9punkt - Die Debattenrundschau

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

November 2022

Eine Botschaft, die ohne Worte auskam

30.11.2022. In der SZ warnt Liao Yiwu vor "Covid-1984" - das Virus könnte eine "Revolution des leeren Blatts" auslösen. In der taz wird gefragt, ob der Holodomor ein Völkermord war - der Historiker Guido Hausmann stellt den historischen Kontext her. Welt-Autor Thomas Schmid geht der Frage nach, ob der Völkermord an den Herero eine Vorstufe zum Holocaust war. Der Guardian erzählt, wie die "Universalkirche des Königreichs Gottes" Jugendliche terrorisiert.

Nicht auf der Berliner Stadtautobahn

29.11.2022. Im Tagesspiegel gibt Peter Sloterdijk der Letzten Generation Tipps, wo sie sich überall noch ankleben kann. Homosexuelle in Uganda fliehen vor immer neuen Gesetzen, berichtet die taz - der Druck gegen sie geht von der sehr frommen Präsidentengattin Janet Museveni aus. Die Welt atmet auf: Russland ist vom Präsidentenamt der Welterbekommission zurückgetreten. Und große Zeitungen von New York Times bis El Pais treten für Julian Assange ein.

Von innen heraus umkämpft

28.11.2022. Die Welt staunt über die Proteste in China - die größten und mutigsten seit den neunziger Jahren, so die taz. Im Observer fordert Kenan Malik universelle Werte für alle  - auch für die Katarer. In der Welt fürchtet der Russland-Historiker Orlando Figes  einen langen Krieg in der Ukraine. In der FAZ fordert Michael Wolffsohn eine neue Gedenkkultur in Deutschland, die auch Bevölkerungsgruppen mit Migrationshintergrund einschließt. hpd.de erklärt am Beispiel der amerikanischen Evangelikalen, wie der Klimawandel auf Apokalyptiker wirkt.

Woher sollte ich wissen, dass es diesmal anders läuft?

26.11.2022. Radikaler Pazifismus macht erpressbar, ruft Eva Quistorp in der taz, in Erinnerung an die grüne Friedenspolitikerin Petra Kelly. Ein akzeptabler Frieden führt nur über den Sieg der Ukraine, betont auch Timothy Garton Ash im Guardian. Die NZZ erzählt, wie Italiens neue Kulturpolitiker - telegen und aufbrausend - die Kultur aufstören. In der taz spricht Whistleblowerin Chelsea Manning über ihre Haft. Und die FAZ fragt sich, warum all die Wissenschaftler, die so gern gegen Verdinglichung anschreiben, erst jetzt Twitter verlassen.

Wer schlägt, der geht

25.11.2022. Die Journalistin Natalja Sindejewa und die Anthropologin Alexandra Arkhipova analysieren in FR und Zeit online die russische Propaganda. Die FR fragt: Wenn Timothy Snyder Spenden für Drohnen einwirbt, muss man dann noch seine These ernstnehmen, dass die russische Kriegsführung genozidal ist? Die Grünen-Politikerin Tuba Bozkurt verteidigt in der taz die Kopftuchlosigkeit im Iran und das Kopftuch an Berliner Schulen. Die FAZ fordert Fußfesseln für gewalttätige Männer. Und traurig ist sie auch: Geht nun auch noch der Fischer-Verlag nach Berlin?

Berlin, Hauptstadt der organisierten Unzuständigkeit

24.11.2022. Ein Team von CNN-ReporterInnen weist in einer Online-Reportage nach, dass iranische Behörden Vergewaltigung als Waffe gegen Demonstrantinnen benutzen. In der Welt kritisiert Thomas Schmid die Dirk-Moses-Fraktion im Historikerstreit 2.0, fragt aber auch, wie sich das Gedenken aus seiner Ritualisierung lösen lässt. Die katholische Kirche will ihr Arbeitsrecht reformieren, schön, findet hpd.de, aber die Initiative dazu sollte vom Staat ausgehen. in der FAZ träumt die Wissenschaftshistorikerin  Lorraine Daston doch nochmal den Traum von der Einheit der Wissenschaft.

Erhöht und neugebaut

23.11.2022. "Unfassbar scheinheilig" ist die Geschichte um die "One Love"-Binde, und dies von allen Seiten her betrachtet, finden SZ, Guardian und die taz. Die FAZ erzählt, wie der staatlich bestellte "Sunnitische Rat" in Baden-Württemberg liberale Theologen drangsaliert. Das Bundeskanzleramt ist zwar jetzt schon zehnmal so groß wie Downing Street Nummer 10 in London, aber es soll nochmal verdoppelt werden, staunt ebenfalls die FAZ. Und Dissent berichtet über den Streik an den kalifornischen Unis - den größten in der Geschichte amerikanischer Universitäten.

