wesentlich mehr Informationen finden als zuvor, und warnt dennoch, dass die Klagegesänge der Journalisten fatale Auswirkungen haben könnten, denn "sie beschleunigen nicht nur den Verfall der eigenen Industrie und verwechseln ihn mit dem der Demokratie, sie beraten auch aktiv die Federal Trade Commission in der Frage, wie Gesetze neu gechrieben werden könnten, um Nachrichten-Aggregatoren - von Google News bis zu einzelnen Blogern - zu bestrafen, deren Arbeit sie als schädlich für sich ansehen. Dollars jedes einzelnen amerikanischen Steuerzahlers könnten demnächst an eine Industie umverteilt werden, die bis vor sehr kurzer Zeit zu den profitabelsten der Vereinigten Staaten zählte." Welch veröffentlicht demnächst ein Buch zu diesem Thema.
Archiv: Reason
Stichwörter: Google News, Medienwandel

Salon.eu.sk (Slowakei), 02.04.2012

Auf der Fahrt zu Vaclav Havels Begräbnis denkt Martin Simecka über den Unterschied zwischen Tschechen und Slowaken nach. Es überrascht ihn selbst, dass es tatsächlich Unterschied gibt. Die Slowaken sind zum Beispiel viel realistischer als die Tschechen, glaubt er. "In tiefen Tälern lebend, die von bedrohlichen Bergen umgeben sind, haben sie besser verstanden, dass sie an der Peripherie leben und ihr Überleben von ihrer Loyalität mit einem fernen Zentrum der Macht abhängt. Diese Loyalität ist das Schicksal eines kleinen Staates in der Europäischen Union, deren Zentrum weit im Westen liegt. Es ist einer der Gründe, warum die Slowaken den Euro übernommen und auch sonst alles getan haben, um sich als verlässliches Mitglied der europäischen Gemeinschaft zu zeigen. Anders als Vaclav Havel haben die meisten Tschechen, die hussitische Tradition der Rebellion beschwörend, nicht verstanden, dass sie genau so Provinz sind wie die Slowaken. Statt dessen benehmen sie sich wie die Briten. Sie leben auf einer eingebildeten Insel, von der sie jeden vertrieben haben, der diese Einbildung bedrohen könnte - Bären und Wölfe ebenso wie Sudetendeutsche. Darum gehören sie zu den leidenschaftlichsten Gegnern der Europäischen Union, in die Havel sie getrieben hat."
Archiv: Salon.eu.sk

La vie des idees (Frankreich), 05.04.2012

Zu lesen ist die Kurzfassung eines Gesprächs, das David Bornstein mit einer tunesischen Zeichnerin führte, die ihre satirischen Kommentare auf die gegenwärtige gesellschaftlichen Umbrüche in ihrem Land unter dem Pseudonym Willis from Tunis veröffentlicht. Sie wünscht sich, dass endlich Schluss ist mit der Selbstzensur, der allgegenwärtigen Schere im Kopf. Sie genieße die neugewonne Freiheit und möchte nie mehr in die Zeiten der Einschüchterungen zurückfallen, unter denen man jahrzehntelang gelitten habe. Frei zu arbeiten empfindet sie als Katharsis und als ein Mittel, die Angst zu überwinden. "Zum Glück gab es Facebook, das Internet oder Twitter, um all das zu teilen. Heute, sogar nach den Wahlen, sogar nach den Ergebnissen, die uns alle ein wenig stören, sind es wichtige Kommunikationsinstrumente, viel wichtiger als das Fernsehen, Radio oder sonstige Medien. Sie sind das Hilfsmittel, um unsere Gedanken mit Tausenden von Menschen, egal ob dafür oder dagegen, auf eine maximale Weise zu teilen." Hier das vollständige Gespräch auf Video.
Stichwörter: Selbstzensur, Umbruch

New York Review of Books (USA), 26.04.2012

J.M Coetzee feiert Stanley Corngolds neue Übersetzung von Goethes "Werther" als sehr feinfühlig und von höchster Qualität. Auf den Werther selbst würde er eh nichts kommen lassen: "Zwei Energien fließen in seine Erschaffung: die bekenntnishafte, die dem Buch seine tragische emotionale Kraft gibt, und die politische. Leidenschaftlich und idealistisch, repräsentiert Werther das Beste einer neuen Generation von Deutschen, die das Aufwühlende der Geschichte deutlich spüren und ungeduldig die Erneuerung einer erstarrten sozialen Gesellschaft erwarten. Eine unglückliche Liebe mag seinen Selbstmord auslösen, aber der tiefere Grund liegt im Scheitern der deutschen Gesellschaft, jungen Menschen wie ihm etwas anderes zu bieten als das, was Goethe später das 'schleppende, geistlose, bürgerliche Leben' nennen sollte."

Weiteres: Trotz einzelner Einwände lobt Christopher de Bellaigue die Hadsch-Ausstellung im British Museum, die ihm klarmachte, dass "der Islam für einen gläubigen Muslim in erster Linie ein Glauben, und erst in zweiter eine Kultur ist". Der chinesische Astrophysiker Fang Lizhi erzählt, wie Peking ihn 1989 nach seiner Flucht in die amerikanische Botschaft dazu bringen wollte, zu gestehen und zu bereuen.