9punkt - Die Debattenrundschau

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

September 2022

Wirklich synergetisch

30.09.2022. Die russische Mobilisierung ist bereits so etwas wie das Eingeständnis einer Niederlage, sagt Garri Kasparow im Tagesspiegel. Zum Tod von Mahsa Amini erklärt Annalena Baerbock im Bundestag, dass Islamismus nichts mit Religion zu tun habe. hpd.de erzählt unterdessen, wie das iranische "Moralministerium" seine Vorstellungen durchsetzen will: Mit Digitalisierung und Peitschenhieben. Der BND der frühen Jahren hat systematisch SS-Männer in seine Reihen aufgenommen, berichtet die SZ. Gruner und Jahr wird nun endgültig abgeschafft, melden die Zeitungen

Zehn Minuten Zeit zu packen

29.09.2022. Ausgesprochen samtpfötig findet Gilda Sahebi in der taz die "feministische Außenpolitik" Annalena Baerbocks gegenüber den iranischen Mullahs. Die Schauspielerin Sibel Kekilli will sich in der Zeit nicht mehr von westlichen Feministinnen über das Kopftuch belehren lassen. Irina Rastorgujewa erzählt in der FAZ, wie junge Männer in Sachalin eingezogen werden. Und die Berliner Zeitungen verabschieden sich schon mal von der Regierenden Bürgermeisterin.

Einige Elemente dieser Angstpolitik

28.09.2022. Bahman Nirumand erzählt in der NZZ , wie die iranische Revolution die Frauen verriet. Ayaan Hirsi Ali kritisiert in Unherd die Iran-Politik der Biden-Regierung. Wie faschistisch ist der Postfaschismus, fragt Durs Grünbein in der SZ. Sehr kritisch setzt sich die Medizinethikerin Bettina Schöne-Seifert in der FAZ mit einer Stellungnahme des Deutschen Ethikrats zur Neudefinition der Suizidhilfe auseinander.

Dass es an der Zeit ist, keine Angst mehr zu haben

27.09.2022. Putins Magie steckt in seiner Fähigkeit, Macht und Stärke auszustrahlen - der Westen darf nicht drauf reinfallen, mahnt der russische Autor Dmitry Glukhovsky in der Berliner Zeitung. Ebenfalls in der Berliner Zeitung prangert Michael Wolffsohn nach der Documenta den immer gesellschaftsfähigeren Antisemitismus links der Mitte an. Die taz hat einen Trost in den italienischen Widrigkeiten: Die italienische Rechtskoalition hat nicht wirklich die Mehrheit. Bei newlinesmag.com schreibt Hassan Hassan den Nachruf auf den spirituellen Führer der Muslimbrüder Yusuf al-Qaradawi, der als gemäßigt galt und Selbstmordattentate pries.

Ein bestimmter Kipppunkt

26.09.2022. Italien hat gewählt, und zwar rechts. Die Kommentatoren hoffen, dass der Geldsegen aus Brüssel die wahrscheinliche neue Premierministerin Giorgia Meloni schon bändigen wird. Der Faschismus war in Italien nie weg, mahnt Zeit online. Zaghaft fragen die Kommentatoren, ob die iranischen Proteste nach dem Tod Mahsa Aminis das Zeug haben, die Ajatollahs zu stürzen. In der FAZ erzählt die Historikerin Ricarda Vulpius  die lange Geschichte der russischen Ukraine-Obsession.

Eine Reihe furchtbarer Fehlentscheidungen

24.09.2022. Nur zwei Themen heute. Mahsa Amini und der Krieg gegen die Ukraine, nach der Mobilisierung in Russland. In der taz attackiert Masih Alinejad westliche Politikerinnen, die sich im Iran mit Kopftuch zeigten, auch Claudia Roth. In der SZ beschreibt Shida Bazyar das "systemlose System" de Zwangs, das den Frauen im Iran auferlegt ist. In Foreign Affairs resümiert Lawrence Freedman Wladimir Putins komplettes Versagen. Die Mobilisierung wird am Kriegsgeschehen wenig ändern, meint Stefan Kornelius im Leitartikel der SZ.

Ellisons Stolz auf den Jazz

23.09.2022. Mobilisierung heißt, dass der Krieg in Russland angekommen ist: Bis zu 25 Millionen Russen sind Teil der Reserve der Armee, berichtet der Spiegel. In der FAZ erklärt die Russland-Expertin Sarah Pagung, warum sie Putins jüngste Atomdrohung für einen Bluff hält. Perlentaucherin Marie-Luise Knott spricht  in der Welt über Hannah Arendt und Ralph Ellison. Die taz fragt, was die erste weibliche Premierministerin Italiens für die Frauen bedeuten würde.