Meilenweit vom Prozess einer Säkularisierung entfernt

22.11.2022. Während die iranischen Fußballer Mut zeigen und bei der WM ihre Hymne nicht mitsingen, geben sieben mächtige europäische Fußballverbände nach und verzichten auf ihre "One Love"-Armbinde. Ein verdächtig willfähriges Einknicken, findet die SZ. hpd.de staunt über die britische Regierung, wo eine Abtreibungsgegnerin sich jetzt um Gleichstellung kümmern soll. Ebenfalls hpd.de zitiert aus einem Grundsatzpapier der bayerischen FDP zu Staat und Religion,das geradezu revolutionär klingt. Die FAZ thematisiert die genozidale Politik Chinas in Xinjiang.

Ein freier Wille würde ja auch nur stören

21.11.2022. Russland kann erst wieder zu sich kommen, wenn es sich gründlich von seinen nationalistischen Mythen verabschiedet, schreibt der russische Ökonom Wladislaw L. Inosemzew in der NZZ. Die FAZ verspürt bei der Lektüre Yuval Noah Hararis den "eisigen Hauch des Determinismus", der diesen Autor nicht zufällig zum Chouchou der Silicon-Valley-Libertären mache. Die Jüdische Allgemeine kommt auf die antisemitischen Slansky-Prozesse in der CSSR vor siebzig Jahren zurück. Suchen Sie ein friedliche Alternative zu den sozialen Medien? Die SZ empfiehlt Mastodon.

Ein schwarzes, leeres Loch

19.11.2022. Michel Friedman zieht im Gespräch in der NZZ eine sehr bittere Bilanz der deutschen Vergangenheitsbewältigung - und der bitterste Moment für ihn war das Schweigen Olaf Scholz'. Die Fußball-WM beginnt. Wenn wir sie boykottieren, müssen wir dann nicht auch VW und Bayern München boykottieren, fragt Moritz Rinke in der FAZ. Fast alle im RBB müssen sparen, nur seine aktuellen und ehemaligen Leitungsfiguren nicht, konstatieren FAZ, SZ und der RBB selbst. In der taz fordert Golineh Atai  Solidarität mit den Frauen im Iran.

Unverdiente Zwergenhaftigkeit

18.11.2022. Elon Musk zerstört Twitter - The Verge sieht zu: Eine Hälfte des Personals hat er gefeuert, die andere kündigt selbst. Der Zusammenbruch steht bevor, fürchtet auch die Financial Times. Der Reporter Teseo La Marca berichtet für die taz aus dem Iran - und konstatiert ganz klar: Der Protestbewegung geht es nicht um Reformen, sondern um Revolution. In der FAZ verteidigt Claudius Seidl das Recht der "Letzten Generation" so zu protestieren, wie sie protestiert. Deutschland sollte die Verteidigung Israels nicht mehr als Teil der Staatsräson betrachten, findet Meron Mendel in der SZ.

Man beobachtet Beobachtungen

17.11.2022. Timothy Snyder war in der Ukraine und kommt in seinem Blog mit einem Spendenaufruf zurück: Er sammelt Millionen für den "Shahed Hunter". Auch deutsche Intellektuellen machen sich Sorgen und artikulieren sie in einem Aufruf. Das Entstehen  von autokratischen Ideologien links und rechts hat für Ivan Krastev eine Menge damit zu tun, dass unsere Gesellschaften altern, sagt er in der Zeit. Der Politologe Markus Linden untersucht auf Zeit Online ein neues Bündnis von Mob und Elite. Bei Soziopolis erklärt Soziologe Nils C. Kumkar, warum die "Letzte Generation" gar nicht anders handeln kann.

Ungeheuer langweilen sich nicht

16.11.2022. Claudia Roth hat ihre Rolle als Kulturpolitikerin noch nicht gefunden, konstatiert die FAZ in einer kritischen Bilanz ihres ersten Jahrs als Kulturministerin. Schon ihre Vorgängerin Monika Grütters hat in der Coronakrise die Kulturmiiliarde zumindest teilweise an die Falschen vergeben, hat Dlf Kultur herausgefunden. Ahmad Mansour kann es in der NZZ mit Blick auf Katar nicht fassen, wie naiv Europa mit dem politischen Islam umgeht. In der SZ wirft die Politologin Azadeh Zamirirad der iranischen Diaspora vor, sich mit internen Kämpfen lahm zu legen. Trump kandidiert neu, und die Republikaner trauen sich nicht ins Labyrinth, konstatiert David Frum in Atlantic.

