9punkt - Die Debattenrundschau

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

Februar 2021

Verrühre und empöre

27.02.2021. Freiheit ist nicht Urlaub und Einkaufen, sondern das, wofür die Belarussen seit Monaten kämpfen, lassen sich die Feuilletons von Herta Müller und Swetlana Alexijewitsch ermahnen. In der SZ warnt Gesine Schwan vor dem Umschlag der Identitätspolitik in die zersetzende Ideologie. In der New York Times fragt Nicholas Kristof, warum die USA Mohamed Bin Salman mit einem Mord davon kommen lassen. In der FAZ prangert der frühere Clinton-Berater Ben Scott die kalte Optimierungslogik von Facebook und Google an. Und ZeitOnline erkennt eine Selbstbestätigungsbias bei Jan Böhmermann.

Es fühlt sich an wie eine Zeitenwende

26.02.2021. Das niederländische Parlament hat gestern als erste Volksvertretung der EU die chinesische Behandlung der Uiguren als "Genozid" bezeichnet, berichtet politico.eu. Die NZZ plädiert für das  skrupulöse Argumentieren. Die SZ wirft einen Blick auf die Beziehung zwischen Sozialdemokraten und Soldaten. Amnesty international entzieht Alexei Nawalny den Status eines "Prisoner of conscience" - die taz kritisiert die Entscheidung.

Narrativ einer Befreiung

25.02.2021. Der Tagesspiegel nennt bestürzende Zahlen aus dem Kulturbetrieb: Am stärksten wirkt sich die Coronakrise auf den Markt für die Darstellenden Künste aus, mit einem Umsatzverlust von 85 Prozent. Die katholische Kirche hat nur noch eine Wahl: Entweder sie wird evangelisch oder zur Sekte, meint Alan Posener in Zeit online. Auch die Linke hat eine schmerzhafte Geschichte sexuellen Missbrauchs aufzuarbeiten - die FAZ stellt eine Vorstudie zu pädokriminellen Netzwerken vor.

Mit einer Taschenlampe auf dem Hof

24.02.2021. Es gibt noch Sklaverei in der Welt. Der Guardian hat mal zusammengezählt: 6.500 Vertragsarbeiter aus Indien, Pakistan, Nepal, Bangladesch und Sri Lanka sind beim Bau der Stadien für die Fußball-WM in Katar 2022 ums Leben gekommen: Das wird ein Fußballfest! Joshua Benton schildert im Niemanlab den australischen Kampf zwischen den Internetgiganten und Rupert Murdoch als Kampf zwischen Bösen und Bösen. Die Springer-Medien Welt und Politico sind aber soweit einverstanden mit dem, was kommt. In der NZZ singt Samuel Schirmbeck ein Loblied auf den Mut der IslamkritikerInnen in arabischen Ländern.

Im Gegenwind des Widerspruchs

23.02.2021. Facebook und die australische Regierung haben einen Kompromiss geschlossen, berichten die Agenturen: Facebook darf sich nun offenbar aussuchen, an welche Zeitungen es Lizenzgebühren zahlt. Zugleich meldet die Financial Times, dass Microsoft sich mit den mächtigsten Zeitungslobbies in Europa zusammentut, um das australische Modell auch in Europa durchzusetzen. Die FAZ-Redakteurin Sandra Kegel hat einen veritablen Shitstorm erlebt, weil sie in einem Kommentar das Manifest der #actout-Initiative zart kritisierte, berichtet die SZ. Google hat die Titanic-App wieder freigeschaltet und entschuldigt sich mit einer Karikatur, meldet Spiegel online.

Reale Ortserfahrung

22.02.2021. Was hat die Maoisten unter den 68ern am Maoismus fasziniert? Leider nicht ein Versprechen auf Emanzipation, fürchtet Hans-Christoph Buch in der NZZ:  "Es war die jakobinische Schärfe, ein mit Fanatismus gepaarter Vernichtungswillen." Der CDU-Politiker Ralph Brinkhaus forderte eine "Revolution" des Föderalismus in Deutschland. Prima, sagen die Ruhrbarone, aber das haben die deutschen Kaiser schon vor tausend Jahren probiert. Die Migrationsforscherin Naika Foroutan fordert in der taz eine Migrantenquote.