Aus der Angststarre lösen

22.09.2022. Die Zeit bringt neue Details über den gewaltsamen Tod von Mahsa Amini, die sterben musste, weil ihr Kopftuch locker saß. Auch in Russland wurde gestern Abend demonstriert. Die taz und Timothy Snyder auf Twitter lesen die Nachricht von der Teilmobilisierung als Putins Eingeständnis einer Schwäche: Auf dem Terrain ist die Ukraine eindeutig überlegen, analysiert die FAZ. In der Zeit beschweren sich Harald Welzer und Richard David Precht, dass der Mainstream nicht ihrer Meinung folgt.

Die eigene Kernschmelze

21.09.2022. Wladimir Putin hat eine Teilmobilisierung angekündigt. Zugleich bereitet er "Referenden" in den noch von ihm besetzten Gebieten der Ukraine vor, deren Ziel es laut FAZ ist, diese Gebiete zu einem Teil Russlands zu erklären. Correctiv deckt einen Teil der von Gazprom beherrschten deutschen Netzwerke auf. Constanze Kurz begrüßt bei Netzpolitik die Entscheidung des EuGH gegen die deutsche Vorratsdatenspeicherung. In der SZ prangert Hilmar Klute angesichts ernster Themen das "Espressogeschwätz" in Kultureinrichtungen und Medien an. Und das Newlines Mag fragt: Warum Leicester?

Begraben wird jeder

20.09.2022. Die Financial Times analysiert die erkaltenden Beziehungen zwischen Wladimir Putin und Xi Jinping, für den Putins Krieg den Nachteil hat, dass er nicht siegreich ist. Auch die Popdiva Alla Pugatschowa, ein Idol von Millionen Russen, hat den Krieg scharf kritisiert, ein Symbol, meint unter anderem die FAZ. Zeit online kann sich der Faszination des Queen-Begräbnisses nicht entziehen. Christian Lindner fragt laut  Neuer Osnabrücker Zeitung trotzdem, ob ARD, ZDF und Phoenix das Begräbnis wirklich parallel übertragen mussten.

In Zeiten der Schwäche

19.09.2022. Frauen protestieren im Iran gegen die Sittenpolizei, die die 22-jährige Mahsa Amini wegen eines zu lockeren Kopftuchs totgeschlagen hat. Die taz beleuchtet auch die Lage der zum Tod verurteilten LGBT-Aktivistinnen Sareh Sedighi-Hamadani und Elham Choobdar. In der Fincancial Times fühlt sich Ivan Krastev in Putins Ängste ein. Peter Pomerantsev fordert im Guardian die westlichen Zivilgesellschaften auf, Putins Netzwerke offenzulegen. Im Spectator blickt der Republikaner Nick Cohen auf der Begräbnis einer Queen.

Wer streikte, war faul

17.09.2022. In der NZZ fragt Mario Vargas Llosa, ob Sartre schuld ist an der Härte der lateinamerikanischen Linken. Bora Cosic beklagt ebenfalls in der NZZ, wie nachlässig die Balkanländer mit ihrem kulturellen Erbe umgehen. In der FAS ist Vitali Klitschko überzeugt, dass es in Deutschland auch kluge Intellektuelle gibt. Im Guardian rät Swetlana Tichanowskaja, den Putins "belarussischen Balkon" zu sprengen. Und die taz wischt mit der Generation Z Tinder nach links.

Sichtbar Respekt

16.09.2022. Das Humboldt-Forum ist nun komplett eröffnet, wenn auch niemals fertig. Die Zeitungen sind halb froh, halb unfroh. Putin Und Xi Jinping haben sich auf Xis erster Auslandsreise seit Corona zum ersten Mal getroffen - aber nicht zum Dinner, meldet Reuters. Die FAZ ist erleichtert, dass Politik in Deutschland nicht läuft wie in Großbritannien: Sonst würden Politikerreden von Theaterkritikern zerfetzt. Rubin fragt, warum der Untergang des Textilindustrie in NRW längst nicht so viel Phantomschmerzen verursacht wie der des Bergbaus.

Eine Mischung aus Knicks und Verbeugung

15.09.2022. Die taz berichtet aus den befreiten - und erleichterten! - Gebieten in der Ukraine. Das Verfassungsreferendum in Chile ist hier kaum wahrgenommen worden - dabei hat es Beachtung verdient, findet Welt-Autor Thomas Schmid. Jean-Luc Godard hat den assistierten Suizid gewählt um zu sterben - darüber lohnt es sich nachzudenken, schreibt Gereon Asmuth in der taz. Im Iran sind zwei Queer-Aktivistinnen wegen "Korruption auf Erden durch die Beförderung von Homosexualität"  zum Tode verurteilt worden - Zeit für Proteste, findet hpd.de.