Der Kater meiner Cousine

15.11.2022. Während die taz erzählt, wie russische Propagandisten noch den Rückzug aus Cherson als Erfolg verkaufen, denkt Anne Applebaum in Atlantic darüber nach, wie Russland als Demokratie zu denken wäre: das ginge nur als Nationalstaat, nicht mehr als Imperium.  Innerhalb des russischen Imperiums aber, so Martin Schulze Wessel in Antwort auf Eugen Ruge in der FAZ, dominierte stets der russische Nationalismus. Ebenfalls in der FAZ erinnert Ines Geipel an Werner Schulz. Die SZ macht sich Gedanken über die Kirchen in Deutschland, die nicht mal mehr die Hälfte der Bevölkerung repräsentieren. Und die Welt fragt: Warum liebt die Welt autokratische alte Männer?

Stolz und Befindlichkeit

14.11.2022. Nach dem Rückzug aus Cherson zerfällt die russische Machtelite - und es gibt Gerüchte  über ein Kapitulationsangebot des Westens an Putin, notiert die taz. In der FAZ erkennt der Osteuropaforscher Benno Ennker zwar Bezüge zum Faschismus bei Putin, aber die Kontinuitäten zum Stalinismus seien weitaus wichtiger. In der SZ kritisiert Sonja Zekri den Historiker Timothy Snyder, der die Geschichte der Ukraine besonders im Hinblick auf die ukrainische Kollaboration mit den Nazis schönrede. Die Welt malt sich in krassen Szenen ein Notwehrrecht der Bürger gegen Klebeattacken von Aktivisten aus.

Fieber der Desublimierung

12.11.2022. In der FAZ schaudert es Viktor Jerofejew, wenn sich russische Soldaten aus Angst, von ihren Generälen verheizt zu werden, hilfesuchend an ihre Obrigkeit wenden. In der NZZ hat Richard Herzinger das ganze Außmaß autokratischer Zerstörungswut vor Augen. In der FAS durchschneidet die Juristin Sophie Schönberger den historischen Nebel, den die Hohenzollern zu erzeugen versuchen. Die NYTimes und die NYRB rätseln, was Twitter aus Elon Musk gemacht hat.

Vision der maximalen Katastrophe

11.11.2022. Kürzlich erst hat Wladimir Putin Cherson annektiert, jetzt geht er schon wieder, berichtet unter anderem die taz. Einige Artikel in den Zeitungen widmen sich heute der neuen russischen Diaspora: Über hunderttausend Russen sind allein nach Georgien geflohen. Die Financial Times berichtet: Rupert Murdoch hat  mit Trump gebrochen. Die New York Post bringt ein hämisches Titelbild. Elon Musk richtet unterdessen laut The Verge Twitter systematisch zugrunde. Jüdische Allgemeine und Welt fragen: Wie sehr ist Bonaventure Ndikung, der kommende Chef des Hauses der Kulturen der Welt, für  BDS?

Gewisses Maß an Grenzüberschreitung

10.11.2022. Uff, kein roter Tsunami. Die New York Times-Kolumnisten atmen auf, aber geben nicht Entwarnung. Der Spiegel porträtiert den Roland Freisler des Iran, den Richter Abolghassem Salavati, der jetzt erste Prozesse gegen Demonstranten führt - das Staatsfernsehen überträgt. taz und FAZ verstehen nicht, warum das Goethe-Institut Tel Aviv eine Debatte über erinnerungspolitische Koinzidenzen von Nakba und Holocaust nun doch lieber nicht am 9. November führen ließ.  Pia Lamberty und Katharina Nocun erklären in der SZ, wie Esoterik und Rechtsextremismus zusammenhängen.

Das Konzept des Quiet Quitting

09.11.2022. Die Autorin Sahar Delijani wurde 1983 im Ewin-Gefängnis in Teheran als Tochter von inhaftierten Khomeini-Kritikern geboren. Sie ist sich auf Zeit online sicher, dass es nach den Unruhen dieses Jahrs kein Zurück gibt. Des 9. November 1938, so scheint es, wird in diesem Jahr nicht ganz so routiniert gedacht wie in manchen Vorjahren: Josef Schuster erklärt in der SZ, warum: Die Schlussstrichforderungen kommen inzwischen von rechts, links und aus der bürgerlichen Mitte. So sieht's auch Michael Wolffsohn in der Jüdischen Allgemeinen. In Persuasion erklärt der Publizist Francisco Toro, warum Jair Bolsonaro einen so reibungslosen Machtwechsel in Brasilia möglich machte.