Verständigung über das Rechte

20.02.2021. Wohltuender Universalismus: Die Zeitungen erinnern an John Rawls, der in diesen Tagen hundert Jahre alt geworden wäre. Seine Theorie der Gerechtigkeit konnte aber auch ungemütlich werden, erinnert Otfried Höffe in der FR. Die Philosophin Maureen Maisha Auma sieht sich nach einem Interview heftigen Attacken der AfD ausgesetzt, berichtet der Tagesspiegel. Die Welt legt eine Archäologie des Modeworts "Woke" vor. ein Fall von kultureller Aneignung? In der SZ erzählt die philippinische Journalistin Maria Ressa, warum sie ein Online-Magazin gründete und warum die unmittelbare Zukunft ihres Landes unruhig werden könnte.

Warum Notrufe nicht angenommen werden

19.02.2021. Die Zeitungen gedenken des Attentats von Hanau. Es gab krasses Behördenversagen, aber Deniz Yücel ist in der Welt alles in allem optimistisch: "Die Rassisten von heute befinden sich in einem Abwehrkampf." Mark Terkessides fordert in der taz nach Hanau "Vielheitspläne" und "Mainstreamen" von Gesetzestexten im Hinblick auf rassistische Effekte. In der SZ behauptet Susan Neiman, es habe nach dem "Weltoffen"-Aufruf großer Kulturinstitute Drohungen mit Dienstverfahren und Haushaltskürzungen gegeben. Die taz erklärt, was "Menschen mit 'Nazihintergrund'" sind, die nun von zwei Künstlern mit Instagram-Videos denunziert werden.

Bezugsschein für Sympathie

18.02.2021. Australien erlässt eine Art Linksteuer für die großen Internetplattformen - Facebook teilt darum mit, in diesem Land keine Links auf Medieninhalte mehr zuzulassen. Google hat dagegen mit Rupert Murdoch einen Deal geschlossen, um weiter zu verlinken - eine Katastrophe, meint Jeff Jarvis bei cjr.org. Erleichterung bei der Stiftung Preußischer Kulturbesitz: Man darf sich zurücklehnen und die Tage bis zur Pension runterzählen, berichtet die SZ. In der Zeit rät Bill Gates den Deutschen zu Atomkraft.

Eine Art Lyrik des öffentlichen Diskurses

17.02.2021. Im New Yorker nimmt Masha Gessen die Vorwürfe gegen Alexei Nawalny unter die Lupe und verteidigt ihn am Ende. In der FAZ malt Anja Zimmer, Chef einer Landesmedienanstalt, ein Horrorszenario aus: Man stelle sich vor, Rezo wäre ein Relotius. Die NZZ bezweifelt mit Blick auf die Gender-Reformen des Duden den direkten Einfluss von Sprache auf die Wirklichkeit. Und geschichtedergegenwart.ch fragt: War Kleopatra weiß oder schwarz?

Insgesamt 5.013.046 Waffen

16.02.2021. Die Deutschen haben schockierend viele Waffen, und viele davon liegen in den Schränken von Rechtsextremisten, konstatiert die taz ein Jahr nach dem Anschlag von Hanau. In der SZ erklärt der Althistoriker Michael Sommer, warum er sich dem "Netzwerk Wissenschaftsfreiheit" angeschlossen hat. Nein, wir leben nicht in einer Expertokratie, beruhigt der Soziologe Alexander Bogner in der Welt. Golem.de schildert einen Karikaturenstreit zwischen Google und Titanic: Sind zotige Papst-Karikaturen auf den Handys künftig noch möglich?

Selbst mit Posaunen und Trompeten

15.02.2021. Wie wär's wenn die Deutschen mal mit dem Schreiben von Dissertationen, diesem "Stumpfsinn für Fortgeschrittene", aufhören würden, fragt die SZ. In der FAZ sucht Ralf Fücks nach den Gründen für die Russland-Liebe der Deutschen. In der taz verteidigt die SPD-Abgeordnete Maja Lasić das Berliner Neutralitätsgesetz. Der Spiegel liest neue Bücher zu Postkolonialismus und Mbembe-Debatte.