Millionen von Dollar in bar

14.09.2022. Nun äußert sich in Russland zwar Protest gegen den desaströsen Krieg, aber er kommt von extremen Putin-Anhängern, die an eine "Dolchstoßlegende" glauben, fürchtet Alexej Kowalew in Foreign Policy. Jetzt wo die Queen tot ist, wäre es Zeit für Reparationsforderungen der ehemals Kolonisierten, findet Nalini Mohabir im Guardian. Die Washington Post zitiert amerikanische Geheimdienstler über russische Einflussnahme im Ausland. In der Berliner Zeitung spricht Feministin Alice Schwarzer über ihre positive Lebensbilanz und über andere Feministinnen.

Unverständliche Maschine

13.09.2022. In Atlantic malt sich Anne Applebaum schon ein Russland ohne Putin aus, aber einfach wird das nicht. Ebenfalls in Atlantic fragt Neal Ascherson, wie demokratisch Großbritannien überhaupt ist. Stau bei Kirchenaustritten: Warum verweigern die Länder einen Online-Austritt, fragt hpd.de. Facebook ist viel zu kompliziert, zum selber zu wissen, wieviele Daten es von uns hat, konstatiert The Intercept.

Projektionsfläche Elizabeth

12.09.2022. Die Kommentatoren freuen sich über die ukrainischen Terraingewinne und benutzen ein geflügeltes Wort Wolodimir Selenskis: "Die russische Armee hat uns ihre beste Seite gezeigt - ihre Rückseite." Nach der monarchistischen Verzückung der ersten Tage, gibt es nun auch ein paar intelligente Reflexionen über die Queen und ihr Wirken, unter anderem von Dominic Johnson in der taz, Nick Cohen in der Welt und Hari Kunzru in der New York Times. Die FAS kommt auf den Einfluss der Moon-Sekte in der japanischen Politik zurück. Die Autorin Waslat Hasrat-Nazim macht der westlichen Afghanistan-Politik im Standard bittere Vorwürfe.

Ein de facto faschistischer Staat

10.09.2022. Die EU-Sanktionen wirken, schreibt die Ökonomin Katrin Kamin in der SZ, aber leider auch in Deutschland, wo man jetzt den Preis für den jahrzehntelangen Komfort der Abhängigkeit zahle. Der russische Autor Arkadi Babtschenko entwirft in der NZZ eine sehr düstere Perpektive auf den russischen Krieg gegen die Ukraine. In der taz fordert Jan-Werner Müller Medien auf, vom "Bothsidism" in Debatten Abschied zu nehmen. FAZ und taz lesen den neuen Habermas. Die Washington Post prüft die politischen Ansichten des neuen britischen Königs.

Die globale Solidarität neu erfinden

09.09.2022. Elisabeth die II. ist tot. Für die Briten ein grundlegender Einschnitt: 87 Prozent haben in ihrem Leben nie ein anderes Staatsoberhaupt gehabt, erinnert die Berliner ZeitungKolonialismus sollte nicht mehr nationalstaatlich, sondern global, zudem temporal gedacht werden, fordert der belgische Historiker David van Reybrouck bei der Eröffnung des 22. Internationale Literaturfestivals in Berlin. Die FAZ fragt: Warum verschlankt sich der Bundestag nicht erst selbst, bevor er die auswärtige Kulturpolitik verschlankt? Die SZ fordert weniger Harmonie in den Strukturen der Öffentlich-Rechtlichen.

Ihr habt uns nicht wirklich vermisst

08.09.2022. Frieden ist nicht das allergrößte Ziel erklärt die estnische Premierministerin Kaja Kallas in der Zeit den Westeuropäern, die es nach dem Zweiten Weltkrieg so schön gemütlich hatten im Frieden. Um heutige Identitätsdebatten zu entkrampfen, empfiehlt die FR mit dem Soziologen Jean-Claude Kaufmann, mehr auf die eigene fluide Identität und ihre Launen zu setzen. Und Business Insider fragt: Wie viele Familienmitglieder von NDR-Direktorin Sabine Rossbach haben eigentlich für den NDR gearbeitet?