Galanterie war oft doppeldeutig

08.11.2022. Das Versöhnungsabkommen mit Namibia ist so umstritten, dass es möglicherweise neu verhandelt werden muss, berichtet die taz. In Atlantic beobachtet Anne Applebaum, dass Putin mit seiner Taktik der Furcht Erfolg hat. Der Aufstand der Frauen im Iran hat unwiderruflich etwas verändert, hofft der Exilautor Homayoun Alizadeh in der NZZ.

Gebeine en gros

07.11.2022. Wer jetzt Verständnis für Russland einfordert, verkennt, wer das Land in den Abgrund gerissen hat, antwortet Gerd Koenen in der FAZ auf Eugen Ruge. Während Elon Musk Twitter schleift, wird auch Mark Zuckerberg Tausende in seinem Meta-Konzern feuern, meldet das Wall Street Journal. Der SZ ist unwohl mit der Rhetorik der "Letzten Generation". Im Iran geht der Kampf gegen Kopfbedeckungen aller Art weiter, zeigen uns Twitter-Videos.

Österreich-Beinschab-Tool

05.11.2022. Die Financial Times erzählt, wie die ukrainische Bevölkerung im Gebiet von Cherson von den Besatzern drangsalisiert wird. Die taz erinnert daran, wie Stalin der "belarussischen Wiedergeburt" ein Ende bereitete. Tom Buhrow hielt seine Rede über die Öffentlich-Rechtlichen als Privatmann, aber als einer mit Untergebenen, hat die SZ herausgefunden. Im Tagesspiegel schildert Natan Sznaider das Dilemma der "ethnischen Demokratie" Israel. Die taz schildert Österreichs Nöte mit der allerjüngsten Vergangenheit. Die SZ will das mit Kopftuch differenziert sehen.

Gute Nachrichten, die nicht nur gut sind

04.11.2022. Olaf Scholz reist heute nach China. Das Handelsblatt weist nach, dass die KP Chinas in deutschen Unternehmen mit regiert. Claudia Roth sucht laut SZ nach einem Cache-Sexe für den Bibelspruch am Humboldt-Forum. War Tom Buhrows Rede über die Öffentlich-Rechtlichen eine Bombe? Hier herrscht Uneinigkeit. Und die Journalisten streiten auch über eine andere Frage: soll man Twitter verlassen? Oder soll man es nicht so ernst nehmen?

Ich sollte an meine Eltern denken

03.11.2022. Friedensnobelpreisträgerin Olexandra Matwijtschuk schlägt in der FAZ Kriegsverbrechertribunale jetzt vor - und zwar vor Ort. 40 Prozent der Deutschen glauben zumindest "teil teils", dass die Nato Russland so lange provoziert hat, dass Russland in den Krieg ziehen musste", hat eine Umfrage herausgefunden, in den Neuen Ländern sind es 59 Prozent. In der FAZ möchte Eugen Ruge die Russen nicht dämonisieren, sondern mit ihnen verhandeln. In der Zeit fordert Navid Kermani, die Atomverhandlungen mit dem Iran zu stoppen. In der SZ möchte Heinz Bude sein neoliberales Ich loswerden.

Das Verhalten so mancher Sekte

02.11.2022. Der schwule Autor Ilja Danischewski  erzählt in der FAZ, dass es nach einem Gesetz für Homosexeuelle praktisch unmöglich geworden ist, noch in Russland zu leben. Russland bleibt gefährlich, auch wenn es den Krieg in der Ukraine verliert, warnen die PolitologInnen Andrea Kendall-Taylor und Michael Kofman in Foreign Affairs. In FAZ kann Herausgeber Jürgen Kaube nichts mit den Verteidigern der festklebenden Klima-Aktivisten anfangen, auch nicht mit Patrick Bahners. Und auf Gandhi können sich die Aktivisten auch nicht berufen, ergänzt Arno Widmann in der FR.

Bei jeder Gelegenheit relativieren

01.11.2022. Netzpolitik und The Intercept schildern das Ausmaß der Handyüberwachung im Iran, die DemonstrantInnen in Lebensgefahr bringen kann. Der Kampf gegen das Kopftuch im Iran und der Kampf für das Kopftuch in westlichen Gesellschaften sind eigentlich dasselbe, behaupten der Soziologe Eric Fassin und die Historikerin Joan W. Scott im NouvelObs. Die NZZ erklärt, warum sich linke Intellektuelle in Frankreich um den Antisemitismusvorwurf keine Sorgen machen. Die FAZ beteuert: In den Neuen Ländern demonstriert nur eine kleine Minderheit.