Freiheit, Gleichheit und Überfluss

13.02.2021. Ein Jahr nach den Morden von Hanau untersucht Klaus Theweleit in der taz den Tätertypus des panischen Soldatenkillers. Woke ist nicht links, meint Bernd Stegemann in der Welt, sondern moralisch-regressiv, also reaktionär. In der SZ bescheint Nele Pollatschek denjenigen ein Empathie-Problem, die den vorrangigen Impfschutz für Männer kategorisch ablehnen. Ebenfalls in der SZ stemmt sich Durs Grünbein gegen den Revisionismus, der seit dem 13. Februar 1990 die Bombardierung Dresdens vereinnahmt. Die FAZ beobachtet staunend die Zerknirschung der Cinque Stelle. Und die NZZ plädiert für mehr Karneval.

Sehr französische Mischung

12.02.2021. Die SZ recherchiert zu den Zuständen des Staatssenders Deutsche Welle, der nicht zur Ruhe kommt. Im Van Magazin sieht der russische Komponist Vladimir Rannev keinen Ausweg aus dem "Prozess der Barbarisierung" in Russland. Die taz macht sich Sorgen über Emmanuel Macrons neue Gesetze zur Stärkung des Laizismus.  In der FAZ spricht Alain Finkielkraut über den Fall Olivier Duhamel und die französischen Medien.

Den Knacklaut benutzen

11.02.2021. Die Zeit hat ein großes Dossier zur internationalen Vernetzung militanter bis terroristischer Rechtsextremisten zusammengestellt. Die Welt erzählt, wie sich Privatmedien in Polen gegen die Gängelung der rechtspopulistischer Regierung wenden. Bülent Mumay fragt in der FAZ ob der nationalistische Autokrat Erdogan Studierende zusammenprügelt, um von der Wirtschaftskrise abzulenken. Richard Herzinger fragt in seinem Blog, warum ein Pate des Rechtsextremismus ausgerechnet von Frank-Walter Steinmeier hofiert wird - und ausgerechnet mit Verweis auf die deutsche Vergangenheit. Und das alles für Nord Stream 2.

Zivilisierter Austausch

10.02.2021. Eins kann man aus der Geschichte der Pest lernen, informiert der Historiker Volker Reinhardt in der FR: Besser werden die Menschen durch eine Pandemie nicht. Und die EU-Kommission auch nicht, hat die FAZ recherchiert. Das häufig als schlimm kritisierte Internet hat manchmal auch gute Seiten, notiert die SZ, zum Beispiel Clubhouse in China. Ist aber schon wieder verboten. Die New York Times amüsiert sich über die Franzosen, die sich gegen Social-Justice-Theorien aus Amerika wehren. "In Belarus ist es das ganze Land, das aufsteht", betont der Autor Sascha Filipenko in der taz.

Konflikte, die die zwanziger Jahre prägen werden

09.02.2021. Die FAZ porträtiert den Lehrer Didier Lemaire aus Trappes, der unter Polizeischutz steht, seit er vor Islamismus in den Banlieues warnte - und wir zitieren aus seinem offenen Brief im Nouvel Obs. In der NZZ fragt Zsuzsa Breier, ob 2021 für Wladimir Putin zu 1989 werden könnte. Der Guardian fragt, wozu die britischen Parlamentarier "Queen's Consent" brauchen. Und warum gleich bei tausend Gesetzen?  In der SZ erklärt Thomas Brussig, warum er jetzt für eine Diktatur ist. Bei Persuasion geißelt John McWhorter den "Neorassismus" der Antirassisten.

Wenn es am Kaiserreich etwas zu feiern gilt

08.02.2021. In der FR fordert die Historikerin Dorothee Linneman Denkmäler für die Heldinnen der Frauenbewegung. Die SZ erzählt, wie EU-Mitglied Luxemburg zum zweitreichsten Land der Welt wurde. Die NZZ wirft einen kritschen Blick auf die Bundeszentrale für politische Bildung, die ihre Stellenzahl und ihr Budget in einigen Jahren verdoppelte. Die taz erzählt, wie sich Holocaustforscher in Polen gegen Angriffe von rechts wehren müssen. In der NZZ fragt Ulrike Ackermann: Wo sind die Intellektuellen der Mitte?