Gerötete Nasen

07.09.2022. Der russische Angriff auf die Ukraine ist auch ein Krieg um die Geschichtsschreibung, erkennt der ukrainische Historiker Jaroslaw Hrytsak auf ZeitOnline. In der Berliner Zeitung fordern zwei ehemalige Botschafter Israels den Ökumenischen Rat auf, Israels Siedlungspolitik als Apartheid zu verurteilen. Die taz erwartet einen heißen Herbst, aber keine Querfront auf deutschen Montagsdemos. Außerdem lernt sie, warum Giorgia Melonis Fratelli d'Italia in Italien so beliebt sind. Die FAZ blickt nach Frankreich, das auf einen neuen König wartet. Netzpolitik fragt: Wann wird die anlasslose Fluggastüberwachung den Forderungen des EuGH angepasst?

Wir sind doch die Guten

06.09.2022. Russland hat den "Genozid" an den Ukrainern schon lange vorbereitet, sagt der ukrainische Philosoph Wolodymyr Jermolenko in der Berliner Zeitung. Die Russen haben sich dem Revanchismus verschrieben, die Ukrainer der Demokratie, schreibt die ukrainische Journalistin Nataliya Gumenyuk auf ZeitOnline. In der NZZ erklärt Josef Joffe, weshalb "Demokratie-Export" nie funktioniert, wenn es nicht um die eigene Haut geht. Die Chilenen wollen kein "linkes Utopia", lernt Spon. Die FAZ staunt, wie sehr sich die Debatten um Antizionismus und Antisemitismus in den Siebzigern und heute ähneln.

Die spezifische Würde des Menschen

05.09.2022. Man braucht heute morgen einen Muntermacher, egal in welcher Form, um dem Pessimismus in der Debatte standzuhalten. Die FAZ fürchtet, dass die Gedenkveranstaltung für die Opfer des Attentats auf die israelische Olympiamannschaft 1972 in München nur peinlich werden kann. In der NZZ kritisiert der Politologe Stefan Luft das Antirassismusprogramm der Bundesregierung, weil es nicht Integration, sondern Identitätswächter fördere. Die taz schlägt vor, mit den Taliban weniger über Frauenrechte zu reden, da dies mit Gewalt assoziiert werde. Im Interview mit Zeit online bezweifelt der Ökonom Joachim Ragnitz, dass die Investitionen von Tesla, Intel und Catel in Ostdeutschland für blühende Landschaften 2.0 sorgen werden.

Flüchten oder standhalten

03.09.2022. Siv Bublitz verlässt den Fischer Verlag, ihr Nachfolger wird Oliver Vogel. SZ und FAZ erkennen darin das Eingeständnis eines Irrwegs. In der taz erklärt der Literaturwissenschaftler Uwe Schütte die Wokeness nicht als Folge linker Meinungsdiktatur, sondern neoliberaler Universitätspolitik. In der NZZ schreibt Michail Schischkin über Gorbatschow, der nicht groß in seinen Erfolgen war, sondern in seinem Scheitern. In der SZ meint Friedrich Küppersbuch klar: Die Konsequenz aus der RRB-Krise kann nicht mehr Macht für Gremien sein, sondern nur weniger Rundfunkrat.

Der Raum der großen Zeit

02.09.2022. Michelle Bachelet, UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, hat wenige Minuten vor Ende ihrer Amtszeit einen Bericht über den chinesischen Umgang mit den Uiguren vorgelegt. Immerhin: Menschenrechtsverletzungen werden deutlich benannt, freuen sich die Zeitungen. Auch Unternehmen wie Volkswagen können dem Thema nun nicht mehr ausweichen, hofft der Tagesspiegel. In der NZZ veröffentlicht die russische Schriftstellerin Elena Chizhova eine Hommage auf Michail Gorbatschow, während Richard Herzinger in seinem Blog den deutschen "Gorbi-Kult" kritisch beleuchtet.

Wo die Grenzen zwischen Kulturen verlaufen

01.09.2022. Das Menschliche an der Spitze der Machtpyramide siegte, zumindest vorläufig, schreibt Wladimir Sorokin in der SZ zum Tod Michail Gorbatschows. Thomas Schmid würdigt in der Welt Christian Ströbele und kommt auf seine Rolle als RAF-Anwalt zurück. Neuer Ärger beim NDR Kiel: Politik und Sendergewaltige mögen sich in SWH noch lieber als bisher bekannt, hat der Stern herausgefunden. Ärger auch bei der Restitution der Benin-Bronzen: Die Nachfahren von Sklaven der Sklavenhändler aus Benin wollen etwas ab - und treffen einen Punkt, findet Andreas Kilb in der FAZ.