In der Pose größter Gewissheit

06.02.2021. Im Guardian behauptet Brian Eno, dass er wegen der BDS-Resolution des Bundestags nicht mehr in Deutschland auftreten könne: Hier herrsche ein Klima des Maccarthyismus. Im Spectator fragt Nick Cohen mit David Baddiel: Warum zählen Juden nicht für Antirassisten? Durch die Corona-Pandemie verschärft sich die Lage für Mädchen in Ländern, wo Genitalverstümmelung praktiziert wird, berichtet die taz. Im Spiegel fordert die Virologin Melanie Brinkmann einen noch schärferen Lockdown, während Otfried Höffe in der Welt die Schüchternheit der Parlamente kritisiert.

Alles nur Erdenkliche und das Gegenteil dessen

05.02.2021. "Dieses Wort ist voller Blut": In der Welt erklärt der Rom-Aktivist Gianni Jovanovic, warum das Wort "Zigeuner" eine Stigmatisierung und Machtkonstruktion ist. Nun kommt die Urheberrechtsreform tatsächlich: Uploadfilter, die auf keine Fall kommen sollten, kommen doch. Und auf sozialen Plattformen darf man kein Tweet mehr ganz zitieren, notieren taz und Netzpolitik. Das Urteil des Supreme Court in den USA zum Welfenschatz - zuständig sind zunächst mal deutsche Gerichte - wird als wegweisend kommentiert.

Selbstreferenzieller Zirkel

04.02.2021. Putin mag im Fall Nawalny den Richter und den (dilettantischen) Henker gespielt haben, ermöglicht wird sein Regime durch Deutschland, schreibt Garri Kasparow bei CNN. Ein neues Netzwerk für Wissenschaftsfreiheit will sich gegen Konformitätsdruck in den Unis stellen - die Zeitungen reagieren unterschiedlich. Die SZ freut sich über die Verknappung von Zitatobergrenzen im neuen Urheberrechtsentwurf der Bundesregierung. Erben ist ungerecht, sagt der Soziologe Jens Beckert in der Zeit.

Dieser diebische kleine Mann in seinem Bunker

03.02.2021. Alexei Nawalny ist zu drei Jahren Lagerhaft verurteilt worden. Zeit online fragt, ob er nun zu einem Symbol wie einst Nelson Mandela werde. Ebenfalls auf Zeit online erklärt ein russischer Lehrer, warum er für Nawalny demonstriert. Das Online-Portal Meduza bringt Nawalnys Statement beim Prozess auf Englisch. Julia Reda antwortet bei Netzpolitik auf Mathias Döpfner, für den die Demokratie am Ende ist, falls er nicht allein trackingbasierte Werbung machen darf. Die Überwachung der AfD durch den Verfassungsschutz wäre ein Desaster für die Partei, meint der Rechtsextremismus-Experte Alexander Häusler in der taz.

Die Tomatensoße, die früher "Z*-Soße" hieß

02.02.2021. Zeit online macht klar, wie groß das deutsche Interesse ist, dass auch in Afrika geimpft wird.  Was Europa angeht, da ist Geert Mak in der SZ recht optimistisch: "Modernisierung Südeuropas, gemeinsame Umweltpolitik, da passiert viel." Parteistiftungen sind in Deutschland sehr reich, demnächst auch die Erasmus-Stiftung der AfD: Meron Mendel möchte in der taz nur ihr das Geld wegnehmen. Die Generäle in Myanmar würden nicht putschen, wenn China nicht dafür wäre, meint Foreign Policy.

Findungsvorgang

01.02.2021. Ungarn ist inzwischen so auto- und kleptokratisch durchstrukturiert, dass es egal ist, ob die Opposition auch mal eine Wahl gewinnt, meint Paul Lendvai in der taz.  In der FAZ schildert Bülent Mumay den türkischen Impfdeal mit China: Die Türkei kriegt Impfstoff, China bekommt exilierte Uiguren. Vielleicht werden sie ja mit einem VW ins Lager chauffiert, fragt man sich nach Lektüre eines Welt-Artikels.  Mit der Garnisonkirche wird auch ein Symbol der Unterdrückung Polens wiederaufgebaut, schreibt die Historikerin Agnieszka Pufelska in der FAZ.